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DAS STEALTH-RESTAURANT


893 Ryotei


Larger than life: Diese unübersetzbare Formulierung fällt uns als Erstes ein, wenn es The Duc Ngo zu beschreiben gilt. Irgendetwas an diesem Menschen, den alle nur Duc oder »den Duc« nennen, überragt das Normalmaß. Wenig überraschend, wenn man es schafft, als 1974 in Hanoi geborenes Boatpeople-Kind aus Vietnam 1979 mit seiner Familie nach Berlin zu kommen und sich dort neu zu erfinden. In seiner Jugend will Duc erst Zehnkämpfer werden, bis er merkt, dass ihn die anderen Sportler alle um Haupteslänge überragen. Also sattelt er um auf Popstar und bringt es immerhin mit einer Boyband ins Finale einer Castingshow. So ist denn brennender Ehrgeiz, gepaart mit raubkatzenhafter Coolness, ein Hauptcharakterzug von The Duc Ngo geworden. Schließlich fängt er ein Studium der Japanologie an, kellnert nebenbei und begeistert sich für die Finesse und Schnitttechniken der japanischen Küche. Mit Ende zwanzig eröffnet Duc 2003 mit dem Shiro i Shiro («Weißes Schloss«) das stimmigste japanische Restaurant in Berlin, wo man Perlhuhn mit Morcheln und Hahnenkämmen auftischt. Doch auch wenn er in seinem kokain-weißen Gastraum in Berlin-Mitte Mick Jagger und den einen oder anderen Hollywoodstar wie Sharon Stone bewirten darf, fällt er mit seinem kulinarischen Konzept ökonomisch auf die Nase. 2006 muss er das Shiro i Shiro wieder schließen. Und will diese Niederlage auf keinen Fall auf sich sitzen lassen.

The Duc Ngo hat keine Kochausbildung absolviert und ist dennoch mit inzwischen 15 Restaurants der größte Innovator der Berliner Gastroszene seit Langem. Allein in der Kantstraße betreibt er sechs Lokale. Darunter das Madame Ngo mit vietnamesisch-französischer Bistroküche, in der die vietnamesische Pho-Suppe im Mittelpunkt steht, das Funky Fish, in dem sich alles um auf der Stahlplatte gegrilltes Seafood dreht, das man sich an der großen Fischtheke aussucht, das Kuchi mit seinen Sushi- und California-Rolls-Spezialitäten sowie das auf koreanisches Streetfood wie Buns oder Bunsik spezialisierte Ngo Kim Pak. Kein Wunder, dass der Duc in Berlin längst stadtbekannt ist. Auch im übrigen Deutschland hat sich The Duc Ngo dank kurzweiliger Auftritte in Tim Mälzers Fernsehsendung »Kitchen Impossible« und durch seine Werbevideos für Aldi Süd als mediengewandter Küchenkreativer etabliert. Man muss das Engagement als Aldi-Werbegesicht nicht mögen, doch wir sind überzeugt: The Duc Ngo wird hierzulande noch viel berühmter werden. Dieser Mann ist als Gastro-Entrepreneur ein Himmelsstürmer, und seine Lebensgeschichte ist einfach eine zu schöne Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichte, um sich nicht als Märchen vom Einwandererparadies Bundesrepublik immer wieder neu zu erzählen.

Ducs kulinarisches Credo: »Ich verstehe die Gäste.« Tatsächlich bieten all seine Restaurants einen hohen Unterhaltungswert, ein – um das Modewort zu gebrauchen – einzigartiges »Narrativ«, das zum Distinktionsgewinn taugt und mit dem man im Freundeskreis ein bisschen angeben kann. Andere Lokale mögen gutes Essen bieten. Ducs Restaurants bieten ein Erlebnis. Insbesondere gilt dies für das 893 Ryotei, im Moment das kulinarische Flaggschiff in Ducs kleinem Gastroimperium. Das 893 Ryotei ist eine Art Stealth-Restaurant. Ähnlich wie das Cookies Cream (>) im dritten Hinterhof der Komischen Oper lebt es davon, dass seine weltläufigen Gäste Eingeweihte sind und sich von dem für ein Restaurant eher unwahrscheinlichen Außendekor nicht abschrecken lassen. Verborgen in einer über und über mit Graffiti bedeckten ehemaligen »Schlecker«-Drogeriemarktfiliale an der Kantstraße, sieht es von außen etwa so einladend aus wie eine ausgebrannte Tankstelle. Der Wille zur Coolness leuchtet dem 893 Ryotei aus jedem Knopfloch. Aber es bleibt eben nicht beim bloßen Wollen und der Attitüde: Das 893 Ryotei ist wirklich cool. Das heißt leider auch, dass man die Innenbeleuchtung so weit herabdimmt, wie man dies in den angesagtesten Szeneläden New Yorks oder in Los Angeles zu tun pflegt. Wer wirklich sehen will, was genau da auf dem Teller liegt, wird mitunter die Handytaschenlampe aktivieren müssen. Und das lohnt in der lockeren, von viel dunklem Holz geprägten Baratmosphäre des 893 Ryotei auf jeden Fall, denn die Kombination von japanischem und peruanischem Küchenstil mit deutlicher Betonung der japanischen Seite führt zu beachtlichen Ergebnissen. Wie etwa beim kurz geflämmten Lachsfilet mit Shichimi-Ponzu-Sauce oder den Shasimi-Taquitos. Das 893 Ryotei ist viel zu sehr elitäre soziale Bühne, um als Alltagsrestaurant zu taugen; dennoch dient es wie die Paris Bar (>) in den 80ern einigen Hipstern von heute als zweites Wohnzimmer.

Um mit dem Tollsten anzufangen: Das Sashimi Moriawase ist definitiv das beste der Stadt. Herausragend auch das Angebot der Sushibar, wo etwa samtiger Toro-Thunfischbauch und marinierte Makrele verlocken. Nicht entgehen lassen sollte man sich, in season, eine besondere Köstlichkeit: die Seeigel. Aus dem im Vergleich unspektakulären Poke Bowl mit Lachs machen wir uns eher weniger, doch das peruanische Anticucho Cerdo (Schweinefilet mit roter Salsa) ist ebenso bemerkenswert wie das gloriose Ceviche 893 mit Corvina-Wolfsbarsch, Aji-Amarillo-Chili, Queller, Koriander, roter Zwiebel, Minze und Limone. Die Kombination von Aal mit Gänseleber hat in den 90ern bereits Dieter Müller in seinem legendären Amuse-bouche-Menü gewagt, aber mit Shiso und Sake als »Unagi royal« ist sie eine Variante aus eigenem Recht. Eine besondere Schwäche haben wir für die Mentaiko Spaghettini in einer Sahne-Butter-Sauce mit Kabeljaukaviar, Shiso-Kresse und Nori-Algen entwickelt, was daran liegen mag, dass wir einmal während der Anfangstage in Ducs Baden-Badener Hotelrestaurant Moriki im Hotel Roomers eine Spaghetti Carbonara mit Ramen-Nudeln, Schwarzwälder Schinken und Onzen-Ei aßen, die uns wirklich verzaubert hat. Die Sake-Karte eröffnet die schöne Möglichkeit, die Auswirkungen des Poliergrads der Reiskörner von Junmai, Junmai-Ginjo und Junmai-Daiginjo auf den Geschmack endlich mal an konkreten Beispielen zu studieren, unter den Weißweinen begeistern insbesondere die weißen Burgunder von Joseph Drouhin.

Für Ende 2021 hatte The Duc Ngo angekündigt, erneut nach den Sternen greifen zu wollen: Im nur eine Handvoll Tische umfassenden Gastraum von Le Duc sollte, ebenfalls auf der Kantstraße, dezidiert fine dining zelebriert werden. Dieser Plan wurde wegen Corona vorerst auf Eis gelegt. Wir bleiben dennoch gespannt und erwarten vom King dieses Kiezes gewohnt Großes – larger than life eben.


893 Ryotei

Kantstraße 135/136 | 10625 Berlin

Öffnungszeiten: Di–Sa 18–23 Uhr

Reservierung: 030/91 70 31 21

www.893ryotei.de

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