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„Das Spiel des letzten Mannes revolutioniert“
ОглавлениеIn der Heimat wird die deutsche Mannschaft von den Medien heftig geprügelt. „Schürrle stark, Neuer top – der Rest ist Schande…“, ätzt die „Bild“. Insbesondere die Abwehr bekommt es um die Ohren. Die „Süddeutsche Zeitung“: „Nur einer verteidigte zuverlässig: Torwart Manuel Neuer.“ Das DFB-Team hat gegen Algerien kein gutes Spiel geliefert. Aber einige der riskanten Situationen, die den deutschen Fans während dieser WM den Schweiß auf die Stirn treiben, sind durchaus gewollt – allerdings nur möglich mit diesem Torhüter. Beispielsweise die sehr breite (gegen Algerien deutlich zu breite) Positionierung beim Spielaufbau, die bei Ballverlust dem Gegner große Räume zwischen den Verteidigern – vor allem den Außen- und den Innenverteidigern – anbietet, in die er laufen und passen kann. Aber Neuer ist hier stets aufmerksam und zur Stelle und stößt in diese Lücken hinein.
Der Spielaufbau der Deutschen, ja ihre gesamte Spielphilosophie wird bei dieser WM stark von ihrem Keeper beeinflusst. Während bei anderen Teams der Torwart nur zum Abwehren gegnerischer Schüsse vorgesehen und in die Mannschaftstaktik nur beschränkt integriert ist, spielt Neuer im deutschen Spiel eine umfassendere Rolle. In England behandelt die „Daily Mail“ Neuer in ihrem Bericht zum Algerien-Spiel folgerichtig nicht als Torwart: „Beckenbauer, Matthäus und jetzt Neuer! Der starke Keeper setzt die Reihe starker deutscher Abräumer fort.“ Ähnlich hält es „Zeit online“ im Resümee seines Live-Blogs zum Spiel: „Die wichtigste Nachricht: Deutschland steht im Viertelfinale der WM. Die zweitwichtigste Nachricht des Abends: Deutschland hat wieder einen Libero. Nach all den langen Jahren der Doppel-Sechs, der Vierer-, Fünfer- und Deutschlandkette hat Joachim Löw endlich erkannt: Manuel Neuer ist im Tor verschenkt.“
Die Taktikfreaks von „Spielverlagerung.de“ analysieren: „Durch die schlechte Staffelung (besonders in der ersten Halbzeit, Anm. d. A.) und das Aufrücken der Außenverteidiger hatte das deutsche Team Probleme, ins Gegenpressing zu gelangen. Es tummelten sich viele Spieler vor dem Ball, speziell nach Ballverlusten im Mittelfeld. Algerien hebelte das Gegenpressing über einen einfachen Pass aus, um danach direkt den Ball in die Spitze zu schlagen. Hier hatten sie sich Per Mertesacker als langsamsten Verteidiger des deutschen Teams ausgeschaut. Slimani rückte oft nach links, während Linksaußen Soudani asymmetrisch höher agierte als sein Gegenüber Feghouli. Mit ihrer hohen Geschwindigkeit starteten sie in Laufduelle mit Per Mertesacker, der sie nicht halten konnte. Mustafi konnte aufgrund seiner hohen Positionierung hier meist nicht eingreifen. Dass dieses taktische Mittel der Algerier nicht aufging, lag maßgeblich an Manuel Neuer. Er zeigte eine beeindruckende Partie als mitspielender Torwart und fing sämtliche Bälle hinter der Abwehr ab. Seine Positionsbeschreibung trifft wohl am ehesten der Begriff Libero; ein freier Spieler hinter der Abwehr, der Bälle abläuft und Gegenstöße einleitet.“
„Spielverlagerung.de“ sieht Neuers spektakulären Auftritt aber nicht nur unter dem Aspekt einer schwachen Vorstellung seiner Vorderleute: „Es muss auch gesagt werden, dass sich das deutsche Team der Qualitäten von Neuer bewusst ist. Die hohe und sehr breite Stellung der Verteidiger im Spielaufbau wird erst durch Neuer ermöglicht; er fängt die relativen Geschwindigkeitsdefizite und den riskanten Spielaufbau auf. Das Spiel mit einer Torwartkette ist nicht der letzte Rettungsanker, sondern genau so vom deutschen Team gewollt.“
Der „kicker “ titelt „Die falsche 5“ und kommentiert: „Deutschland diskutierte über die falsche 9, jetzt über die ,FALSCHE 5‘. Im Stile eines Liberos prägte Manuel Neuer die Partie gegen Algerien. (…) Seine 1,93 m sind ein Gardemaß für einen Torhüter. Er ist ein Riese mit seiner Gestalt und seinem Torwartspiel. Aber ist dieser deutsche WM-Auserwählte, zum dritten Mal bei einem großen Turnier, nicht weitaus mehr als ein Torhüter? Zusätzlich ein Ausputzer oder Libero? Eine Nummer 1 plus eine Nummer 5 in Zeiten, da so viel über die falsche 9 diskutiert wird? Keeper Neuer stärkt seine Vorderleute als elfter Feldspieler.“
Cathrin Gilbert („Die Zeit“) sieht gar eine Zeitenwende; für sie hat Neuer im WM-Achtelfinale „das Spiel des letzten Mannes revolutioniert. (…) Manuel Neuer geht auf dem Platz Wege, die Torhüter vor ihm nicht kannten. Wenn es notwendig ist, deckt der Schlussmann allein jenes Drittel der eigenen Hälfte ab, in dem sonst die gesamte deutsche Abwehr steht. Oder er ist derjenige, der das Spiel schnell macht, mit hohen Abstößen oder mächtigen Abwürfen Konter einleitet.“ Oliver Fritsch schreibt Ähnliches auf „Zeit online“: „Dass der moderne Torwart nicht mehr auf der Linie klebt, weiß man selbst im traditionsverliebten Deutschland schon einige Jahre. Dass einer aber fast das gesamte Abwehrdrittel abdeckt, wie Neuer an diesem Tag, ist neu. Man soll ja vorsichtig sein mit Prognosen. Aber Neuer dürfte beim deutschen Sieg gegen Algerien ein epochales Spiel geboten haben, das künftige Generationen beeinflussen wird. Kinder, die das Spiel gesehen haben, wollen ab sofort Tormann werden – und zwar so wie Neuer. (…) Dass Neuer, der Weltbeste seines Fachs, seiner Elf in Brasilien ein Spiel gewinnen würde, war zu erwarten. Doch auf welch beispiellose Art, konnte wohl keiner ahnen. Er tat es fast gar nicht mit den Händen, denn wo er es tat, darf er sie gar nicht benutzen. Neuer gewann als Ausputzer vor dem Strafraum, als Manuel, der Libero. Vielleicht muss man nach diesem Spiel sogar einen neuen Begriff für Tormann ausdenken.“
Dass ein Torwart ein derartig epochales Spiel auf dem Rasen ausgerechnet eines brasilianischen Stadions hinlegt, entbehrt nicht eines gewissen Charmes. Brasilien ist nicht gerade das Land der Torhüter. Lange Zeit galt hier der Mann mit den Handschuhen als Nicht-Fußballer und Spielverderber. Félix Miélli Venerando, Brasiliens Nr. 1 beim WM-Gewinn 1970, behauptete gar, in Brasilien werde Torwart, wer als Feldspieler zu schlecht sei. Wer auch nur ein bisschen Fußball spielen konnte, der mied das Tor. In einer kreativen, spielfreudigen und torhungrigen Spielkultur war der Keeper als reiner Tore-Verhinderer eine Spaßbremse und ein Spielverderber. Im Porto Alegre demonstriert Neuer, dass es auch anders geht. Dass ein Torwart sehr wohl ein Fußballspieler sein kann, der sich am Spiel aktiv beteiligt.