Читать книгу Hungrig auf Berlin - Denis Scheck - Страница 18
ОглавлениеAUS NEBENSACHEN HAUPTSACHEN MACHEN
Cookies Cream
Ein Besuch des Cookies Cream gleicht einem umgekehrten Geburtsvorgang. Durch endlos lange, verwinkelte Gänge führt der Weg in Düsternis mehrere Treppen empor, bis wir geblendet im Aufgang stehen bleiben, unsere Augen sich allmählich an die hellere Beleuchtung des in einem großzügigen Loft gelegenen Lokals gewöhnen und der Blick als Erstes auf ein überformatiges Gemälde mit dem Logo von American Express und der Aufschrift »Ficken« fällt. So erlebt jeder Besucher des Cookies Cream quasi den Moment seiner eigenen Empfängnis als Gast im Zeitraffer.
Ein solches Entree könnte auch leicht schiefgehen und in kulinarische Beklommenheit wie aus einem Monty-Python-Film münden: »Mögen Sie noch ein Minzchen?« Dass es das nicht tut, liegt an der Entspanntheit des Service, der gelassenen Weltläufigkeit der Gäste und nicht zuletzt an der bodenständigen Souveränität des Kochs Stephan Hentschel.
Die Speakeasy-Atmosphäre (ja, man muss immer noch klingeln; der Trick besteht darin, überhaupt Klingel und Tür zu finden …), der Industriechic, das lässige und doch kompetente Servicepersonal, das einen Wettstreit um die meisten Tattoos auszutragen scheint: Der Wille zum Posen ist dem Restaurant in die Wiege gelegt. Denn das Cookies war zwanzig Jahre lang einer der angesagtesten Clubs der Stadt, gegründet von Heinz »Cookie« Gindullis, einem gebürtigen Londoner. Der hatte in den 90ern als Tellerwäscher im israelischen Restaurant Oren neben der Neuen Synagoge begonnen, sich nach und nach zum Barkeeper emporgearbeitet und lud zunächst Freunde aus der Kunst- und Architekturszene immer dienstags zum Feiern ein in einen Hinterhofkeller in der Auguststraße 26 b, wo er wohnte. Bald kam auch noch der Donnerstag hinzu, denn an den Wochenenden musste Cookie als Barmann knechten. Mit dem Erfolg kam der Umzug in neue Räume im Gebäude der Komischen Oper, und bald war das Cookies einer jener Clubs, die Berlins Ruf als Partymetropole begründeten. Übrigens ist Gindullis als Gastrounternehmer weiterhin umtriebig: im Schwesterrestaurant Crackers, das Fleisch und Fisch auf der Karte hat.
Heinz Gindullis ist seit seinem achten Lebensjahr Vegetarier. Und deshalb lautete sein Wunsch an den damals 25 Jahre jungen Küchenchef Stephan Hentschel, als er 2007 im gleichen Gebäude wie sein Club ein Restaurant eröffnen wollte, dass vegetarisch gekocht werden, aber im Mittelpunkt nicht immer nur Pasta, Reis oder Tofu stehen sollte. Damit rannte er bei dem aus Sachsen stammenden Hentschel, der seine Kochausbildung im nordrhein-westfälischen Ladbergen absolviert und dann in Berlin unter anderem im Renger Patsch und in Michael Kempfs Facil (>) gearbeitet hatte, offene Türen ein. Michael Kempf griff ihm denn auch mit bemerkenswerter Kollegialität in den Anfangstagen bei der Konzeption der Speisekarte ein wenig unter die Arme.
Stephan Hentschel macht aus Nebensachen Hauptsachen, ja mehr noch: Er verändert unseren Blick dafür, was Nebensachen und Hauptsachen sind. Alles eine Frage der Bewertung. Es ist noch gar nicht so lange her, da kanzelten deutsche Speisekarten Gemüse als »Beilage« ab. Vegetarisch essen hieß in der alten Bundesrepublik, eine Kombination mehr oder minder gut zusammenpassender Beilagen zu bestellen. Auch die DDR verstand unter vegetarischem Essen im Grunde »Kartoffeln mit Soße«, und selbst im wiedervereinigten Deutschland sowie in Österreich und der Schweiz ging es noch lange so zu. Im besten Fall gab es vielleicht noch eine »Gemüseplatte«, die bei genauerem Hinsehen natürlich auch aus mehreren Beilagen bestand. Da kam wenig Freude auf.
Hentschel räumte damit genauso radikal auf wie mit der Vorstellung, dass vegetarisches Essen in irgendeiner Weise ein Ersatz für etwas nicht auf dem Teller Befindliches ist, das nun in Form von Fake-Schnitzeln, -Burgern, -Buletten oder -Würsten irgendwie nachgebaut, simuliert oder sonst wie imitiert werden müsste. Sehr wohl hat er aber Zubereitungstechniken aus der Fleisch- und Fischküche übernommen. Etwa Gemüse im Salzteig zu backen, zu schmoren und zu grillen, zu beizen oder zu fermentieren. Wichtig war auch die Zusammenarbeit mit dem Gemüse- und Kräuterbauern Peter Janoth in Krielow, dessen Produkte schon in Michael Hoffmanns Margaux die Stars waren. Für das Cookies Cream baut Janoth alte Tomatensorten, Schwarzwurzeln, Topinambur, Beete in reicher Auswahl und exotische bzw. vergessene Gemüsesorten an wie etwa die Chinakeule, einen Kopfsalat mit dickem Stängel. Dass sein Chefkoch Hentschel selbst kein Vegetarier ist, darin liegt für Cookie Gindullis der Schlüssel zum Erfolg des Restaurants, das seit 2017 als erstes und bislang einziges Berliner vegetarisches Restaurant mit einem Michelin-Stern und 16 Punkten vom Gault-Millau ausgezeichnet ist.
Das Geheimnis von Stephan Hentschels Küche liegt für uns in seinen Fonds. So unglaublich dichte, ihr funkelndes Aromenspiel von abgründiger Tiefe bis kristalliner Mineralität ausstellende Saucen gibt es in keinem anderen vegetarischen Restaurant, das wir kennen – noch nicht mal im Frankfurter Seven Swans, das uns mit seiner veganen »Root-to-Leaf«-Küche begeistert. Die auf Basis dieser Fonds gekochten Saucen sorgen für den Umami-Eindruck vieler Gerichte, die Hentschel entwickelt hat: sei es in einer abgründig komplexen Rotweinjus zu gebackenen Auberginen, sei es in dichten und doch feinen Sellerie- oder Champignonessenzen, bei denen man nicht glauben mag, dass hier gar keine Kalbsknochen im Spiel waren. Hentschels Devise scheint zu lauten: »Das beste vegetarische Essen ist eines, dem man es nicht anmerkt.« Seine saisonal immer mal wieder variierten Parmesanknödel, gern mit Perigord-Trüffelsud und Sherry, Pinienkernen und Spinat, aber auch mit Artischocken und Pistazien oder einfach im Zitronensud mit Karotten serviert, sind längst zum Klassiker avanciert. Der Einsatz eines ausrangierten Plattenspielers ermöglicht Hentschel, sehr schöne Spiralmuster aufzutragen, etwa eine Sonnenblumenkerncreme zu geräuchertem Topinambur mit einer Sauce von Brunnenkresse und Senf. Sonst hat Stephan Hentschel sein inneres Spielkind erfreulicherweise streng an die Kandare genommen und verzichtet weitgehend auf den Schnickschnack der Molekularküche – wenn auch nicht ganz, wie sein vegetarischer Kaviar aus Seetang beweist, der mit Avocado, Mayonnaise und gerösteten Haselnüssen einen schönen Menüauftakt liefert. Verlockend auch das Wachtelei in der viereckigen Brioche mit einem deftigen Kartoffelschaum auf einem Bett in Portwein karamellisierter Schalotten. Unter den Hauptgerichten spektakulär ist das Blumenkohlherz mit Vadouvan, einem französischen Curry, den Hentschel mit der schon erwähnten Chinakeule kombiniert und mit Salzmandeln Crunch verleiht. Zu den Gästefavoriten zählen daneben die im Ofen gebackene Aubergine mit hauchdünnem Papadam-Crisp, Tomatencreme und grünen Bohnen sowie die stets von großer Experimentierlust bestimmte Dessertkarte. Diese pimpt Aprikosen-Safran-Eis mit Jalapeño-Popcorn, kombiniert Dulce de Leche mit Verbene-Eis, Buchweizen und eingelegten Mirabellen oder ein Süßdolden-Sorbet zu Erdbeeren mit Baiser-Crunch und Milchcreme.
Die von Beginn an gleichermaßen freundlich kalkulierte wie entdeckungsträchtige Weinkarte des Cookies Cream setzt verstärkt auf Biodynamik, Orange Wine und Naturwein; auch eine spannende nichtalkoholische Getränkebegleitung ist im Angebot. Überhaupt haben wir nie Stephan Hentschels Restaurant verlassen ohne eine Anregung für ein neues Produkt, ein uns bislang unbekanntes Kraut oder Gemüse oder eine neue Zubereitungsart.
Cookies Cream
Behrenstraße 55 | 10117 Berlin
Öffnungszeiten: Di – Sa 17 – 23 Uhr
Reservierung: 030/27 49 29 40