Читать книгу Hungrig auf Berlin - Denis Scheck - Страница 13
FRESSEN UND MORAL
ОглавлениеEs herrscht ein Wechselstrom zwischen der Vergangenheit der 1920er-Jahre und unseren 20er-Jahren im 21. Jahrhundert. Eine Spannung, die uns während der Arbeit an diesem Buch und der Auseinandersetzung mit Berlins gastronomischer Gegenwart auf der Suche nach Orientierung immer wieder in diese Zeit zurückkehren ließ. Das Musical »Cabaret« von 1966 löste eine erste weltweite Nostalgiewelle nach dem Berlin der 20er-Jahre aus. Es basiert auf zwei Romanen von Christopher Isherwood, der darin die schillernde sexuelle Freizügigkeit der Stadt in den Goldenen Zwanzigern einfängt, die für die allermeisten Armen ja in Wahrheit eher die Bleiernen Zwanziger waren. Sicher lassen sich zu diesen Zwanzigern Parallelen zu heute ziehen. Aber halten sie auch Lehren für die Gegenwart bereit? Vor allem aber: Wo endet, in einer Umkehrung der berühmten Brecht’schen Formulierung, das Fressen, und wo beginnt die Moral? Eine überraschende Antwort darauf gibt Klaus Mann in seiner 1942 auf Englisch veröffentlichten Autobiografie »Der Wendepunkt«. Wir haben diesen Klaus Mann offen gestanden literarisch lange zu gering geachtet und sind erst durch die Recherchen zu diesem Buch einem faszinierend hellsichtigen und beobachtungsscharfen Zeitzeugen begegnet: »Berlin ist das Hirn, in dem die Emotionen und Intuitionen, die Sehnsüchte und Ressentiments des deutschen Volkes mit wissenschaftlicher Exaktheit und journalistischem Schmiß formuliert werden. Die Metropole kreiert nicht: Sie repräsentiert. Wenn das Berlin der Kaiserzeit die aggressive Dynamik des jungen deutschen Nationalismus säbelrasselnd zur Schau gestellt hatte, so spiegelte das Berlin der ersten Nachkriegsjahre mit demselben Eklat die apokalyptische Gemütsverfassung der besiegten Nation.
›Schaut mich nur an!‹ schmetterte die deutsche Kapitale, prahlerisch noch in der Verzweiflung. ›Ich bin Babel, die Sünderin, das Ungeheuer unter den Städten. Sodom und Gomorra zusammen waren nicht halb so verderbt, nicht halb so elend wie ich! Nur hereinspaziert, meine Herrschaften, bei mir geht es hoch her, oder vielmehr, es geht alles drunter und drüber. Das Berliner Nachtleben, Junge, Junge, sowas hat die Welt noch nicht gesehen! Früher mal hatten wir eine prima Armee; jetzt haben wir prima Perversitäten! Laster noch und noch! Kolossale Auswahl! Es tut sich was, meine Herrschaften! Das muß man gesehen haben!‹ –
Ich war noch nicht ganz siebzehn Jahre alt, als ich, 1923, zum erstenmal nach Berlin kam, zunächst nur auf eine kurze Visite. (...) Die russischen Emigranten, von denen Berlin um diese Zeit wimmelte, übten eine besondere Anziehungskraft auf mich aus. (…) Von ganz ähnlicher Art waren meine Gefühle angesichts der Prostituierten, die allabendlich mit preußischer Disziplin die Tauentzienstraße entlangmarschieren. Ich konnte keine der bunten Damen betrachten, ohne innerlich aufzuseufzen: »Armes Ding! Was für ein Leben sie führt!« Aber solche Reaktion war künstlich und konventionell; der Seufzer kam nicht von Herzen. Ehrlicher war der kleine Junge, der – von den Erwachsenen gefragt, ob er es schön finde, daß die Affa einen so großen Busen habe – mit Ernst und Präzision erwiderte: ›Schön find ich’s grad nicht, aber ich seh’s gern!‹ Mit den Berliner Huren ging es mir ebenso. Schön fand ich sie nicht gerade; aber es machte mir unendliches Vergnügen, ihrer grellen Prozession zuzuschauen.
(...) Die Romantik der Unterwelt war unwiderstehlich. Berlin – oder vielmehr, der Aspekt von Berlin, den ich sah und den meine Naivität für den einzig wesentlichen, einzig charakteristischen hielt – enthusiasmierte mich durch seine schamlose Verruchtheit. Berlin war meine Stadt! Ich wollte bleiben.«