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Fleischlos glücklich



DER DATIV KOMMT NIEMALS IN DEN DÖNER


Mustafas Gemüse Kebap


Warten verbinden die meisten Menschen damit, knappe Lebenszeit zu verlieren. Nicht zuletzt durch die Coronapandemie üben wir uns wieder verstärkt im Schlangestehen, vor Läden, vor Testzentren. Manche erinnert das an das Anstehen in der Mangelwirtschaft, Winston Churchill bezeichnete das Schlangestehen in krisenhaften Regimen als »Queuetopia«. Kaum jemand jedenfalls wartet gerne lange.

Seit wir aber David Foster Wallace’ berühmte Commencement Speech »Das hier ist Wasser« gelesen haben, die er 2005 vor Collegeabsolventinnen und -absolventen hielt, geht es uns beim Schlangestehen zumindest etwas besser. Der US-amerikanische Publizist und Autor, der unter Depressionen litt und sich traurigerweise 2008 das Leben genommen hat, beschreibt darin nervige Alltagssituationen, u. a. beim Autofahren und im Supermarkt, und er spricht davon, dass wir jederzeit die »Standardeinstellung« überwinden können – dass wir also entscheiden können, wie wir andere Menschen wahrnehmen und Situationen erleben.

Die Standardeinstellung ist zum Beispiel der Missmut darüber, dass man warten muss. Und die Gestaltungsfreiheit, die wir haben, liegt darin, die Situation anders zu bewerten. Man denke nur an die Momente, in denen man geradezu gerne wartet, in denen das Warten schon Teil der Veranstaltung ist. Bei der Berlinale zum Beispiel, da macht das Anstehen für Tickets zum Teil mehr Spaß als das Ansehen so mancher Filme, man muss nur ein paar Stullen und Freunde mitbringen oder mit den Leuten in der Schlange ins Gespräch kommen und am Ende stolz die Tickets hochhalten. Legendär waren auch die langen fröhlichen Warteschlangen, als das New Yorker MoMa 2004 für nur zwei Monate nach Berlin kam. Im Sommer 2021, als die Neue Nationalgalerie wiedereröffnet wurde, wickelte sich die Schlange schon wieder um das Gebäude von Mies van der Rohe – und auch da lag eher Volksfeststimmung in der Luft als angesäuerte Ungeduld. Unsere Literaturkritikerherzen lässt es natürlich am allerhöchsten hüpfen, wenn Menschen stunden- oder nächtelang vor Buchläden campieren, um morgens als Erste das neue Buch von J. K. Rowling, Michel Houellebecq oder Stephen King zu ergattern.

In Berlin gibt es ein paar Dauerschlangen, mit denen man fest rechnen kann: vor dem Berghain, am Hotdog-Stand bei IKEA, auf den Bürgerämtern, eigentlich überall am Flughafen BER – und vor Mustafas Gemüse Kebap in Kreuzberg.

Die Warteschlange vor dem Foodtruck ist meistens sehr international, man hört Englisch, Französisch, Chinesisch, Japanisch, Spanisch, Italienisch. Die meisten Wartenden sind Traveller, manche haben auch Rucksäcke oder Trolleys dabei. Neben Mustafas Gemüse Kebap steht ein Hostel, die Bergmannstraße, die auch in jedem Reiseführer vorkommt, ist nicht weit, und nur wenige Meter weiter liegt Curry 36, auch so ein Kultladen, der behauptet, die beste Currywurst Berlins zu verkaufen. Das Pärchen aus Hongkong vor uns hat sich ein schlau-effizientes System ausgedacht: Während sie in der Schlange für den Kebap steht, holt er eine Currywurst. Bis zum Döner braucht man an manchen Tagen, wenn es sehr kalt und verregnet ist, eine halbe Stunde, bei schönerem Wetter steht man hier auch mal zwei Stunden.

In anderen Städten, z. B. in London oder New York, ist es wesentlich verbreiteter, für einen z. B. besonders guten Bagel oder einen begehrten Cronut anzustehen. Aber in Berlin laufen nach wie vor die meisten kopfschüttelnd an der episch langen Schlange vor Mustafas Gemüse Kebap vorbei und können es nicht fassen, dass sich jemand auf dem nicht gerade pittoresken Mehringdamm die Beine in den Bauch steht. Um einen Döner zu essen! Gerade in Berlin, wo es an jeder Ecke Döner zu kaufen gibt.

Die Fragen, die sich sofort aufdrängen, sind natürlich: Was ist das Geheimnis von Mustafas Gemüse Kebap? Wer ist Mustafa? Wie ist er so berühmt geworden? Und lohnt sich das lange Warten wirklich?

Das Geheimnis dieses Döners ist seine Geschichte, es ist ein außergewöhnliches Berliner Großstadtmärchen. Es beginnt wie so oft mit der Liebe – einer Liebe nicht zwischen zwei Menschen, sondern zwischen einem Mann und dem Döner. Warum hat eigentlich noch keiner einen Roman darüber geschrieben?

Zuerst einmal: Mustafa ist eine Erfindung. Damit fängt das Storytelling schon mal an. Einen Mustafa gab es gar nicht, als es losging mit dem Gemüsedöner. Es gab aber einen jungen Mann namens Tarik Kara, Berliner und echter Dönerliebhaber. Kara mag nicht nur Döner, er liebt sie. Er sagt Sätze wie »Nimm den Döner ernst« oder »Ich mach jeden Döner mit Liebe«. Für die Liebe, wenn es richtige Liebe ist, ist man bereit, weit zu gehen, und Kara ging weit. Er eröffnete eine kleine Bude und verkaufte seinen Spezialdöner, mit Hähnchenfleisch und frittiertem Gemüse, wahlweise auch vegetarisch. Und weil »Mustafa« so schön orientalisch klingt, nannte er seine Bude nicht Tariks Gemüse Kebap, sondern Mustafas Gemüse Kebap. Oft stand er zwölf Stunden am Tag hinter dem Tresen und bereitete Döner zu, jeden einzelnen mit Liebe. So erzählt er es.

Der Wendepunkt kam, als eines Tages zwei junge hungrige Werber vorbeischauten, die für ein Uniprojekt ein Unternehmen suchten, für das sie eine Werbekampagne basteln konnten. Tarik Kara mit seiner Liebe zum Döner gefiel ihnen, das Storytelling ergab sich von selbst, und dann ging es los: Sie bauten ihm eine originelle Webseite mit lustigen Slogans (»Warum?« »Dürüm!«), sie schwärmten in ihrem Bekanntenkreis vom Gemüsedöner, und sie drehten einen Kinospot, eine Persiflage auf die Werbung für »Hipp-Babynahrung«. Tarik Kara steht in diesem Werbespot auf einem Feld mit Karottenbündeln in den Armen, er sagt Sätze wie »Wenn Sie das Gemüse für Ihren Döner selbst anbauen würden, würden Sie auf Chemie verzichten« und »Das Beste aus der Natur, das Beste für den Döner«. Claus Hipp versichert am Ende der Breiwerbung: »Dafür stehe ich mit meinem Namen.« Tarik Kara sagt, vor seiner Bude stehend und genauso ernsthaft-vertrauensvoll lächelnd wie Claus Hipp: »Davor stehe ich mit meinem Namen.«

Angeblich gab es spontanen Applaus im Kino, die Schlangen vor der Bude wurden länger und länger, die Presse kam, es gab Zeitungsartikel und Fernsehbeiträge. Und heute steht Mustafas Gemüse Kebap in jedem Reiseführer. Claus Hipp übrigens klagte nicht, weil sein Werbespot kopiert worden war, sondern schrieb einen fröhlichen Brief: »Liebe Mustafas, (…) Wenn Ihre Döner so gut sind wie die Werbung, über die ich herzlich gelacht habe, dann komme ich bei meinem nächsten Berlin-Besuch gerne vorbei. Mit herzlichen Grüßen, Euer Claus Hipp«

Es ist eine Geschichte mit einem Happy End. Die beiden Werber führen heute eine erfolgreiche Agentur, Mustafas Gemüse Kebap hat einen Ableger in München, und Tarik Kara selbst muss nicht mehr hinter dem Tresen stehen, wenn er nicht will.

Aber: Wie schmeckt er denn jetzt, der gehypte Gemüsedöner?

Nach einer Stunde Wartezeit sind die Erwartungen hoch. Wir sind endlich ganz vorne angekommen, es ist ein befriedigendes Gefühl, als habe man nach großer Anstrengung etwas erreicht, der Tresen fühlt sich an wie die Ziellinie beim Marathon. Und dann endlich die Gretchenfrage eines jeden Kebapverkäufers: »Mit alles?«, fragt einer der beiden Männer. Der Dativ kommt niemals in den Döner. Dafür jede Menge frittiertes Gemüse, Knoblauch- oder Kräutersauce und Schafskäse. Entweder mit Hähnchenfleisch oder vegetarisch. »Warum lieben alle eure Döner?«, fragen wir, während einer der Männer Fleisch abschneidet und der andere Gemüse in das Fladenbrot schichtet. Die Antwort, wie erwartet: »Weil wir den Döner lieben!«

Wir setzen uns damit eine Ecke weiter vor einen Blumenladen. Das Fladenbrot ist heiß und knusprig, da sind Süßkartoffeln, Kartoffeln, Lauchzwiebeln, Zucchini, Auberginen, Salat, Karotten, Tomaten und Zwiebeln, erfreulicherweise auch ganze frittierte Knoblauchscheiben, ein Hauch von Zitrone spielt mit hinein, und obendrauf krümelt Schafskäse. Es ist ein wirklich guter Döner, den wir jederzeit wieder essen würden. Ob er jetzt wirklich der Beste ist, darum geht es schon gar nicht mehr zu diesem Zeitpunkt, denn wir sind mittlerweile bereits hoffnungslos der Story erlegen und irgendwie ein Teil davon geworden. Klar würden wir uns hier wieder anstellen! Nicht zuletzt der Liebe wegen.


Mustafas Gemüse Kebap

Mehringdamm 32 | 10961 Berlin

Öffnungszeiten: Mo–Fr 10 – 3 Uhr

am Wochenende 11 – 5 Uhr morgens

Der Gemüsedöner kostet 4,90,

der Hähnchendöner mit Gemüse 5,30 Euro

Hungrig auf  Berlin

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