Читать книгу Mein Leben im zweiten Weltkrieg und in den ersten Nachkriegsjahren - Dieter Schulz - Страница 3
Sankt Martin 1938
ОглавлениеAn den Sankt-Martins-Zug vom 9. November des Jahres 1938 erinnere ich mich genau. Obwohl ich damals erst knapp 3 1/2 Jahre alt war, sehe ich die Ereignisse, die ich mir damals allerdings überhaupt nicht erklären konnte, auch heute noch klar vor meinem geistigen Auge. Das genannte Datum ist mir natürlich später von meinen Eltern genannt worden. Ebenfalls klärten mich meine Eltern später über das schreckliche Geschehen auf.
Im Kindergarten hatte ich gelernt, dass der Heilige Martin ein sehr guter Mann war, der aus christlicher Nächstenliebe für einen armen Bettler seinen Mantel teilte. Im Gedenken daran sollten wir Kinder am Ende des Sankt-Martins-Zuges eine große Tüte mit vielen Leckereien bekommen. Wir sollten daraus lernen, dass auch wir für andere Menschen Gutes tun sollten.
Der Martins-Zug wurde auf dem Hof der Schule an der Jahn-Straße zusammengestellt und dann zog er zunächst über die Jahn-Straße. Mit großer Freude trug ich meine Martinslampe. Dass einige Kinder sehr viel größere und schönere Martinslampen hatten als ich, bemerkte ich zwar, Neidgefühle hatte ich aber deswegen nicht. Im Martins-Zug kreisten meine Gedanken aber ohnehin nur um die Martinstüte mit den Leckereien. Die sollten wir nämlich vom Martinsmann persönlich bekommen.
Der Zug bog nach rechts ab in die Kirchfeld-Straße und es ging in Richtung Friedrich-Straße, die überquert wurde. Rechts stand die Sankt-Petrus-Kirche und hier kam der Zug direkt hinter der Sakristei zum Stehen. Es wurde nicht mehr gesungen und auch die Blaskapelle legte eine Pause ein. Den Grund dafür erklärten meine Eltern mir: Vorne, was ich aber nicht sehen konnte, teilte der Heilige Martin gerade mit seinem Schwert seinen Mantel, um dem armen Bettler eine Hälfte davon zu geben. Was der Heilige Martin da machte, war ein großartiger Akt christlicher Nächstenliebe. Diese Erklärung reichte aus, um mich ohne Ungeduld auf die sehnsuchtsvoll erwünschte Martinstüte warten zu lassen. So verhielten sich auch all die anderen Kinder, die auf das Geschenk des Heiligen Martin warteten.
Da war aber noch etwas anderes. In der erwartungsvollen Stille lag eine fühlbare Spannung in der Luft, die jedoch mit dem, was der Heilige Martin da vorne machte, nichts zu tun haben konnte. Es geschah nämlich etwas, was so nicht sein konnte und auch nicht sein durfte. Sollte das etwas mit dem Martins-Zug zu tun haben? Nie und nimmer! Was da geschah, hat sich deshalb so fest in mein Gedächtnis eingebrannt, dass ich später jeden Martinszug mit diesem Ereignis in Verbindung brachte. Besonders, nachdem meine Eltern mich später, das heißt nach dem Kriege, über das Grauenhafte, das sich da in unmittelbarer Nachbarschaft der Sankt-Peter-Kirche abspielte, aufklärten.
Die Ruhe wurde plötzlich unterbrochen. Spitze, schrille Schreie ertönten, brüllende Männerstimmen dröhnten herüber, Glasscheiben zerbarsten klirrend und aus einem Fenster fielen Möbel heraus. Der gellende Schrei, der durch Mark und Bein ging, war der ein Hilfeschrei? Und was war mit dem weinenden Kind da drüben in der Haustür? Durfte es nicht mit dem Martinszug gehen?
Eigenartig war das, sehr eigenartig! Hier die vielen bunten Martinslampen, die erwartungsvolle Freude, da drüben aber auf der anderen Straßenseite die brüllende Wut und das schreiende Entsetzen. Gehörte das alles zum Martinszug? Wie lange dauerte dieser Lärm, diese Störung? 10 Sekunden, 20 Sekunden oder gar 30 Sekunden? Das konnten mir auch später meine Eltern nicht sagen. Gott sei Dank spielte die Blasmusik wieder und die dicke Pauke sorgte dafür, dass der rätselhafte, störende Lärm übertönt wurde. Die unangenehme Störung war aber fast vergessen, als der Martinszug sich wieder in Bewegung setzte und das Lied „Lustig, lustig trallerallala, nun ist Martins Abend da“, angestimmt wurde. Der Heilige Martin saß hoch zu Ross und lachte mich freundlich an. Einer seiner Helfer gab mir die Martinstüte und in diesem Moment war alles wunderschön. Alles, alles war wieder gut und das von vorhin, das war doch nur eine kleine Störung, oder? Jedenfalls hatten wir nichts damit zu tun, nicht wahr?
Der Martinszug löste sich auf und die Menschen, zumeist Eltern mit ihren Kindern, die aber nun außer den Laternen noch die Martinstüten trugen, eilten nach Hause. Die schrillen Schreie, die brüllenden Männerstimmen und das klirrende Geräusch zersplitternden Glases waren aber wieder zu hören. Diesmal spielte sich das für mich nach wie vor Rätselhafte auf der Elisabethstraße ab. Da ich aber im Besitz der Martinstüte war, berührte mich das doch alles nicht. Wenn ein Kind froh sein konnte, so war ich es.
Wie ich bereits erwähnte, haben meine Eltern mich nach dem Kriege über das, was damals geschah, aufgeklärt: Demnach war ich Zeuge der so genannten „Reichskristallnacht“. Dieses beschönigende Wort steht für ein Judenpogrom, wie es Deutschland zuvor noch nie erlebt hatte. Als 3 ½ jähriger konnte ich natürlich nicht begreifen, dass da Menschen in höchster Not waren, dass sie gedemütigt und gequält wurden, dass viele von ihnen zum Krüppel geschlagen und viele ermordet wurden. Darüber wurde bei uns zu Hause erst nach dem Kriege, das heißt, nach der Nazizeit gesprochen.
Da erfuhr ich, was die Nationalsozialisten, diese Schwerverbrecher, in dieser Pogromnacht im Deutschen Reich angerichtet hatten: 91 jüdische Menschen wurden bestialisch ermordet, tausende Juden wurden misshandelt, tausende Wohnungen wurden zerstört, 267 Synagogen wurden vernichtet, 30.000 jüdische Mitbürger verhaftet. Von meinem Vater erfuhr ich, dass der weit entfernte Feuerschein, an den ich mich auch noch schwach erinnere, von der in Brand gesetzten Synagoge auf der Kasernenstraße kam. Von uns aus betrachtet war die Kasernenstraße ja die Verlängerung der Elisabethstraße.
Wie dieses Verbrechen geschah, hatte mein Vater nach dem Kriege von einem Kollegen erfahren. Demnach ist in der Pogromnacht ein SA- Haufen zusammen mit anderen Nazis dort erschienen, einige waren sogar Ärzte (!) von den Städtischen Krankenanstalten und einige waren Landgerichtsräte (!). Sie hatten Benzin und Teer mitgebracht. Alles Holz und die anderen brennbaren Materialien wurden mit Benzin besprenkelt, mit Teer bestrichen und dann angezündet. Die herbei geeilte Feuerwehr kam aber nicht, um das bald auflodernde Feuer zu löschen, sondern um dessen Übergreifen auf die Nachbargebäude zu verhindern. Das tollste war aber der grenzenlose Zynismus der Nazis, mit dem die Juden gezwungen wurden, nicht nur selbst für den angerichteten Schaden aufzukommen, sondern darüber hinaus ein Strafgeld in Milliardenhöhe zu bezahlen.
Ohne zu begreifen, was sich da abspielte, wurde ich Zeuge einer Ungeheuerlichkeit, die aber nur ein Vorspiel für jenen Frevel sein sollte, mit dem das Deutsche Reich unter der Naziherrschaft eine Barbarei an den Tag legte, welche hinsichtlich ihrer Grausamkeit neue Maßstäbe setzte.
Während in den Nachkriegsjahren in meiner Familie oft über die Gräuel der Nazis gesprochen wurde, fand besonders das Pogrom vom November 1938 Erwähnung und meine Mutter wusste von dem jüdischen Kinderarzt zu berichten, der trotz seiner Beinprothese misshandelt und die Treppe hinunter geworfen wurde. Die Beinprothese war ein Andenken an den ersten Weltkrieg, als er für sein deutsches Vaterland gekämpft hatte. Einen besonderen Bekanntheitsgrad hatte er sich dadurch erworben, dass er die Kinder mittelloser Eltern ohne Honorar behandelte.
Wie die vielen anderen Kinder auch, wurde ich also Zeuge eines Verbrechens, welches ich als solches nicht erkennen konnte. Aber die Eltern der Kinder, die Erwachsenen, die haben doch ganz klar erkannt, dass hier ein Verbrechen begangen wurde! Oder? Wie schon gesagt, fand es direkt hinter der Sakristei der Sankt-Petrus-Kirche statt. Es ist nicht bekannt geworden, ob der Herr Pastor, einer der Kapläne oder ein Mitglied des Kirchenvorstandes laut protestiert hätten. Auch in den Predigten wurde das ungeheure Verbrechen nicht erwähnt. Vielleicht war aber doch jemand so mutig, zu protestieren. Meine Eltern hatten von niemandem gehört, der sich dadurch bekannt gemacht hätte.
Ich fragte einmal meinen Vater, ob er damals nicht daran dachte, laut zu protestieren. „Hm“, sagte er, „dann säße ich jetzt nicht hier, dann wäre ich noch am gleichen Tage ins KZ gewandert! Im Übrigen hatte kaum jemand Mitleid mit den Juden, da die antijüdische Propaganda der Nazis große Wirkung zeigte. Nicht zu vergessen die judenfeindlichen Hetzereien besonders der beiden großen christlichen Kirchen. Demzufolge hielten die meisten Christen das Massaker an den Juden für die gerechte Strafe Gottes, weil die Juden doch angeblich Jesus, den angeblichen Sohn Gottes, auf dem Gewissen hatten!“