Читать книгу Kiki süss-sauer - Doris Lilli Wenger - Страница 18

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Riri betrat das Heiligtum ihrer Tochter. Sie strich die Vorhänge zurück, öffnete das Fenster. Stehend sog sie den hereinquellenden Garten in sich ein. Diese Stille, sie hatte einen Ton, den sie nicht definieren konnte.

Diese Stille ist so laut

Tagsüber wirkte das Quartier wie ausgestorben. Hier in ihrer Strasse reihte sich ein Einfamilienhaus ans andere. Sie waren die Jüngsten gewesen, als sie kurz nach Sanas Geburt hier eingezogen waren. Kinderlachen hatte zwischen den Häusern gehallt, wenn sie am Morgen die Zeitung aus dem Briefkasten geholt hatte. Ihre Kleinkinder hatten viele Spielkameraden im Quartier gehabt, waren meist in Begleitung einer Schar Freunde auf dem Schulweg gewesen. Heute drohte das Viertel zu überaltern. Selten traf sie eine Nachbarin, wenn sie mit dem Fahrrad ins Dorfzentrum fuhr, um einzukaufen. Die Strasse wirkte oft wie am Anfang eines Steven-Spielberg-Horror-Films.

Jetzt lauschte sie einer Amsel, welche in einem der Bäume zu zwitschern begann. Sie drehte sich um. Ihre Augen wanderten durch den Raum, über Sanas Pult. Ein Foto von Sana, das sie nicht kannte, Arm in Arm mit einer jungen Frau mit dichten Haaren war an die Wand über dem Bett gepinnt. Mädchenjournale, Leggins, Bücher, Haarspangen und Sonnenbrillen, alles lag unübersichtlich verstreut. Sie liess ihre Tochter gewähren. Sana musste selbst herausfinden, dass Ordnung sich lohnte. Es fiel Riri schwer, ihre Hände zu zügeln.

Ihr Blick verhedderte sich an einem Stück Papier, das unter dem Bett hervorblitzte. Der Rand verziert mit lila Herzen, durchbohrt von schwarzen Pfeilen. Sie zögerte. Es war nicht ihre Art, in fremden Sachen zu wühlen.

Seit Sana vor einem Monat am Morgen erbrochen hatte, dröhnten noch immer Geräusche in ihrem Ohr, riss Dumpfheit an ihrem Magen. Unentrinnbar. Diese Beobachtung drehte den Bass lauter.

Ab wann begann ich Zimtstern zu lieben?

Riri glitt zu Boden und kniete sich mitten ins Chaos. «S+J» las sie. Sie neigte den Kopf. «Gelieb», mehr war nicht zu erkennen. Ein Buch verdeckte die folgenden Buchstaben. Mit spitzen Fingern fummelte sie an dem Zettel, klaubte ihn anfänglich zaghaft, dann entschlossen hervor. Es war ein Heft, vollgeschrieben mit Sanas Handschrift.

«Geliebter. Das war so schön in seinen Armen. Ich möchte bei ihm sein. Seine Haut auf meiner. Es fühlte sich so fremd und eigenartig an. So schön. So ist das also. Ich rede mit niemandem über das, was passiert ist. Am liebsten würde ich hier weggehen. Das ist so Scheisse hier. Niemand interessiert sich für mich. Ich spüre seine Hände auf meiner Haut. Wann sehe ich ihn wieder …»

Die Schrift schwamm vor Riris Augen. Diese Worte waren nicht für sie geschrieben. Ihr Herz tat weh. Während der Pubertät sah vieles anders aus, als es wirklich war. Doch dass Sana sich so einsam fühlte, liess ihr Gummiband erzittern.

Warum war sie nie weggegangen? Warum hatte sie den Mut nicht gehabt, sich ihrer Mutter zu widersetzen? Ein Tropfen fiel auf das Blatt und drohte das Gekritzel zu verwischen. Waren das ihre Tränen? Sie fuhr sich übers Gesicht, presste den Zipfel ihres T-Shirts auf den Text, um ihn zu trocken. Dann hob sie den Kopf zum Himmel.

Ich will raus, raus aus diesem Gefängnis

Ihre ganze Kindheit über hatte sie weggewollt. Irgendwohin, wo keiner sie kannte. Selbst Winterthur war ihr zu klein, zu spiessig gewesen. Sie hatte nie das Urbane gesucht, wollte hinaus in die Natur, in die Weite. Sie träumte von Finnland. Das Land der vielen Seen, der Wälder und Polarlichter. Die Dunkelheit der Winternächte faszinierte sie ebenso wie die Endlosigkeit der Sommertage. Stundenlang hatte sie sich Bücher darüber in der Bibliothek ausgeliehen, jede Diaschau in der Region besucht, wöchentlich die Publikationen in der Buchhandlung Vogel besucht.

Sogar Kater Petz kannte sie, welcher im Bücherladen zu Hause war. Er kam angerannt, begrüsste sie mit hocherhobenem Schwanz, schmeichelte ihr um die Füsse und spielte mit ihren Schuhbändeln, wenn sie mittwochs durch Bildbände stöberte. Sie hatte alles gelesen, was sie in die Finger bekam. Solange sie denken konnte, verzehrte sie sich nach Abgeschiedenheit, nach Raum und Stille. Sehnsucht schlich sich in Riris Herz.

Ich verschwinde einfach

Als sie Alain kennenlernte, erzählte sie ihm davon, versuchte, ihn mit ihrer Schwärmerei anzustecken. Erfolglos. Als eingefleischter Sonnenanbeter konnte er sie nie verstehen.

Immun gegen drängelnde Touristen, lärmende Kinder und aufdringliche Strandverkäufer lag er stundenlang am Meer in der brütenden Hitze und liess sich braten. Er bekam nie Sonnenbrand. Sie hatte ihre Visionen aufgegeben, ertrug jedes Jahr mit x-tausend anderen den Stau und fuhr in den Süden. Wo waren all ihre Träume geblieben?

Nie wieder

Sie stand auf, fühlte sich müde und ausgelaugt. Sie liebte Alain, sie liebte ihre Kinder, das Haus, ihr Leben. Konnte das, was sie für ihre Schwester und ihre Mutter fühlte, als Liebe bezeichnet werden? Es gelang ihr nicht, eine Antwort zu finden.

Die Frage langweilte sie.

Riri wollte nicht mehr. Dieser Rucksack, den sie mit sich herumschleppte, war schwer geworden.

«Ich will nach Finnland», sagte sie laut, «als Belohnung.» Sie betrachtete das Heft am Boden, es war ihr aus der Hand gerutscht.

Röte sprenkelte ihr Dekolleté. Sie schob das Buch unter Sanas Bett, legte das Heft sorgfältig an seinen Platz zurück. Ungefähr so wie es zuvor gelegen hatte.

Schritte klapperten durch Riris Kopf und der Geruch von Desinfektionsmittel benebelte sie. Gestärkte Laken rieben auf ihrer Haut.

Die Klinik. Die Klinik hatte rosa Wände.

Sana hatte einen Freund. Riri gefiel es, dass ihre Tochter von Hand schrieb. Sie hatte angenommen, dass Jugendliche nur noch virtuelle Kanäle nutzten.

Hatte sie mit ihm geschlafen? Sie war vierzehn. Wusste ihre Tochter, was nötig war? Hatte sie ihr alles erzählt, genügend aufgeklärt? Riri wurde ungeduldig, ihre Nerven zerrten an ihr. Sie hatte keine Zeit zu verlieren.

Mein Schicksal - Ich will es Sana nicht weitergeben

Kiki süss-sauer

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