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Inselrundfahrt

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Die Gelegenheit zu einer Erkundungstour bietet sich uns bereits am nächsten Vormittag. Als verfüge der Reiseveranstalter über seherische Fähigkeiten. Schon bei der Ankunft versäumte er es nicht, uns zum Begrüßungscocktail im Hotel einzuladen. Dorthin, wo wenig zuvor gefrühstückt wurde. Eine Mitarbeiterin des Touristikunternehmens heißt uns nochmals herzlich auf Formentera willkommen. Sie stellt sich uns als Sabine vor. Schön für sie. Für uns bleibt sie Miss Neckermann. Miss Neckermann trägt die Uniform des Arbeitgebers, ist geschätzt höchstens 30, für den Fall der Fälle in einem Büro am Hafen erreichbar, hat aber ebenso zweimal die Woche eine kurze „Sprechstunde“ im Hotel. Praktisch.

Bei einem Glas Sangria gibt sie uns in einstudierten Sätzen einen kurzen Abriss über Geschichte, Land und Leute, was wo auf der Insel zu finden ist und was es mit dem Ordner auf sich hat, der neben der Rezeption ausliegt. Für uns am wichtigsten: die Liste derer, die abreisen beziehungsweise wann und wo sich die Genannten zur Abholung einzufinden haben. Am besten mal zwei bis drei Tage, bevor es soweit ist, hinein schauen. Dann folgt, worum es eigentlich geht – verkaufen. Wie könnte es anders sein. Wir erhalten Rabatte, wenn wir über Miss Neckermann Autos oder Motorroller mieten, zudem hat der Reiseveranstalter ein halbes Dutzend Veranstaltungen im Programm. Auf Wunsch direkt buchbar, für weniger Kurzentschlossene jedoch auch jederzeit während der Sprechstunde in der Unterkunft oder im Büro. Das Angebot reicht von der Piratenfahrt, einem Bootsausflug um die Insel, bis zum Vergnügungstrip auf das Nachbareiland. Wahlweise Ibiza bei Nacht oder Bummel durch die Altstadt tagsüber.

Ein Kennenlernen der entfernteren von Wasser umgebenen Landmasse scheidet kategorisch aus. Uns reicht der Überblick darüber, wo wir gelandet sind. Der Möglichkeiten dazu gibt es zwei: eine halbtägige Tour mit dem Bus sowie eine ganztägige Offerte unter dem Titel „Jeep-Safari“. Die Namensgebung verfehlt ihre Wirkung nicht. Busrundfahrt? Hört sich ein wenig bieder an. Vielleicht was für Kulturinteressierte im gesetzteren Alter. Jeep-Safari? Klingt in unseren Ohren nach Spaß, Action und Abenteuer für Junge und jung Gebliebene. Wozu wir uns entscheiden? Welch eine Frage!

Zwei Tage später ist es soweit. Nicht ganz preiswert, das Vergnügen, insbesondere für den schmalen Geldbeutel eines Studenten, der sich erst unlängst zuvor das Taschengeld für den Urlaub erarbeitete, doch wir sollen die Investition nicht bereuen. Zunächst jedoch schauen wir verwirrt drein. Miss Neckermann fährt in einem Fahrzeug vor, das komisch aussieht. Anstatt des martialisch anmutenden Gefährts, mit dem Männer in tarnfarbenen Kampfanzügen fern ab von Straßen durch unwegsames Gelände brettern, kommt sie mit einem offenen, orangenen Auto daher das aussieht, als entstamme der Entwurf der Hand eines Dreijährigen. Länglicher, viereckiger Kasten, unten dran vier Räder, oben drauf ein leicht schräger Strich. Die Windschutzscheibe. Fehlen an sich nur noch ein paar verstrahlt lachende Blumenkinder. Letztere lassen nicht lange auf sich warten.

Argwöhnisch beäugen wir das Vehikel. Das Innenleben wirkt weniger unbekannt. Irgendwo um das Lenkgestänge herum ein paar Drähte, im Fußraum darunter die drei Pedale, Kupplung, Bremse und Gas, nicht weit davon entfernt der Griff der Feststellbremse, ziemlich mittig daneben zwischen Fahrer und Beifahrer eine Revolverschaltung. Wie die gesamte Ausstattung ist alles minimalistisch, schmucklos und funktional. Verkleidungen, Verzierungen, jeglicher Hauch an Komfort? Nichts dergleichen. Luxus. Überflüssiger Schnick-Schnack. Sucht man eine Armlehne, bleibt einem der Oberschenkel des Sitznachbarn. Gut hat es, wer hinten rechts sitzt. Er kann Grußhand wie zugehörige Elle auf dem Reservereifen ablegen.

Nicht großartig anders aus sieht es unter der Motorhaube. Rüdiger als gelernter KFZ-Mechaniker lässt es sich nicht nehmen, einen Blick unter die Frontklappe zu werfen. Was er sieht ist aufgeräumt und überschaubar. Als er den Deckel wieder zuschlägt, klappert Kunststoff auf Kunststoff. Rosten kann schlimmstenfalls das Fahrwerk.

„Quasi eine Ente. Ein 2CV.“

Mit seiner Einschätzung liegt er richtig. Die Kreation stammt aus dem Hause Citroën. Seine Erbauer verliehen ihm die Bezeichnung Méhari. Renndromedar. Nun ja. Besser als Gepard. Das wäre vermessen. Letztendlich ist die Höchstgeschwindigkeit aber auch nicht das Thema. Wir sind weder angetreten, um möglichst schnell von A nach B zu gelangen, noch wäre es bei dem Fahrkomfort ein Vergnügen.

Unsere Exkursionsflotte besteht aus sieben Wüstenflitzern. Nach und nach sammeln wir deren Besatzungen ein an ihren Unterkünften. Als wir vollständig sind, haben wir Glück. Miss Neckermann quetscht sich zu uns in den Wagen und wir bilden die Speerspitze des Konvois. Profitieren tun wir davon in zweifacher Weise. Der erste Pluspunkt erschließt sich uns unmittelbar: wir können deutlich mehr vom Wissen der Inselkundigen absaugen als unsere Verfolger. Der zweite Vorteil wird erst nach und nach sichtbar – im wahrsten Sinne des Wortes. 1986 sind die meisten kleineren Wege noch nicht asphaltiert. Statt dessen sind sie Staub bedeckt. Wirbelt der auf, hinterlässt er eine Wolke, die sich erst langsam wieder setzt. Für uns gut zu beobachten im Rückspiegel. Beziehungsweise wenn wir anhalten. Mit jedem Stopp, den wir einlegen, wird es offensichtlicher. Die Position innerhalb unseres kleinen Verbandes ist quasi von den Windschutzscheiben der Fahrzeuge ablesbar. Ebenso von den Gesichtern und Oberteilen der Fahrzeuginsassen – wir sind reichlich auf Staub- und Holperpisten unterwegs.

Im Zick-Zack-Kurs geht es kreuz und quer über die Insel. Alle paar Minuten bleiben wir irgendwo stehen. Zum einen haben wir Miss Neckermann nicht exklusiv für uns gepachtet, zum anderen weiß sie zu allem etwas zu erzählen. Irgendwie will der Tag schließlich ausgefüllt sein. Vor dem größten Feigenbaum der Insel bekommen wir zu hören, warum dessen lebende Äste mit toten abgestützt werden, an einer Natursteinmauer erfahren wir, dass diese in ihrer ursprünglichen Form ganz ohne Kitt und Mörtel erbaut werden, an anderer Stelle wird unser Augenmerk darauf gerichtet, dass Ziegen mit zusammen gebundenen Beinen umher laufen, um sie an weiteren Ausflügen zu hindern. Die beiden Leuchttürme, die an exponierten Stellen stehen? Natürlich bieten auch sie Anlass zu Worten und Erstaunen. Der eine inspirierte Jules Verne und findet sich in einem seiner Romane wieder, an dem anderen spazieren wir herum und lernen die Welt von innen kennen. Zwar geht unser Ausflug im Ausflug nicht gleich runter bis zum Mittelpunkt der Erde, wohl aber unter die Oberfläche unserer Planeten. Neben dem Leuchtturm befindet sich eine Höhle. Dass uns diese in die Sonnenwelt führt? Nicht ganz, doch immerhin schimmert am anderen Ende das Tageslicht. Nach kurzem Durchschreiten des natürlichen Gewölbes stehen wird eine Etage tiefer auf einem Felsvorsprung. Etliche Meter unter uns nagen die Wellen am Gestein. Der Anblick? Imposant. Wie lange wir gebraucht hätten die Stelle zu finden ohne darauf gestoßen zu werden? Schwer zu sagen. Insofern: schon nicht verkehrt, unsere Kennlerntour über die Insel.

Für eine Mittagspause halten wir vor der Salzmühle. Wo einstmals „weißes Gold“ gemahlen wurde, diniert nun hin und wieder der spanische König. An dem Tag, an dem wir in das Restaurant einfallen, ist ein Tisch exklusiv für uns gedeckt. Seine Majestät scheinen sich ebenso wie andere Prominenz anderswo herum zu treiben. Der Bootsanleger steht leer. Doch was soll's – können wir uns voll und ganz dem widmen, was man uns serviert.

Es beginnt mit einer hellen Pampe, die diverse Tontöpfchen füllt. Wären selbige leer, wir hätten sie für Aschenbecher gehalten. Als auch noch Brot gereicht wird, klärt uns Miss Neckermann auf.

„Wer es nicht kennt, sollte es probieren. Die Creme vor Euch nennt sich Allioli. Sie ist aus Knoblauch, Olivenöl und Salz zubereitet. Man streicht sie auf das Brot.“

Wagen wir uns zunächst nur zaghaft an die mediterrane Spezialität, schwindet nach ersten Happen die anfängliche Zurückhaltung. Der Dip ist köstlich. Nicht anders verhält es sich mit dem Hauptgang: in Meerwasser gekochte Kartoffeln zu frischem Fisch vom Grill. Für uns gibt es keinen Grund, Gerichten aus der Heimat hinterher zu trauern. Am wenigsten Eisbein mit Sauerkraut.

Der „Nachtisch“ enttäuscht uns ebenso wenig. Er wird in flüssiger Form gereicht. Ein Chupito – in Deutschland geläufig als ein Kurzer. Ein Pinnchen mit Hierbas. Was übersetzt für Kräuter oder Gräser steht ist in der dargereichten Form ein Likör. Dass drin ist was drauf steht? Blöde Frage. Sicher. Viel wichtiger aber: die geschmackliche Note des Insel typischen Gebräus. Bezüglich der Verkostung ergeht es uns ähnlich wie mit der Allioli. Zunächst jedoch bleibt es bei einem Gläschen.

Dem Essen folgt ein paar hundert Meter weiter die Einführung in landesübliche Rituale: es ist Zeit für die Siesta – die Mittagsruhe. Es sei keine Schande, sie schlafend oder dösend zu verbringen. Die Gepflogenheit bedarf kaum weiterer Worte. Wir zelebrieren sie am Strand. Handtuch auspacken, Klamotten vom Leibe, alle Viere von sich strecken, Augen schließen – herrlich. Wir mögen lediglich mit der Sonne aufpassen. Sowohl das ständig laue Lüftchen als auch Bewölkung seien trügerisch. Man fange sich schnell einen Sonnenbrand ein. Für manch einen kommt der letzte Hinweis zu spät. Es dauert nicht lange, dann ist man eingenickt, weilt im Reich der Träume.

Nachdem auch das Nachmittagsprogramm absolviert ist, sind wir vollumfänglich informiert. Wir sind eingeweiht in die Grundlagen von Ackerbau, Viehzucht und Fischfang, wir tauchten ab in die Geschichte, wissen am Ende des Tages, dass bereits die Römer Formentera für sich entdeckten, sich die Salzgewinnung in den Salinen nicht mehr lohnt, warum man einst Maurentürme und Wehrkirchen errichtete, wie es dazu kam, dass in der Crimson Höhle oben in der Steilküste der Hochebene La Mola ein Schaufelbagger vor sich hin rostet, wo wir einen Arzt finden, wo Boutiquen und wo Diskotheken, das Es Pujols das touristische Zentrum der Insel ist, in San Francisco die Verwaltung sitzt, das in El Pilar einmal wöchentlich ein Hippiemarkt stattfindet und es auf dem gesamten Eiland nur eine Tankstelle gibt. Selbst der Besuch eines Friedhofs kommt nicht zu kurz. Strände? Kein Thema mehr. Wir klappern sie ab. Alle. Die lang gezogenen Illetas und Llevante im Norden, den Migjorn im Süden wie auch einige der kleinen malerischen Buchten dazwischen. Als absoluten Geheimtipp verkauft uns Miss Neckermann Caló d´es Mort. Dort, wo der Migjorn ausläuft und sich die Mola langsam erhebt, zwischen den Felsen, zimmerten sich, wie andernorts auch, Fischer eine Hand voll Unterstände für ihre Boote. Das Besondere hier: Man hangelt sich entlang eines in der Wand befestigten Kabels und über in den Stein gehauene Stiegen hinunter, dann breitet sich zur Rechten ein schmaler Sandstreifen aus, ausreichend groß für Frau und Kinder derer, die hinaus aufs Wasser ziehen. An mancher Stelle bleibt zwischen Felswand und Wasserkante gerade so viel Platz, dass ein ausgebreitetes Handtuch nicht nass wird. Wer in den Vormittagsstunden kommt und Glück hat, erhascht sogar noch eine Zeit lang etwas von dem Schatten, den die steilen Wände werfen. Irgend jemand aus unserer Gruppe konnte die Empfehlung dem Anschein nach allerdings nicht für sich behalten. Jahre später liegt in der kleinen Bucht ein Badelaken neben dem anderen.

Einmal Formentera, immer Formentera?

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