Читать книгу Kiki süss-sauer - Doris Lilli Wenger - Страница 8
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ОглавлениеDas Haus roch nach frischem Kaffee, als Kiki die Küche ihrer Mutter betrat. Auf Riri war Verlass. Ihre Schwester hatte Croissants mitgebracht und sass mit Maman am Esstisch. Briefe und Papierbögen voller Grundrisse pflasterten einen Weg durch das Frühstück.
Maman lachte über eine Bemerkung von Riri, welche Kiki nicht verstanden hatte. Riri lächelte, bückte sich über einen der Pläne und zeichnete mit dem Schreiber einer Linie entlang.
Der Duft, die Atmosphäre, die kitzelnden Sonnenstrahlen sog Kiki ein. Klebrig schimmernde Honigtropfen auf dem Teller, verstreute Krümel auf den Papieren, das Kratzen des Stiftes vermischt mit dem Summen einer suchenden Fliege.
Die Hand von Maman auf Riris Arm.
Kiki fühlte sich mittendrin. Gleichwohl in sich selbst gefangen. Als stünde sie unter einer Glasglocke, drückte sich die Nase an der Scheibe platt und sehnte sich in diese märchenhafte Szene. Sie fühlte sich weggesperrt und bedeutungslos.
Sie kannte diese stachlige Enge. Warum war sie nicht wie Riri?
Egal was Kiki tat, sie verglich es mit dem, was ihre Schwester tat, tun würde oder getan hätte. Und egal wie sie es drehte und wendete, ihre eigene Handlungsweise, ihre eigene Art, mit Problemen, Schwierigkeiten, sogar mit Schönem umzugehen, schnitt im Vergleich durchgehend schlechter ab.
Sie war es leid. Zum Glück war Vater nicht hier. Nicht mehr hier. Er hatte ihr täglich ihr Unvermögen bewusst gemacht.
Ungenügend
Riri hob den Kopf und zuckte. Ihre Bewegung fror ein. Die Stimmung kippte.
«Hallo.» Riri zog die Stirn kraus. «Seit wann stehst du da und beobachtest uns?» Sie erhob sich, griff unaufgefordert nach einer Tasse, bediente den Automaten.
Wie mich diese ungefragte Beflissenheit nervt
Ohne ein Wort übernahm Kiki den angewärmten Platz an der Seite von Maman, lehnte sich an sie. So fühlte sie sich sicher. Daheim. Angekommen. Ihre Mutter hielt immer zu ihr, strich jetzt zärtlich mit den Knöcheln über ihre Wange, ihr Blick liebkoste sie.
«Du siehst gut aus.» Maman schnupperte in Kikis langen, rötlichbraunen Haaren. Die volle Aufmerksamkeit galt ihr.
Riri schaute ihnen zu. Sie war nur noch die kleine Schwester.
«Der Nachbar will bauen.» Riri zeigte mit dem Daumen nach nebenan.
Interesse flackerte in Kiki auf.
«Daniel, der Sohn, hat die Liegenschaft übernommen. Er will vergrössern, bevor sie einziehen. Er hat drei Kinder», erklärte Riri.
«Drei Kinder?» Kikis Braue wölbte sich. «Spielte er nicht schon früher dauernd mit Puppen?»
Die drei Frauen schauten sich an und unangekündigt brach die alte Leere wieder auf.
Kiki dachte an Maurice und Marcel Bucher und zog ihre dünne Jacke enger, legte ihre Hände um die heisse Henkeltasse. Die beiden Jungs, welche während ihrer Jugend im spiegelverkehrten Haus gewohnt hatten und in der Schulzeit ihre besten Spielkameraden gewesen waren - sie fehlten ihr noch immer. Sie hatten bei jeder Gelegenheit gemeinsam draussen gespielt. Im Geräteschuppen, der täglich andere Schätze bereithielt und auf dem grossen Ahorn, auf welchem sie später ihre Hütte gebaut hatten.
Während hier in diesem Haus oft eisiges Klima herrschte, galt bei Buchers nebenan ein einladendes, herzliches und warmes Miteinander.
Und dann der Schock über die unvorhergesehene Scheidung und den Verkauf des Hausteils. Diese Öde, als ihre Freunde plötzlich fort waren und sie in der Verständnislosigkeit zurückgelassen hatten. Dieses Nichts war jäh wieder da.
Kiki beugte sich vor, neigte den Kopf zum offenstehenden Fenster und guckte hinüber zu Nachbars Anwesen. Die Fensterscheiben spiegelten das Blattwerk. Sie wäre gerne dort drüben aufgewachsen, in diesem temperamentvollen, lustigen und netten Heim. Sie lauschte. Sehnsüchtig, erwartungsvoll, ob da nicht lärmendes Rufen nach ihr erklingen würde. Doch das Haus stand still und stumm.
Riri und Kiki war es schwergefallen, sich an die neuen Anwohner zu gewöhnen. Obwohl sie später dankbar mit Babysitten von Daniel ihr karges Taschengeld aufgebessert hatten.
«Sie erweitern den Wohnbereich und oben richten sie einen zusätzlichen Raum ein.» Riris Stimme hallte in der Kälte ihrer Einsamkeit. «Sie werden den Affenbaum fällen.»
Kiki stockte. Flatternd kehrte sie in die Gegenwart zurück.
«Den Affenbaum? Unseren Affenbaum? Das werden sie nicht machen. Wir erlauben das nicht, oder Maman?» Ihre Pupillen blitzten. «Maman bitte! Niemals werden wir einwilligen, dass das gemacht wird?» Sie vergass zu atmen, ihre Stimme kratzte, Tränen glänzten.
Dieser Baum war ihre Heimat. Der knorrige Ahorn und in dessen Krone ihr selbsterrichtetes Nest. Zu viert hatten sie unzählige Nachmittage damit verbracht, Bretter zu suchen und bei den umliegenden Bauern nach geeignetem Material nachzufragen. Mit einer Schubkarre hatten sie endlos Holz transportiert, um in wochen- und monatelanger Arbeit ihren Zufluchtsort zu zimmern. Ob sie traurig waren oder wütend, fröhlich oder blossgestellt, es war eine Pflanze, ein Baum, der sie aufnahm, ihr Seelentröster wurde. Und ihre Freunde waren dort meist anzutreffen. Oft hatten die Brüder sich ihren Kummer angehört und mit ihrer überschäumenden Energie, mit ihrer Sorglosigkeit, mit ihrer Fantasie alles Schwere vergessen gemacht.
Den umständlichen Ablauf, wie sie den Riesen erkletterten, hatten sie niemandem preisgegeben. Kein anderes Kind und kein Erwachsener schaffte es, ihn zu erklimmen. Es war ein gemütlicher Horst da oben: ein Teppichresten, eine Holzkiste als Tisch, Kissen als Sitzgelegenheiten. Maurice und Marcel organisierten sogar einen Elektroofen mit Verlängerungskabel für frostige Tage.
Ein Stoffaffe bewachte von Anfang an den Eingang. Als Türsteher zeigte er Untenstehenden an, ob jemand oben war. Und er tröstete nicht nur die Mädchen. Darauf kam Kiki erst nach dem grossen Bruch.
Ihm hatte der Ahorn seinen Namen zu verdanken.
Nach dem Wegzug der Buchers war nichts mehr wie zuvor. Nach und nach vereinsamte der Bretterverschlag, hing schief und verlassen in den Ästen. Kiki fiel auf wie hoch der Baum mittlerweile geworden war. Ungewöhnlich nahe kam er den Mauern. Der Wipfel stand weit über dem Giebel und das Laub beschattete die südliche Fensterfront.
Logisch, wenn ein neuer Besitzer hier Hand anlegen würde.
Kiki sah, dass Riri sich über die geplanten Veränderungen freute.
Verständnislos.
«Es ist Zeit.» Riri betrachtete ihre Nägel. «Zeit, die alten Zeiten, alt sein zu lassen.» Sie seufzte und unvermittelt schnellte ihr Kopf hoch. «Kiki, sieh her! Es gibt einen Holzbau, das geht flott und der Umbau steht. Unser Grundstück wird davon nicht beeinträchtigt. Im Gegenteil, es wird mehr Licht geben.» Riri wirkte gespannt und eisern. Ihre Wangen blieben blass.
«Bist du verrückt!», rief Kiki. «Das ist unsere Kindheit, das sind unsere Wurzeln, das ist unser Baum. Tu nicht so, als wäre es dir egal. Du wirfst unsere Zeit fort wie lästiger Müll.» Ihre Hand fegte über den Tisch und hätte beinahe Geschirr mitgerissen. «Einfach so? Du bist so oberflächlich!»
Riri stand stramm. Als hätte Kiki ihr einen Krug Wasser übergegossen.
Oberflächlich? Riri mangelte es nicht an Tiefgang. Da hatte sie vielleicht etwas weit gegriffen. Egal. Zu allem Überdruss spürte sie, dass Riri sie am liebsten in die Arme genommen und beruhigt hätte. Sie wollte nicht besänftigt werden. Jetzt nicht. Sie wollte Streit. Damit kannte sie sich aus. Das beherrschte sie erstklassig.
«Maman, sag auch mal was!» Ihre Mutter war ihre Verbündete gegen Riri.
Maria Dunon blinzelte Kiki zu. «Wenn du ihn so liebst, dann müssen wir mit Daniel und seiner Familie reden. Sie dürfen das nicht ohne unsere Einwilligung, oder Aurélie?» Mamans Antlitz war wie aus Wachs, als sie sich Riri zuwandte. Graue Frisur im bläulichen Ton, Kukidentlächeln. Jedes Detail sass. Sie hätte in sämtliche Senioreninserate gepasst. Mit Dackelaugen und ehrenhaftem Strahlen.
Kiki entspannte sich.
«Maman!» Riris Wangen überzogen sich mit zartem Rot. «Das haben wir soeben besprochen. Wir werden nicht wieder in dieses Riesending hochklettern. Kiki nicht und du nicht. Also was soll das?»
Wunderbar. Riri wurde wütend. Kiki bog auf die Ziellinie ein und holte abermals aus: «Du mit deiner arroganten Art. Findest alles grossartig, was andere tun. Ständig sagst du ja, bist einverstanden und nett. Wehrst du dich auch einmal? Für etwas, das dir wichtig ist?» Sie blitzte ihre Schwester an.
Riri schluckte. Langsam drehte sie sich zur Spüle weg. Kiki fragte sich zum x-ten Mal, wo ihre Schwester ihre Beherrschung hernahm. Was ging in dieser Frau vor?
«Ist das ein Problem für dich? Willst du mir nicht helfen? Ist das zu viel verlangt, Aurélie?» Die Stimme von Maman schnitt einen tiefen Graben. Die Werbemiene war aus ihrem Gesicht gewichen, triefte nun vor Anklage und Erwartung.
«Natürlich nicht, natürlich nicht.» Riris Spannkraft erschlaffte, sie liess die Schultern hängen, stützte sich mit den Armen ab.
Kiki lehnte zurück. Das Abholzen würde sich nicht verhindern lassen. Der Baum wuchs auf dem Nachbargrundstück und der Eigner durfte machen, was er wollte. Der Stamm sah morsch aus. Die Gefahr, dass der Wind künftig nicht mehr nur folgenlos mit den Blättern spielen würde, war offensichtlich.
«Ich werde hingehen und ein gutes Wort für dich einlegen. Aber ich verspreche gar nichts», sagte Riri atemlos und mit angestrengtem Lächeln.
Kiki runzelte die Stirn, das ging ihr zu glatt. «Sag denen, sie sollen sich eine andere Lösung für ihr Problem ausdenken!», stichelte sie.
«Warum machst das nicht du?», Riris Wut bellte.
«Wie bitte? Riri? Du weisst, ich schaff das nicht. Für solche Sachen bist du genau die Richtige.» Kikis Gesicht kopierte Mamans Werbemimik. «Ausserdem habe ich keine Gelegenheit, ich arbeite den ganzen Tag.» Sie grinste, als sie Riri den Waschlappen würgen sah. Händereibend setzte sich ihre Schwester.
Gemeinsam schwiegen sie.
Riri fand wieder Worte. «Dieser wunderbare Ort. Es ist so schade, dass er nur von alten Menschen bewohnt wird.»
«Ich bin nicht alt.» Maman betonte jedes Wort. Langsam. Sie biss sich auf die Lippen. Ein untrügliches Zeichen, dass sie beleidigt war.
Fettnäpfchen!
Riri war aussergewöhnlich vorhersehbar.
«Ach Maman, so meine ich das nicht.» Riri schüttelte ihre schwarzen Locken.
Ihre Mutter wickelte sich Kikis Strähnen um ihre knochigen Finger.
«Maman kann nicht ausstehen, wenn Gören lärmen. Dieser Bau wird unser Heim kaputt machen.» Kiki wollte nicht einlenken, noch nicht. «Nichts soll sich verändern, ich möchte, dass es so ist wie früher. Weisst du nicht, wie reizend unser Garten ist?»
«Kiki!» Riris Haut leuchtete nun vor Wut. «Jetzt schau dir diese Unterlagen an. Ihr seid beide verrückt.»
Der Lappen flog auf den Tisch und Riri verliess, ohne auf eine Reaktion zu warten, die Küche.