Читать книгу Hungrig auf Berlin - Denis Scheck - Страница 8

Das Märchen von Berlin

Оглавление

Wenn Nebel über den Ku’damm zieht und unsere Gegenwart mit ihren Schriftzügen, Werbeplakaten und Schaufensterdekorationen auslöscht, sodass nur die Silhouetten der Passanten im matten Lichtschein der Laternen übrig bleiben, kann man sich manchmal ins Berlin der 1920er-Jahre versetzt fühlen. Dann scheinen Fetzen von Charleston aus Tanzkneipen zu dringen. Die Comedian Harmonists singen »Mein kleiner grüner Kaktus«, Anita Berber, die wildeste Frau der Weimarer Republik, wirbelt nackt über die Bühnen, und Blandine Ebinger webt aus »Ach, er haßt, daß ich ihn liebe« melancholische Schleier. Wer die kulinarische Gegenwart Berlins vermessen möchte, beginnt am besten mit einem Bummel durch die gastronomische Vergangenheit der Stadt in den 20er-Jahren. Auf diesem wird schnell klar, in welchem Maß Berlin heute an eine Geschichte anknüpft, die die Stadt zum Sehnsuchtsziel der Amüsierlustigen und Feierwütigen weltweit machte – aber auch zum Zentrum der Geschundenen und Ausgebeuteten. Hungrig waren sie alle, sehr unterschied sich jedoch, wonach sie Appetit hatten. Die Dämonen der Vergangenheit sind im heutigen Berlin allgegenwärtig – und man begegnet ihnen auch in der Küche. Diese Stadt besitzt einen eisernen Magen.

Die Gastronomie Berlins steckt voller packender Geschichten, die wir während unserer Recherche für dieses Buch kaum glauben konnten. Zum Beispiel der Fall des legendären Restaurants Horcher, das während der Nazizeit nach Madrid umzog – mitsamt einer Maschine zur Herstellung einer der urdeutschesten Spezialitäten überhaupt: dem Baumkuchen. Bis heute hat das Madrider Horcher zwei Michelinsterne. In seinem amüsanten Buch »Berlin. Was nicht im Bädeker steht« von 1927 liefert der Journalist Eugen Szatmari eine sehr anschauliche Beschreibung des Horcher, das 1904 in Schöneberg in der Lutherstraße 21 eröffnete: »Horcher gehört zu den sehr wenigen Berliner Restaurants, die man mit den berühmtesten Gaststätten von Paris durchaus vergleichen kann. Was Ciro für Paris bedeutet, bedeutet etwa Horcher für Berlin. Ein kleines, vornehmes Restaurant, ohne Musik, wo man nicht nur gut essen kann, sondern – was in Berlin so selten ist – auch völlig individuell bedient wird. Bei Horcher stehen auf der Speisekarte keine Preise, er ist aber kaum teurer als die großen Hotels und bietet ausgezeichnete Küche. Dafür verkehrt bei ihm denn auch eine ausgewählt gute Gesellschaft. Während Peltzer ein Lokal ist, wo man vor allem zu Mittag speist, geht man zu Horcher meist abends. Dann kann man dort den früheren Minister Kühlmann sehen, Industriekapitäne aus dem Westen, berühmte Schauspieler, und es wird gewiss Leute geben, denen der Braten besser schmeckt, wenn sie sehen, dass am Nebentisch Elisabeth Bergner sitzt, oder Richard Tauber seine Austern schlürft. Auch Fritzi Massary und Pallenberg sind bei Horcher Stammgäste, ebenso wie Mia May, die als berühmte Köchin der Horcher’schen Küche sachverständige Anerkennung zollt. Hier verkehrt auch die Prinzessin von Sachsen-Altenburg, die Deutschlands schönste Perlen besitzen soll, Maler wie Arthur Kampff und Orlik, der Operettenkönig Oscar Straus, Dichter wie Werfel und Hans Heinz Evers, und viele, viele andere Leute, die in einem Restaurant weder Jazzmusik noch Charleston suchen wollen. Sie werden von Horcher alle sehr freundlich begrüßt, denn Horcher kennt alle seine Stammgäste persönlich, er kennt auch ihren Geschmack, und der Koch Poncini bekommt dann von dem Oberkellner Martius – dem einzigen Berliner Kellner, der ein eigenes Auto hat – besondere Weisungen für einen jeden Gast, denn es gibt Leute, die den Salat mit Senf angemacht haben wollen, während andere Gäste Zitrone und Zucker bevorzugen. Bei Horcher wird jedes Gericht sozusagen mit Liebe serviert.«

Zu den Spezialitäten des intimen, weniger als zehn Tische umfassenden Horcher zählte ein Fasan, dessen Knochen ähnlich wie die seit Jahrhunderten nummerierten Enten im weltbekannten Pariser Restaurant La Tour d’Argent in einer Presse ausgedrückt wurden und die Basis für eine anschließend flambierte Sauce bildeten. Wie aber kommt ein noch zur Kaiserzeit von einem badischen Weinhändler gegründetes Berliner Promi-Restaurant der Weimarer Republik in die Hauptstadt Spaniens? Es lag, wie so oft, an der »Liebe«. An der Liebe, mit der Otto Horcher, der Sohn des Gründers Gustav Horcher, auch einige Stammgäste des Horcher nach 1933 bewirtete. Hermann Göring und Albert Speer zum Beispiel. Seine Verbindungen zur NSDAP-Spitze trug ihm die Lizenz zur Bewirtung des Deutschen Pavillons bei der Weltausstellung 1937 in Paris ein. Bereits 1933 hatte Otto Horcher durch Zukauf des legendären Restaurants Zu den drei Husaren nach Wien expandiert. Nach der Kapitulation Frankreichs 1940 übernahm Otto Horcher sogar das gefeierte Maxim’s in Paris. Sein opportunistisches Meisterstück gelang Horcher aber 1944, als er seine Nazi-Förderer bequatschte, ihn mitsamt dem ganzen Kücheninventar, den Gläsern, der Tischwäsche, dem Porzellan und dem Tafelsilber und der Baumkuchenmaschine in verplombten Eisenbahnwaggons von Berlin nach Francos Spanien ausreisen zu lassen. Wir konnten es kaum fassen: Dieser ebenso unwahrscheinliche wie spektakuläre kulinarische Exodus soll im Berlin des Jahres 1944 möglich gewesen sein? Da hätte sich doch noch den verbohrtesten Endsieggläubigen der Verstand für die wahre Lage öffnen müssen! Angeblich erteilte Hermann Göring persönlich die Genehmigung für den Umzug des Horcher; wir fanden für dieses Gerücht jedoch keinen Beleg.

Der Franzose Jean-Claude Bourgueil kocht seit vielen Jahren im mal mit drei, mal mit zwei Sternen bewerteten Schiffchen in Düsseldorf-Kaiserswerth. Er hat im Horcher in Madrid in den 60er-Jahren gelernt und uns damit verblüfft, dass er nach seiner Lehrzeit die Herstellung von Baumkuchen beherrschte, den wir immer für eine deutsche Angelegenheit schlechthin gehalten hatten – quasi das kulinarische Pendant zu Weihnachtsbaum, Waldsterben und Peter Wohlleben. Noch Ende der 60er-Jahre, so erzählte es uns Jean-Claude Bourgueil persönlich, konnte man im Horcher in Madrid ein Hakenkreuz auf der Porzellanmarke erkennen, wenn man den Platzteller umdrehte. Manches brennt sich eben für immer ein.

Hungrig auf  Berlin

Подняться наверх