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Zwischen Bewunderung und Unbehagen

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Die Medien, insbesondere das Boulevardblatt Blick, arbeiten dankbar mit dem Emotionspotenzial und der Sensationslust, die das Thema Herz bietet. Liebe und Tod, die zwei grossen Grundthemen, vereint in der Symbolik eines Organs. Dass es über die Jahrhunderte hinweg in Dichtung und Literatur mit besonderer Bedeutung aufgeladen worden ist, zeigt sich sehr schön in der Vielfalt der Begrifflichkeiten und seiner Metaphorik in der deutschen Sprache: Das Herz kann klopfen, pochen, hämmern, schlagen, zittern, flattern, schmachten, jubeln, erwachen, glühen, versagen, brechen und zerspringen. Man kann es verschenken, stehlen, es auf der Zunge haben, und es kann einem in die Hose rutschen. Es kann einem ein Stein vom Herzen fallen, oder man trägt ein Kind unter dem Herzen. Man hat etwas auf dem Herzen oder muss seinem Herzen Luft machen. Mal trifft einen etwas mitten ins Herz, oder man tut es nur halben Herzens. Ein Herz kann kalt, heiss, steinern, gross, gütig, grosszügig oder weich sein. Seit Urzeiten ist das Herz mehr als ein Muskel oder eine Pumpe, es ist Sitz unserer Gefühle und Beflügler unserer Fantasie. Die Griechen hielten das Herz für das wichtigste Organ des Menschen, den Sitz seiner Seele.11 Aus dieser symbolischen und über alle Schichten und Zeiten hinweg gewachsenen Überhöhung und Symbolkraft des Herzens lässt sich auch ein Teil der Sensationslust am Thema Herztransplantation, die die Medien 1969 erfasst, ableiten, und die den Blick zu Wortkreationen wie «Neuherz-Verpflanzung», «Herzwunder» oder «Herzraub» inspiriert.

Die Berichterstattung in den Zürcher Medien deckt sich mit Eckart Roloffs Analyse der Reaktionen der deutschen Presse auf Christiaan Barnards erste beide Herztransplantationen eineinhalb Jahre zuvor. Roloff schreibt, dass die Reaktionen der Presse auf die Herztransplantation zur Metapher für medizinische Innovation und zum Modellfall für Sensation wurden. Der Hauptakzent in der Berichterstattung habe nicht «auf der Verständigung über Komplexe wie die juristischen oder sozialmedizinischen Phänomene oder auf der einsichtigen Erklärung der Gewebeunverträglichkeit, sondern auf einer individualisierenden Sicht»12 gelegen. Damit habe die publizistische Entdeckung des Patienten eingesetzt. Nicht anders ist es eineinhalb Jahre später in Zürich, wenn der Blick über die Sorgen der Eltern des Herzspenders schreibt oder darüber, dass der Herzempfänger feste Kost gegessen und mit seiner Frau telefoniert habe, sein Tod aber weder kritisch hinterfragt noch medizinisch erklärt wird.

In allen drei Tageszeitungen finden sich ausführliche Reaktionen des Publikums in den Leserbriefspalten. Das Bild ist heterogen und reicht von grosser Bewunderung für den Chirurgen Åke Senning bis zur Verurteilung, dass niemand die Eltern des Spenders um Erlaubnis gefragt hat. Dass die Transplantation Sinnbild für ein neues, technisches Machbarkeitsdenken in der Medizin ist, stösst mehreren Lesern auf. Auf der Leserbriefseite des Blick heisst es dazu am 23. April 1969: «[…] Das zeigt einmal wieder die Mentalität eines Teils der Ärzteschaft auf, der in einem Organ wie das menschliche Herz lediglich eine Pumpe sieht, die ersetzt werden kann […]», oder: «Was die heutige Wissenschaft betrifft, in Sachen Mondlandung und Herzverpflanzungen an todgeweihten Mitmenschen, so arbeiten diese Herren Wissenschafter, Techniker, Ingenieure, Astronauten etc. gegen die Naturgesetze Gottes.» Und in der NZZ schreibt am 25. April 1969 ein Leser oder eine Leserin unter dem Kürzel W. K.: «Die Frage, die unverzüglich zur Diskussion gestellt werden muss, ist einfach: Wird der Mensch als Persönlichkeit in einem Grade ernst genommen, dass auch seine Leiblichkeit über den Tod hinaus als grundsätzlich unantastbar betrachtet wird, oder sieht man in einem Leichnam nur noch ein Ersatzteillager, das von Professoren, Chirurgen und Studenten nach Gutdünken und Willkür ausgeräumt wird? Besteht nicht doch ein Unterschied zwischen dem Sihlfriedhof und einem Autofriedhof?»

Die Herztransplantation in Zürich im Frühling 1969 und eine zweite im Sommer fallen zeitlich zusammen mit dem anderen grossen Ereignis dieses Jahres. Eine Woche nach Albert Hofmanns Tod setzt am 21. Juli 1969 zum ersten Mal ein Mensch seinen Fuss auf den Mond. Die Leserbriefe widerspiegeln Faszination und Unbehagen angesichts der Möglichkeiten, die der technische Fortschritt bietet und die seit jeher auffällige technische Innovation begleiten. Dass in der Machbarkeit und Erfindungsgabe auch eine gewisse Unausweichlichkeit des Fortschritts liegt, wird die Erzählung von Ruth Gattikers Geschichte und der Entwicklung von Herzchirurgie und Anästhesie zeigen. War im 19. Jahrhundert noch die Tuberkulose die Haupttodesursache, verschwindet die Krankheit mit der Entdeckung des Antibiotikums im 20. Jahrhundert. Dafür entwickeln sich, nicht zuletzt als Folge des modernen Lebensstils, die Herzkreislaufkrankheiten zur wichtigsten Todesursache.13 Das ist bis heute so, aber zahlenmässig sind die Todesfälle aufgrund von Herzkreislauferkrankungen seit Anfang der 1980er-Jahre dank der Entwicklung von Stents, Ballonkathetern, künstlichen Herzklappen und weiteren Innovationen rückläufig. Und die Entwicklungen in der Herzmedizin in den vergangenen 60 Jahren haben im Vergleich mit allen anderen medizinischen Fachrichtungen den grössten Anteil an unserer stetig gestiegenen Lebenserwartung.14

Ruth Gattiker

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