Читать книгу Kiki süss-sauer - Doris Lilli Wenger - Страница 16
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ОглавлениеKiki geht
Wie konnte Kiki bloss! Riri bückte sich und schnippte mit dem Finger Laub vom grauen Steinmäuerchen, welches den Garten umfasste.
Endlich würde Kiki weggehen.
Darauf wartete Riri schon so lange, dass ebendies passieren würde. Und jetzt wackelte der Boden unter ihren Füssen.
Als spiele sie mit einer der Postkarten ihres Paten, die sie regelmässig von seinen ausgedehnten Kreuzfahrten zugeschickt bekommen hatte. Auf einer davon waren nur Wellen und Meer abgelichtet gewesen. Jene Karte hatte sie sich dicht vor die Augen gehalten und sie winzig hin und her bewegt. Es hatte ihr Schwindel verursacht, als befände sie sich selbst auf einem Boot mit unbestimmtem Ziel auf hoher See.
Der Taumel hatte sie berauscht und verängstigt. Trotzdem hatte sie nicht aufhören können. Bis sie die Karte eines Abends draussen hatte liegen lassen. Aufgeweicht vom morgendlichen Tau war sie danach für ihr Spiel unbrauchbar geworden.
Jetzt fühlte sie sich genauso. Sie freute sich ob Kikis Weggehen, auf die Zukunft. Es fühlte sich an wie Freiheit - und es fühlte sich an wie Schuld.
Schuld. Immer wieder Schuld
Würde sie das je loslassen können? Würde dieses Dehnen und Ziehen nach Zimtstern irgendwann erlahmen?
Was würde passieren, wenn Kiki wegging?
Ich will mit ihr reden
«Wohin gehst du?», hatte Riri am Telefon atemlos gefragt. Sie hatte geahnt, dass ihre Schwester bald frisch verliebt bei ihr auftauchen würde. Für Kiki war es unerträglich, länger als zwei Monate ohne einen Kerl zu bleiben. Dass sie wegzog, damit hatte Riri nicht gerechnet.
«Nach Lausanne. An der Hochzeit von Ciril habe ich Finn kennen gelernt. Er ist der absolute Hammer!» Kikis Stimme war ein Ton heller als üblich. Ein untrügliches Zeichen.
«Da bin ich ja gespannt.» Riri schloss die Augen.
«Es ist anders als sonst. Er meint mich. Endlich habe ich auch jemanden, mit dem ich diese absolute Liebe erlebe. Es ist wie du und Alain. Jemand, der mich versteht, der mit mir zusammen sein will.»
«Super.» Riri wollte sich mit Kiki freuen.
«Sag das nicht so. Ich werde ihn dir vorstellen. Es bedeutet mir etwas, wie du ihn beurteilst. Kann ich vorbeikommen?»
«Wann? Jetzt? Mit diesem Mann?» Riri erschrak.
«Nein, nein. Nicht jetzt, heute Abend. Ich komm allein. Finn ist in Lausanne. Ich würde dir gerne von meiner Wahnsinnswoche erzählen. Ich habe meine Stelle gekündigt. Fantastisch, was alles passiert ist.»
Riri fuhr sich über die Stirn, gereizt. Sie wollte trotz ihrer Sorgen und Bedenken freundlich und zuvorkommend bleiben.
Sie konnte ihre Schwester nicht ausstehen.
Der Gedanke fesselte sie, ausserstande sich davon zu befreien.
Hasse ich Kiki? Darf man das? Die eigene Schwester? Oder liebe ich sie?
Dieses süss-saure, ambivalente Empfinden harrte in ihrer Brust.
Süss-sauer – genauso fühlt sich Kiki an
Wenn sie weg wäre, dann würde es nicht dauernd um Kiki gehen.
Dann gäbe es nur sie selbst, ohne diesen Schatten über ihr.
Für ihre Mutter war sie nie gut genug.
Riri hob den Kopf. Die Sonne kämpfte sich durch den lichten Hochnebel, welcher sich während der Nacht hergeschlichen hatte. Nach einem stümperhaften, nassen Sommer hatten sie doch noch ein Quäntchen Wärme abbekommen. Inzwischen quetschte sich der Herbst zwischen die Tage. Die Luft war abgekühlt. In den frühen Morgenstunden war ein Gewitter aufgezogen, es hatte geregnet. Dunst lag auf den Feldern. Vögel zwitscherten. Leise lärmte ein Flugzeug. In einiger Entfernung schlug ein Hund an.
Riri fühlte sich verlassen. Eigenartig, wie laut sie die Zeichen der Gesellschaft hörte, sobald sich ihr Herz einsam fühlte.
Sie seufzte, griff nach der Post im Milchkasten und trat ins Haus. Dann schnappte sie sich den Lappen. Hausarbeit half, Trübsal zu verjagen. Aufräumen als Therapie gegen Unordnung in ihrem Inneren. Staubwischen, Saugen, zerwühlte Bettlaken, Reste von rosa Pomadenstift und blonde Haare im Lavabo. Keine Spuren von Morgenübelkeit. Sana hatte es wie üblich eilig gehabt.
Es funktionierte. Riris Groll wurde heller, je mehr die Wohnung glänzte und die Sonne sich zeigte. Sie wusste was zu tun war, um Schwierigkeiten zu bewältigen. Es waren nicht ihre ersten. Riri lächelte.
Kiki würde ihre Haltung angestrengt nennen. Sie selbst bevorzugte den Begriff zielstrebig.
Riri hatte ihre Schwester zum Nachtessen eingeladen. Die Kinder würden nicht da sein. Fussballtraining von Jan und Prüfungsvorbereitungen von Sana. Auch Alain hatte sich abgemeldet. Eine Besprechung würde ihn bis um Mitternacht beanspruchen. Er war abends oft weg. An Wochenenden erledigte er oft Vorbereitungsarbeiten. Für Gemeinsamkeiten waren die Sonntage reserviert. Seine Sekretärin Rosa? Riri überlegte, ob sie sich Sorgen machen müsste und entschied, ein anderes Mal darüber zu grübeln. Sie hatte sich auf einen Abend allein gefreut. Darauf, sich auf das Sofa zu kuscheln und zu lesen. Die letzten zwei Kapitel des Romans, die Spannung auf das Ende, kribbelte ihr unter der Haut. Eine undefinierbare Leere würde sie danach begleiten. Den Drang nach einer neuen Geschichte vermochte sie manchmal kaum unterdrücken. Das Fehlen eines Schattenlebens, einer Story, welche sie den ganzen Tag verschlossen in sich herumtrug, wirkte wie eine Flaute. In dieser Leere würde sie verharren, bis eine weitere Erzählung sich an sie heftete.
Kiki hatte ihr einmal mehr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie wollte diesen Umzug perfekt planen. Es bereitete Riri ein schelmisches Vergnügen.
Sie hoffte, es würde ihr gelingen, Kiki von sich zu erzählen. Der Affenbaum war gefällt, das würde ihr einen Anfangspunkt bieten. Riri schluckte. Sie machte sich nichts vor. Sie würde Geduld und geschickte Fingerspitzen brauchen, um Kikis Nabelschau durchbrechen zu können.
Mit dem Weggang von Kiki würde eine neue Ära anbrechen. Würden sie später die aktuelle Konstellation als die besten Jahre ihres Lebens, oder eher als ihre schwierigste Zeit betrachten?
Riris Handy vibrierte. Sie hörte es zufällig, der Staubsauger röhrte so laut, dass sie normalerweise von Störungen verschont blieb.
«Ich bin’s nur.» Ihre Mutter brachte sie zur Weissglut.
«Maman, sag das nicht!» Riri schluckte ihren Unmut. «Du bist wichtig für mich. Nichts an dir ist nur.» Während sie es aussprach ahnte sie, dass Maman ihre Erklärung überhören würde. Auch das nervte.
«Was machst du?» Maman hustete.
«Maman, es ist Montag. Du weisst, dass ich …», Riri stockte. «Was willst du?» Der Ärger sickerte durch ihre knappen Worte. Riri hörte, wie ihre Stimme drängelte. Das wollte sie nicht. «Wie geht es dir? Brauchst du Hilfe? Seit wann hast du diesen Husten?», schob sie nach, versuchte ein Lächeln. Maman war eine Klemmzange. Diese unscheinbare, magere Frau wurde im Alter noch anstrengender. Ihre eigenen Belange waren vorrangig. Wollte sie etwas, zeigte sie keine Bereitschaft, sich zurückzunehmen oder sich auf andere einzulassen. Ihre Mutter pochte auf Dank. Und Riri gehorchte. Kein Ungehorsam, kein Trotz, keine Rebellion. Riri hielt ihren Schwur.
«Hast du gehört, Aurélie», fragte Maman. «Frédérique will wegziehen. Was hat sie sich dabei bloss gedacht?»
Riri stockte. Es war ihrer Schwester ernst. Die Stelle gekündigt, mit Maman alles besprochen. Kiki war in Eile.
«Na und?» Riri sog die Luft durch die Zähne, hob die Schultern. Ihre Empörung, dass Kiki definitiv entschieden hatte und davon erzählte, bevor sie mit ihr beraten hatte, liess sich kaum verbergen.
«Die Neue im Büro, war eine Zumutung für Frédérique. Das hat sie nicht verdient, dass die sich vordrängelt. Das verstehe ich, dass sie nicht mehr will. Warum muss es ausgerechnet Lausanne sein, so weit weg?» Maman schniefte. «Wer schaut denn jetzt nach mir?» Wieder hustete sie.
Riri japste lautlos. Das war nicht fair. «Also Maman, ich bin ja auch da!»
«Ach Kind, das mein ich nicht so. Ich weiss doch, dass du mir hilfst.»
Riri stutzte, neigte den Kopf und lauschte auf Nebengeräusche in Mamans Aussagen. War ihr etwas entgangen? Merkwürdig, dass ihre Mutter nicht ihren Tribut forderte, dass sie auf eine brüske Äusserung nicht eingeschnappt reagierte.
Sie gab nach. «Ist ja gut. Ich komme morgen vorbei und bespreche das mit dir. Sorry, ich habe zu tun. Wünsch dir einen schönen Tag.» Riri hängte ein, ehe ihre Mutter reagierte.
Es war eine freundliche Wendung des Schicksals, dass Kiki wegzog.