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Am Rand zum Abgrund

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Die Algerier nutzen die Langsamkeit Mertesackers und die hohe Positionierung Mustafis: Nach einem deutschen Ballverlust schlagen sie den Ball hinter die unflexible deutsche Kette, wo ihm ihre schnellen Angreifer hinterherjagen. Oder sie zielen den Ball flach zwischen die weit auseinanderstehenden einzelnen Glieder der deutschen Viererkette. In diesen Situationen zeigt sich die deutsche Abwehr fast permanent indisponiert. Normalerweise ziehen Trainer in einer solchen Situation einen der beiden Innenverteidiger tiefer, damit er seinen Kollegen absichert. Bei den Deutschen übernimmt nun diese Aufgabe der Torwart, der überragend antizipiert, sich wie ein Libero hinter die Viererkette schiebt, Stellungsfehler seiner Vorderleute ausbügelt und die in die Tiefe gespielten Bälle der Algerier abläuft. So ganz nebenbei verleiht Neuers Auftritt dem deutschen Spiel auch noch einen Hauch von Abenteuer. Cathrin Gilbert schreibt später in der „Zeit“: „Während Fußball-Deutschland noch diskutiert, welcher Abwehrspieler die größten Schwächen hat, kommt Manuel Neuer von hinten und deckt das Fehlverhalten der deutschen Defensive einfach zu.“

So auch in der 9. Minute. Eine von Mustafi flach in den algerischen Strafraum geschlagene Flanke wird abgefangen. Blitzschnell wird der Ball hinter die weit aufgerückte deutsche Elf gespielt. Dort eilt auf der linken Angriffsseite Islam Slimani dem Ball hinterher, aber plötzlich taucht Neuer auf – weit außerhalb seines Strafraumes –, liefert sich mit dem algerischen Angreifer entlang der Außenbahn (!) ein Laufduell und grätscht den Ball schließlich zur Ecke – „die beste Aktion eines DFB-Defensiven in der ersten halben Stunde“ („Spiegel online“).

In der 28. Minute wird der Keeper ein weiteres Mal fern seines Kastens aktiv. Neuer klärt nach einem zu kurz geratenen Rückpass von Mertesacker geistesgegenwärtig mit einer Grätsche. Eine waghalsige Aktion. Wäre Neuer auch nur eine Zehntelsekunde zu spät gekommen, hätte dies für ihn mit einer Roten Karte geendet. Mit Folgen, die weit über das Turnier hinausgegangen wären. Neuer wäre zum Sündenbock für ein deutsches Ausscheiden avanciert. Das Bild der gescheiterten Aktion hätte sich in die Hirne von Millionen deutscher Fußfallfans und Tausender deutscher Jugendtrainer eingebrannt. Nach der WM hätten viele Jugendtrainer ihre Keeper angewiesen, bitteschön in ihrem Kasten zu verharren – und sie daran erinnert, wie Deutschlands Nr. 1 bei der WM vom Platz geflogen sei und dadurch sein Land um den ersehnten Titel gebracht hätte. Viele Fans im Stadion und vor dem Fernseher halten erschrocken die Luft an, wenn Neuer aus seinem Tor stürmt und weit ins Spielfeld gerückt im Stil eines Abwehrspielers Zweikämpfe führt.

Mehr als einmal bewegt sich Neuer am Rand zum Abgrund. In Porto Alegre liegen zwischen Triumph und Scheitern nur Bruchteile von Sekunden. Aber die Wahrheit ist auch: Hätte er dieses Spiel nicht in dieser Weise gespielt, wäre Deutschland nicht Weltmeister geworden, sondern vorzeitig nach Hause gefahren. Bei allem Respekt vor den beiden anderen deutschen WM-Keepern Ron-Robert Zieler und Roman Weidenfeller: Keiner der beiden hätte an diesem Tag das DFB-Team retten können. Mit einem anders spielenden Torwart hätten die Deutschen das Achtelfinale verloren – ohne dass man dem Keeper anschließend dafür die Schuld gegeben hätte. Zu Neuers Spiel gehört auch, dass sich dessen Vorteile nicht für jeden auf den ersten Blick erschließen. Wären Zieler oder Weidenfeller in den Situationen, in denen Neuer aufs Feld stürmte, in ihrem Strafraum geblieben, hätte sie kaum jemand dafür kritisiert. Die Sündenböcke wären andere gewesen. Neuer selbst kommentiert sein riskantes Spiel nach dem Schlusspfiff mit stoischer Ruhe, als habe ihn sein Auftritt nicht im Geringsten emotional angefasst. „Ich hatte das immer unter Kontrolle. Da habe ich immer aufgepasst.“

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