Читать книгу Mein Leben im zweiten Weltkrieg und in den ersten Nachkriegsjahren - Dieter Schulz - Страница 8
Ein spezielles Sparkonto
ОглавлениеÜbervolkswirtschaftliche Zusammenhänge hatte mein Vater keine besonderen Kenntnisse. Dass die Warenpreise sich in einer Marktwirtschaft aus den wechselseitigen Bedingungen von Angebot und Nachfrage ergeben, entzog sich seinem Wissen. Das kam nicht zuletzt daher, weil im Großdeutschen Reich fast alle Preise vom Staat vorgegeben wurden. Marktwirtschaft war für die damaligen Deutschen etwas Fremdes und nicht wenige hielten sie für unanständig.
Da aber immer mehr rationiert und dementsprechend alles knapper wurde, hatte mein Vater eine Idee, die im Nachhinein als wirklich gut bezeichnet werden muss und vermuten lässt, dass seine marktwirtschaftlichen Kenntnisse doch nicht so minimal waren. Auch Tabakwaren gehörten nämlich zu den rationierten Gütern, da die Nachfrage nach ihnen auf Grund der Knappheit nicht befriedigt werden konnte. Es gab also nicht nur Lebensmittelmarken, sondern auch Marken für Tabakwaren, also für Zigaretten, Zigarren oder Pfeifentabak und die bekam jeder, ob Raucher oder Nichtraucher. Zu den letzteren gehörte mein Vater. Wusste er, dass Zigaretten demnächst eine veritable Währung sein würden? Wenn ja, woher wusste er es? Jedenfalls ließ er eines Tages die Tabakmarken nicht mehr verfallen, sondern kaufte alle Zigaretten, die er dafür bekommen konnte. Dann legte er damit sein spezielles Sparkonto an. Natürlich nicht bei der Sparkasse, sondern auf dem Kleiderschrank. Jawohl, auf dem Kleiderschrank! Dort oben deponierte er seine Spareinlagen. Päckchen für Päckchen! Da kam so einiges zusammen. Das war gewissermaßen sein Sparstrumpf und oft genug stellte er einen Stuhl vor den Kleiderschrank, bestieg ihn und ergötzte sich beim Anblick seines Schatzes. Ja, das war ein echter Notgroschen, damit konnte man, wenn die Zeiten noch schlechter wurden, bestimmt etwas anfangen.
Die Katastrophe kam mit diesem Handwerker. Der Wasserhahn musste repariert werden und meine Mutter bekam dann einen ihrer Gutherzigkeitsschübe. Sie bat den Handwerker, doch bitte einen Moment zu warten, entnahm dem auf dem Kleiderschrank befindlichen Sparkonto ein Päckchen, schmälerte dessen Inhalt um drei einzelne Zigaretten und gab sie dem Handwerker, der sich darüber sehr freute.
Abends kam mein Vater von der Arbeit pünktlich nach Hause. Schmunzelnd nahm er einen Stuhl und ging damit ins Schlafzimmer. Den Blick meiner Mutter hatte er nicht zur Kenntnis genommen. Was ich dann hörte, war so ein seltsames Gejaule und das kam von meinem Vater. „Hans!“ rief meine Mutter, „ich hab´ dem doch nur drei Stück gegeben, mach´ doch nicht solch ein Theater!“ Die Plünderung seines Kontos musste für meinen Vater eine der schlimmsten Enttäuschungen seines Lebens gewesen sein. Er war wohl sehr erschüttert und rief mit weinerlicher Stimme: „Dann müssen wir eben Hunger leiden, ja Huunger leiden, Huunger leiden!“ Das Wort „Hunger“ sprach er mit so einem singenden Heulton, als ob „Hunger“ mit einem lang gezogenen „uu“ gesprochen würde. Da meine Mutter nichts sagte, steigerte sich seine Empörung so sehr, dass er die Zigaretten vom Kleiderschrank warf, darauf herum hüpfte und in einem fort dieses „Huunger leiden, huunger leiden!“ heulte. Ob das wohl eine kriegsbedingte Psychose war? Na ja, bei dem Tanz, wie meine Mutter sagte, sind nur wenige Zigaretten kaputt gegangen und mit der nächsten Zigarettenration konnte das Sparkonto nicht nur wieder ausgeglichen, sondern sogar noch aufgestockt werden. Später, nach dem Kriege, erwiesen sich Zigaretten als die Währung, für die man alles erwerben konnte, was für Geld nicht oder nur sehr begrenzt zu bekommen war.