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Der Boss saß in Sing-Sing

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Von Cedric Balmore

Ich stoppte vor der Tür, die Ted Guinns Namen trug. Es war eine schäbige Officetür in einem schäbigen Officegebäude. Als ich klopfte, löste sich ein Krümel Fensterkitt aus dem Scheibenrahmen und bröckelte zu Boden.

Niemand antwortete. Ich sah, daß der lose Kitt sich zu anderem Bodenschmutz gesellt hatte. Anscheinend befanden sich die Putzfrauen des alten Kastens in Streik, oder die verbliebenen Mieter waren nicht mehr in der Lage, für die Reinigungskosten aufzukommen. Ich hatte das Gefühl, daß bei einem stärkeren Klopfen das ganze Haus zusammenfallen würde.

Trotzdem versuchte ich es noch einmal. Im Inneren des Office rührte sich nichts.

Ich drückte behutsam die Türklinke nach unten. Die Tür war unverschlossen. Ich öffnete sie und trat ein. Das Büro des Privatdetektivs entsprach genau meinen Erwartungen. Es paßte in diese triste Umgebung. Die Möbel machten den Eindruck, als seien sie von Ted Guinn auf einer Auktion in den Slums erstanden worden. Die brandneue Schreibtischlampe nahm sich in diesem Office wie ein Fremdkörper aus.

»Hallo!« rief ich.

Stille.

Ich näherte mich dem Schreibtisch. Auf ihm lagen nur ein Stapel anrüchiger Magazine und eine Zeitung von heute. Auf der Schreibtischunterlage aus grünem Linoleum befand sich der feuchte kreisrunde Abdruck einer Flasche oder eines Glases.

Ted Guinn mußte noch vor wenigen Minuten hier gewesen sein. Die Flasche paßte zu ihm. Jeder, der ihn kannte, wußte, daß er seit langem nichts so dringend brauchte wie eine Alkoholentziehungskur.

Übrigens wäre es falsch gewesen, von seinem Büro auf die Lage seiner Finanzen zu schließen. Soviel mir bekannt war, gehörte Ted Guinn zu den wenigen Männern seiner Berufssparte, die stets beschäftigt waren.

»Hallo!« rief ich erneut, ohne recht zu wissen, was ich mir davon versprach. Vielleicht lag es daran, daß ich das Gefühl hatte, nicht allein zu sein. Dabei war es ganz offensichtlich, daß sich Ted Guinn nicht in seinem Office befand. Vielleicht war er zur Toilette gegangen. Ich schaute mich um. Ein verblichener Samtvorhang trennte die kleine Kochnische von dem relativ großen Büroraum ab. Ich zog den Vorhang zur Seite. Mein Herz machte einen jähen schmerzhaften Sprung.

Der Mann hing an einem dicken Hanfseil von der Decke herab. Unter ihm lag ein umgestoßener Stuhl. Eine leere Flasche verriet, daß die Flasche billigen Bourbon enthalten hatte. Es hatte den Anschein, als sei der Flascheninhalt außerstande gewesen, Ted Guinn neuen Lebensmut zu geben.

Ted Guinn war tot.

***


Professor Amos Sorensen fuhr heftig zusammen, als der Unbekannte ihm plötzlich in den Weg trat.

Professor Sorensen neigte nicht zur Schreckhaftigkeit, aber da er tief in Gedanken versunken war, brachte ihn das unerwartete Geschehen völlig aus dem seelischen Gleichgewicht.

Der Fremde lächelte maliziös. Er war knapp vierzig Jahre alt und hatte ein schmales gebräuntes Gesicht mit grauen, intelligent wirkenden Augen.

»Feuer?« fragte der Fremde und schob eine Zigarette zwischen seine Lippen.

Professor Sorensen klopfte seine Taschen ab. Er lächelte zerfahren und bedauernd. »Tut mir leid, Sir — Nichtraucher!«

Der Fremde sagte weder danke noch traf er Anstalten, den Weg für den Professor freizugeben. »Sie werden schon eine Lösung für meine Probleme finden«, meinte er. »Darauf sind Sie doch spezialisiert.«

Amos. Sorensen blinzelte. Seine Verwirrung nahm zu. Was wollte dieser Mensch von ihm?

»Ich sagte Ihnen doch...« begann er.

»Schon gut, vergessen Sie es«, fiel ihm der Fremde ins Wort. »Setzen wir uns in meinen Wagen.«

Professor Sorensens Verblüffung wurde von einem heraufziehenden Ärger abgelöst. »Weshalb sollte ich mich zu Ihnen setzen?« fragte er. »Treten Sie bitte zur Seite, und halten Sie mich nicht auf!«

Der Fremde warf seinen Kopf in den Nacken und lachte. Professor Sorensen lief bei diesem Lachen ein Frösteln über den Rücken. Natürlich war es unsinnig, vor dem Unbekannten Furcht zu empfinden — aber genau das war es, worunter Professor Sorensen plötzlich litt.

Er schaute sich unwillkürlich um. Die stille Villenvorortstraße war nur mäßig belebt. Immerhin — es waren genug Leute in der Nähe, die ihn hören, konnten, falls er gezwungen werden sollte, um Hilfe zu rufen. Dabei wußte er genau, daß er gar nicht der Mann war, dem so etwas einfallen würde. Er schüttelte dieses fremde und unangenehme Furchtgefühl ab und sagte sich, daß es keinen Grund gab, die Haltung zu verlieren.

Der Unbekannte beruhigte sich. Er lächelte nur noch amüsiert. Eigentlich sah er ganz normal und sogar gepflegt aus. Die Krawatte paßte zum Anzug, der Hut mit der schmalen Krempe stammte aus einem guten Geschäft.

»Sie sind doch Professor Sorensen, nicht wahr?« fragte der Fremde.

»Ja«, meinte der Professor. Die Tatsache, daß der Fremde seinen Namen kannte, stärkte ihm den Rücken. Sie erlegte ihm die Pflicht auf, sich würdevoll und überlegen zu zeigen. »Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«

»Nennen Sie mich meinetwegen Joe«, sagte der Mann grinsend. »Einfach Joe!«

»Hören Sie...«, begann der Professor, aber der Fremde fiel ihm ins Wort.

Er lächelte nicht mehr. Sein Grinsen war verschwunden. Er sah hart und entschlossen aus. »Sie hören mir jetzt zu!« sagte er scharf. »Oder legen Sie wert darauf, daß Vicky . etwas zustößt?« Professor Sorensen war es zumute, als rammte ihm jemand einen Balken in die Kniekehlen. Er hatte auf einmal Mühe, sich auf den Beinen zu halten. »Vicky!« murmelte er. »Was ist mit ihr? Warum erwähnen Sie meine Tochter?« Der Mann beobachtete zufrieden, welche Wirkung seine Worte ausgelöst hatten. »Kommen Sie«, sagte er und schob seine Hand unter den linken Arm des Professors. Mit sanftem Zwang geleitete er ihn zu einem sandgelben Dodge, der am Straßenrand parkte.

Professor Sorensen registrierte benommen, daß am Steuer des Wagens ein junger dunkelhaariger Mann saß, der eine Sonnenbrille trug. Der Fahrer schien sich nicht im geringsten für Sorensen und dessen Begleiter zu interessieren. Er wandte nicht einmal, den Kopf, als sich die beiden Männer in den Fond setzten. Auf dem Lenkrad trommelte er den Rhythmus zu der Musik, die aus dem Autoradio drang.

»Stell den Quatsch ab!« befahl der Mann, der sich aufatmend neben Sorensen in die Fondecke lehnte.

Der Mann am Lenkrad zuckte mit den Schultern und gehorchte. Er drehte sich auch diesmal nicht um.

Gangster, schoß es Sorensen durch den Sinn. Es war für ihn ein völlig neues Erlebnis. Er hatte beruflich auf eine distanzierte unwirkliche Weise viel mit diesen Leuten zu tun gehabt — aber persönlich hatte er noch kein Mitglied der Unterwelt kennengelernt. Er legte auch jetzt keinen Wert darauf, dieses Versäumnis nachzuholen, aber offensichtlich wurden die Ereignisse nicht länger von ihm und seinem freien Willen bestimmt.

»Ich habe das vorhin nicht ganz absichtslos gesagt, das mit dem Feuer und der Lösung, die Sie als Wissenschaftler finden müßten«, meinte der Mann neben Sorensen. »Ein Mann Ihres Talents meistert doch wohl jedes Problem, oder?«

Professor Sorensen zwang sich zur Ruhe. Es hatte keinen Sinn, aufzubrausen. Er mußte sich ruhig und überlegen zeigen.

»Sie erwähnten meine Tochter«, sagte er, ohne auf die Worte des Fremden einzugehen. »Was ist mit ihr?«

»Das hängt ganz von Ihnen ab.«

Professor Sorensen wurde leichenblaß. Messerscharfe Logik gehörte zu seinem mathematischen Talent, aber in praktischen Tagesfragen hatte er es oft schwer, diese Begabung unter Beweis zu stellen.

»Wo ist sie jetzt?« fragte er. Sein Herz klopfte. Er wußte genau, welche Antwort ihn erwartete.

»Die schöne Vicky befindet sich in unserer Gewalt«, sagte der Mann lächelnd.

Er sprach leise und sanft, als erzählte er ein Märchen. »Sie sehen das Mädchen nur lebend wieder, wenn Sie auf unsere Bedingungen eingehen.«

***


Der Strick, an dem der Tote hing, war an einem Lampenhaken befestigt.

Ted Guinn trug einen verknitterten Anzug aus dunkelblauem Mohair und eine verrutschte Krawatte mit bunten Popmotiven.

Selbstmord. Alles deutete darauf hin. Trotzdem fiel es mir schwer, daran zu glauben.

Ted Guinn hatte oft genug davon gesprochen, daß er dieses Leben zum Kotzen fände und nur auf den Tag wartete, an dem er endlich den Mut aufbringen würde, sich ins Jenseits abzusetzen. Aber es war ihm so ergangen wie den meisten, die immer wieder vom Aufhängen sprechen: Niemand hatte ihm geglaubt. Trotz seiner Depressionen und seines Menschenhasses hatte er das Leben geliebt. Vielleicht war er in einem Anfall geistiger Umnachtung der oft von ihm zitierten Versuchung erlegen. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Er hatte mich sprechen wollen. Dringend. Er hatte mir nicht am Telefon zu sagen gewagt, worum es sich handelte. Er hatte mich darum gebeten, erst nach Schluß der offiziellen Bürozeit zu ihm zu kommen — durch den Hintereingang des alten Gebäudes.

Jetzt war er tot!

Ein Zufall? Möglich. Ich hatte jedenfalls nicht vor, an einen solchen Zufall zu glauben, es sei denn, die weiteren Ermittlungen ließen keinen anderen Schluß zu.

Ich bückte mich nach der Flasche. Der Boden war trocken.

Ich schaute in das Spülbecken und entdeckte darin nur eine Kaffeetasse. Ich probierte, ob ihr Durchmesser zu dem feuchten Ring auf der Schreibtischunterlage paßte und stellte fest, daß dies nicht der Fall war.

Ich holte mir einen zweiten Stuhl aus dem Büro, stellte ihn vor den Toten hin und kletterte auf die Sitzfläche. Ich näherte meine Nase Ted Guinns Mund. Er roch deutlich nach Alkohol — aber wenn mich nicht alles täuschte, dann hatte Ted vor seinem Tod Gin getrunken. Der süßliche Geruch gebrannten Wacholders war unverkennbar.

Ich brachte den Stuhl an seinen alten Platz zurück und wählte die Nummer der Mordkommission.

***


»Auf welche Bedingungen?« fragte Professor Sorensen. Er erschrak vor seiner eigenen Stimme. Sie klang fremd, belegt und unmännlich. »Ich bin kein reicher Mann«, fuhr er erregt fort. »Was erwarten Sie von mir?«

»Wir wissen, was Sie verdienen«, sagte der Gangster. »Mit fünftausend pro Monat sind Sie nicht schlecht dotiert, aber das neue Haus hat Ihre Ersparnisse aufgefressen — und Vicky ist ja auch nicht gerade billig.«

Professor Sorensens Furcht wurde vorübergehend von einem neugierigen Staunen abgelöst. Er hatte bislang geglaubt, ein stiller Gelehrter zu sein, dessen Arbeit zwar Anteilnahme und sogar öffentliches Interesse fand, von dessen Privatleben jedoch niemand Kenntnis nahm. Offenbar hatte er sich getäuscht. Diese Burschen waren glänzend über ihn informiert. Die Erwähnung von Vickys Namen brachte ihn in Rage.

»Wenn Sie dem Mädchen auch nur ein Haar krümmen...!«

Er konnte nicht weitersprechen. Die Hand des knapp Vierzigjährigen landete plötzlich mitten in seinem Gesicht, kurz, scharf und schmerzhaft.

Professor Sorensen blinzelte. Er merkte, daß ihm Tränen in die Augen getreten waren. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben geschlagen worden zu sein. Es war ein Schock für ihn, daß ihm das ausgerechnet jetzt widerfuhr, im dreiundfünfzigsten Lebensjahr, im Zenit seiner Entwicklung. Zorn und Scham trieben ihm das Blut in die Wangen, aber er war vor Erregung außerstande, ein Wort hervorzubringen.

»Wir sind es, die hier die Bedingungen stellen, Professor«, sagte der Gangster. »Ich rate Ihnen, es nicht zum Äußersten kommen zu lassen. Ich bin ein friedfertiger Mann — solange man mich nicht reizt. Sie fangen leider an, mich zu ärgern. Offenbar haben Sie noch immer nicht begriffen, in welcher Lage Sie sich befinden. Vicky ist Ihre einzige Tochter — neben Ihrer Arbeit der Inhalt Ihres Lebens. Wenn Sie Vicky nicht verlieren wollen, müssen Sie auf unsere Bedingungen eingehen. Übrigens kann ich Sie beruhigen. Vickys Entführung hat nichts mit Geld zu tun. Wir sind an Ihren Dollars nicht interessiert. Wir wünschen etwas anderes von Ihnen. Eine wissenschaftliche Leistung.«

Professor Sorensen schwieg. Seltsamerweise verdichteten die Worte des Gangsters seine Furcht. Das hatte zweierlei Gründe. Erstens wußte er nicht, ob er in der Lage sein würde, die Forderungen der Männer zu erfüllen. Zweitens hatte er eine durchaus reale Einstellung zum Wert gewisser Erfindungen. Er wußte, daß sie oft genug Millionen und sogar Milliarden für diejenigen einbrachten, die sie kommerziell aus werteten.

»Kommen Sie zur Sache, bitte«, sagte der Professor mit spröder Stimme.

»Es handelt sich um ein Gerät, das Sie schon vor geraumer Zeit entwickelten und vervollkommneten«, meinte der Gangster. »Soviel mir bekannt ist, wird es in dem Ray-Silver-Prozeß eine wichtige Rolle spielen.«

»Ich habe viele Geräte entwickelt«, stellte der Professor ungeduldig fest. »Sie müssen sich präziser ausdrücken. Mit dem Fall Silver bin ich nicht vertraut. Ich bin Wissenschaftler und kein Jurist.«

»Ich spreche von der sogenannten Aktivierungsanalyse«, meinte der Gangster. »Wie ich hörte, ist es möglich, mit ihr fast jeden Täter zu überführen.«

»Nur unter bestimmten Voraussetzungen«, sagte Professor Sorensen.

»Wenn ich jetzt auf Sie schießen und als Verdächtiger verhaftet würde, aber es gäbe weder Zeugen noch würde man die Tatwaffe bei mir finden, weil ich sie vernichtet habe — was würde dann aufgrund Ihrer Aktivierungsanalyse geschehen?« fragte der Gangster.

Professor Sorensen legte die Stirn in Falten. »Nach einem Pistolenschuß bleiben auf dem Rücken der Schußhand winzige Spuren von Barium und Antimon zurück«, erklärte er widerwillig. »Beim Abschuß eines Gewehres finden sich diese Spuren auch im Gesicht des Täters. Man kann mit Hilfe der Aktivierungsanalyse bei einer Hautuntersuchung des Verdächtigten feststellen, ob er als Täter in Frage kommt.«

»Na, großartig!« spottete der Gangster. »Und die Sache funktioniert einwandfrei?«

»Fehlergebnisse sind objektiv undenkbar.«

»Wie ich hörte, läßt sich dieses System auch auf ein Dutzend anderer Sachgebiete anwenden«, sagte der Gangster. »Sogar auf die Eigenart des menschlichen Körpergeruchs.«

»Gewiß«, nickte Professor Sorensen. »Dabei wird sozusagen die wissenschaftliche Anwendung dessen praktiziert, was uns die Spürhunde mit ihrer feinen Witterung täglich demonstrieren. Ich habe dafür eine große Kunststoffröhre entwickelt, in die der Verdächtigte hineingelegt und förmlich abgeschnüffelt wird. Das geht Im einzelnen so vor sich: Ein kalter Luftstrom streicht über den Verdächtigten hinweg, belädt sich mit seinen verschiedenen Gerüchen und wird anschließend in eine Filteranlage geleitet. Hier nimmt ein Ölfilm die Geruchsstoffe auf, so daß sie einer chemischen Analyse zugeführt werden können. Das Resultat ist eine präzise Geruchscharakteristik der untersuchten Person, die sich mit einer Luftprobe aus dem Mordzimmer vergleichen läßt. Man geht dabei von dem Umstand aus, daß jeder Raum ein spezifisches Geruchsaroma hat.«

»Aber das ist keineswegs schon alles, nicht wahr?« fragte der Gangster mit mildem Spott.

»Nein«, erwiderte Professor Sorensen. »Sie können mit meiner Methode sogar feststellen, wie viele Schüsse der mutmaßliche Täter abgegeben hat. Sie können auch durch Haar- und Stoffanalysen nach einem Neutronenbeschuß ersehen, wie...«

»Danke, das genügt«, fiel ihm der Gangster ins Wort. »Sie haben bewiesen, daß sich mit den Früchten Ihrer Arbeit viele Verbrechen auf klären lassen. Nun werden Sie einfach den Spieß umkehren und den Bullen zeigen, daß Ihre Methode Schwächen hat.«

»Aber sie hat keine Schwächen, sie ist völlig ausgereift!« rief Professor Sorensen.

»Na, na, nun machen Sie mal ’n Punkt. Es gibt keine Waffe, für die die Wissenschaft nicht sehr rasch eine Gegenwaffe entwickelt. Genau das erwarten wir von Ihnen. Sie werden sich den Kopf ein wenig zerbrechen und uns für den Silver-Prozeß die notwendige Munition liefern.«

»Ich verstehe wirklich nicht, worauf Sie hinauswollen«, log Professor Sorensen mit schwacher Stimme. Er hatte längst begriffen, was man von ihm erwartete.

»Und ich bildete mir ein, daß Leute wie Sie eine schnelle Auffassungsgabe besäßen!« höhnte der Gangster. »Mann, ist es denn so schwer zu kapieren, was wir wollen? Alles deutet klar darauf hin, daß man Ray Silver mit Hilfe Ihrer blöden Aktivierungsanalyse zu überführen versucht. Er hat nur dann eine Chance auf Freispruch, wenn wir den Beweis liefern, daß Ihre Methode nichts taugt. Sie werden uns diesen Nachweis liefern!«

»Das kann ich nicht!«

»Jedes System hat irgendwo eineñ schwachen Punkt.«

»Nicht die Aktivierungsanalyse nach ihrem jetzigen Stand«, beharrte der Professor. »Sie vergessen, daß ich sie nicht im Alleingang erfunden oder entwickelt habe. Viele Köpfe haben dazu beigetragen. Diese Leute wissen so gut wie ich, daß die Methode hieb- und stichfest ist.«

»Oh, das täte uns leid für Vicky«, sagte der Gangster.

Professor Sorensen schluckte. »Sagen Sie mir, wo sie ist und wie es ihr geht, bitte!«

»Regen Sie sich nicht auf«, meinte der Gangster. »Noch hát sie nichts zu befürchten. Sie ist übrigens ein aufregendes Girl. Kaum zu glauben, daß ein Eierkopf wie Sie ihr Vater ist. Mann, hat das Mädchen eine Figur. Ga.nz zu schweigen von ihrer Larve. Wirklich Klasse. Vicky wirkt älter als neunzehn — finden Sie nicht auch, Professorchen?«

Ein Schatten fiel über Sorensens Züge. Er liebte seine Tochter. Aber gerade deshalb gab es auch einige Dinge, die ihm Kummer bereiteten. Vicky war zu gefallsüchtig. Der Professor fand, daß sie sich zu stark schminkte und zu modisch kleidete. Sie genoß es, daß die Männer ihr nachblickten, und sie war überzeugt, eines Tages beim Film zu landen.

Obwohl Professor Sorensen mit heimlichem Stolz zugeben mußte, daß Vicky schön genug war, um neben anderen Stars bestehen zu können, machten ihm Vickys Ambitionen oft genug Angst. Film und Hollywood — das waren für einen Mann seines Schlages fremde Weiten. Er konnte sich nicht vorstellen, daß er Vicky eines Tages an sie verlieren könnte.

Das FBI! durchzuckte es Sorensen. Ich muß mich an ihn wenden. Er ist für diesen Fall zuständig und wird uns helfen. Der Gangster neben Sorensen schien zu fühlen, was in dem Professor vorging.

»Es ist klar, daß wir ein paar Vorkehrungen getroffen haben, um keinen Ärger zu bekommen«, sagte er. »Ab sofort wird Ihr Haus und Ihr Arbeitsplatz überwacht. Wir werden Sie bei Tag und bei Nacht beschatten. Ihr Telefon ist angezapft worden. Sie haben keine Chance, sich ungefährdet mit der Polizei in Verbindung zu setzen. Wenn Sie es trotzdem versuchen sollten, ist es um Vicky geschehen.«

»Hören Sie doch bitte endlich damit auf, diese schrecklichen Dinge zu sagen«, murmelte der Professor. Er schwitzte und begann zu zittern. Aber er war sicher, daß der Gangster bluffte.

»Ich will Sie nicht quälen«, höhnte der Gangster. »Sie bekommen Ihre Tochter zurück. Den Preis dafür kennen Sie. Wann liefern Sie uns das geforderte Material?«

»Ich bilde mir ein, ein guter Wissenschaftler zu sein«, sagte Professor Sorensen schwer atmend. »Was erwarten Sie von mir? Daß ich mir irgendwelchen Humbug aus den Fingern sauge? Das würde Ray Silver nicht helfen. Meine Kollegen würden meine Argumente mühelos zerpflücken. Es gibt Dinge und Erkenntnisse, die man nicht aüs der Welt diskutieren kann. Die Atombombe ist explodiert. Es gibt niemanden, der diesen Tatbestand mit Theorien aus der Welt schaffen kann.«

»Sie können es«, meinte der Gangster. »Sie müssen nur lange genug darüber nachdenken. Wenn Sie nach Hause kommen, werden Sie auf Ihrem Schreibtisch einen Umschlag vorfinden, der eine Kopie von Ray Silvers Anklageschrift enthält. Vertiefen Sie sich in das Papier, und denken Sie daran, daß es jetzt von Ihnen abhängt, was aus Vicky wird. Nur wenn Sie es schaffen, die Anklage zu entkräften, indem Sie den Indizienbeweis der Aktivierungsanalyse zerpflücken, bekommt Vicky die Chance, die sie zum Weiterleben braucht.«

»Niemand kann sich selbst widerrufen!« sagte Sorensen.

»Es verlangt Größe... oder Gerissenheit!« meinte der Gangster und grinste matt. »Ihre Lage ist wenig beneidenswert, Mr. Professor. Sie müssen sich von einem Ihrer Kinder trennen. Entweder von dem geistigen oder dem leiblichen. Wenn ich an ***Ihrer Stelle wäre, fiele mir die Wahl leicht!«

Ich öffnete die Schublade von Ted Guinns Schreibtisch. Viel war nicht darin. Zerlesene Magazine, einige Taschentücher, eine kleine Kundenkartei mit Codeeintragungen, zwei volle Flaschen Beefeater-Gin.

Soviel ich wußte, hatte Ted Guinn niemals Bourbon angerührt. Wenn man Guinn heißt, muß man Gin trinken, hatte er häufig gesagt. Aber wo war die leere Ginflasche geblieben, aus der er zuletzt getrunken hatte? Sie mußte den runden feuchten Abdruck auf der Schreibtischunterlage hinterlassen haben!

Ich setzte mich. Ted Guinn war tot. Er war nicht viel älter als fünfunddreißig geworden. Alles deutete darauf hin, daß man ihn ermordet hatte.

Ted Guinn war ein Mann mit einem außerordentlichen Spürsinn gewesen, was die Fälle seiner Klienten betraf. Den eigenen Mörder hatte er entweder gar nicht, oder zu spät erkannt. Was hatte er mir sagen wollen?

Begonnen hatte Ted Guinn als Anwalt. Aus Gründen, die ich nicht kannte, hatte er eines Tages den Beruf gewechselt und war Privatdetektiv geworden. Ein sehr guter sogar. Von Berufsethik und dergleichen hatte er freilich nicht viel gehalten. Es war oft genug passiert, daß er objektiv die Sache des Unrechts gefördert hatte, nur weil ihm ein Klient oder eine Klientin sympathisch war.

Im Korridor ertönten Schritte. Sie kamen rasch näher und machten vor der Tür halt. Hinter der Milchglasscheibe zeichneten sich deutlich sehr weibliche Konturen ab. Im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet, ohne daß die Besucherin es für notwendig erachtete, vorher anzuklopfen.

Sie stoppte auf der Schwelle, als sie mich an Ted Guinns Schreibtisch sitzen sah. Ich erhob mich langsam und gab mir Mühe, mein Erstaunen zu meistern.

Das Girl wirkte in dieser Umgebung wie ein kostbarer Brillant in Blechfassung. Sie verdiente es, gründlich und mit Kennermiene betrachtet zu werden. Sie war jung, elegant und von strahlender Schönheit.

»Hallo!« sagte sie atemlos. Es schien, als hätte sie den Weg zum Office des ermordeten Privatdetektivs im Sturmlauf zurückgelegt.

Ich nickte nur und war froh, daß ich den Samtvorhang wieder geschlossen hatte. Das Mädchen konnte Ted Guinn nicht sehen. Sie zog die Tür hinter sich zu und trat näher. Ich registrierte, daß sie ein teures, exklusives Parfüm benutzte. Überhaupt machte sie rundherum den Eindruck, nicht mit dem Dollar geizen zu müssen.

Ich schätzte sie auf zweiundzwanzig. Möglicherweise war sie auch jünger. Für meinen Geschmack hatte sie zuviel Make-up aufgelegt, aber mit einem Gesicht ihres Formates konnte dabei nicht viel schiefgehen.

Sie starrte mich an, eher neugierig als feindselig, aber zweifellos sehr kühl und distanziert.

»Ich hatte Sie mir anders vorgestellt«, sagte sie.

Mir dämmerte, daß sie mich für Ted Guinn hielt. Ich wollte den Mund öffnen, um den Irrtum aufzuklären, aber in diesem Moment geschah etwas, das bei mir eine Schrecksekunde auslöste.

Das Girl holte mit raschem, sicherem Griff eine Pistole aus ihrer Handtasche. Die Art, wie sie mit der Waffe umging und sie auf mich richtete, ließ erkennen, daß sie nicht zum erstenmal damit hantierte.

»Nehmen Sie die Hände hoch, und machen Sie keine falsche Bewegung!« sagte sie. Ihre dunkle, leicht belegt klingende Stimme war ohne Erregung oder Hysterie. Sie klang fest und bestimmt.

»Ich fürchte, hier liegt ein Irrtum vor«, sagte ich. »Ich bin nicht Ted Guinn.«

»Haben Sie nicht gehört, was ich sagte? Sie sollen die Hände heben!«

»Ich bin Jesse Trevellian vom FBI«, sagte ich, ohne ihre Aufforderung zu befolgen.

»Und ich bin die Geheimagentin Null-Null-Sex«, spottete sie. »Hoch mit den Greifern!«

Das kaum wahrnehmbare kalte Funkeln in ihren großen langbewimperten Augen gefiel mir nicht. Ich hielt es für besser, das Mädchen nicht zu reizen und hob die Hände.

»Treten Sie mit dem Gesicht zur Wand!« kommandierte das Mädchen. »Da — stellen Sie sich neben den Vorhang.«

»Hätten Sie Lust, mal einen Blick dahinter zu werfen?« fragte ich sie. »Ted Guinn ist tot. Er hat sich aufgehängt.«

Taktische Gründe bewogen mich dazu, diese Worte zu äußern. Ich wollte sehen, wie das Girl darauf reagierte. Gleichzeitig kam es mir darauf an, Zeit zu gewinnen. In fünf oder zehn Minuten mußte die Mordkommission eintreffen. Ich legte Wert darauf, das Girl zu diesem Zeitpunkt noch hier zu haben.

In dem schmalen, rassigen Mädchengesicht regte sich nichts. »Ich bin in Eile«, sagte sie. »Wenn Sie nicht spuren, muß ich Sie zu meinem Bedauern mit einer Kugel anfeuern.«

Ich machte ein paar Schritte auf die Wand zu und blieb dann stehen.

»Legen Sie die Hände flach auf die Tapete!« forderte das Mädchen mich auf. »Höher. Ja, so ist’s gut.«

Ich rechnete damit, daß sie hinter mich treten und versuchen würde, mir den Dienstrevolver abzunehmen. Aber sie begnügte sich damit, die Schubladen des Schreibtisches zu öffnen und ihren Inhalt zu untersuchen.

Obwohl ich dem Mädchen meinen Rücken zukehrte, konnte ich in der Spiegelung des Fensters genau erkennen, was die Besucherin tat. Sie durchblätterte die alten, zerlesenen Magazine. Als sie etwa die Mitte des dritten Heftes erreicht hatte, stoppte sie.

Meine Augen verengten sich, als ich sah, wie sie aus dem Magazin einen fast handbreiten Filmstreifen herausnahm. Wenn mich nicht alles täuschte, handelte es sich um die von einer durchsichtigen Papierhülle geschützten Abschnitte eines Mikrofilms. Das Girl hielt die Hülle gegen das Licht und schob sie dann in ihre Handtasche. Sie erledigte das alles mit der linken Hand. Mit der Pistole in der rechten Hand hielt sie mich in Schach.

»Haben Sie gefunden, was Sie suchten?« erkundigte ich mich ungeduldig und stellte mir gleichzeitig die Frage, was der Film enthalten konnte. War Ted Guinn ermordet worden, weil er in einen Spionagefall verwickelt war?

»Sie können sich wieder umdrehen«, sagte das Mädchen. Sie kam auf mich zu. »Aber lassen Sie die Hände oben.« Ich befolgte die Aufforderung des Mädchens ohne Eile. Wie sich im nächsten Moment herausstellte, war das ein verhängnisvoller Fehler von mir. Meine forcierte Langsamkeit hatte zur Folge, daß ich die schöne Unbekannte zwei, drei Sekunden aus dem Blickfeld verlor. Diese winzige Zeitspanne genügte dem Mädchen, eine kleine Spraydose aus ihrer Handtasche zu holen und auf mich zu richten. Das Ding glich in jedem Detail einem harmlosen Parfümzerstäuber. Noch ehe ich begriffen hatte, fegte der feine scharfe Nebel in mein Gesicht.

Ich hielt sofort die Luft an, weil ich glaubte, das Girl wollte mich mit einem betäubenden Gas außer Gefecht setzen. Als ich das scharfe, schmerzhafte Brennen in meinen Augen spürte und nichts mehr sehen konnte, wußte ich, daß der Sprühnebel nur die Aufgabe hatte, mich vorübergehend zu blenden.

»Lassen Sie die Hände oben!« sagte das Girl -drohend. Ich riß den Mund weit auf, um die Schmerzen in meinen Augen kompensieren zu können. Tränen liefen mir über die Wangen. Ich konnte nichts mehr sehen.

»Ich gehe rückwärts zur Tür«, sagte das Girl. »Wenn Sie versuchen sollten, mich zu stoppen oder Ihren Revolver zu ziehen, werde ich abdrücken!«

Ich hörte, wie sie gegen den Schreibtisch stieß. Dann öffnete sie die Tür. Im nächsten Moment eilte das Girl auf klickenden Absätzen durch den Korridor davon.

Ich legte die Hand vor die Augen. An eine Verfolgung war nicht zu denken. Ich tastete mich zu dem Vorhang, riß ihn zur Seite und erreichte das Spülbecken. Ich hielt das Gesicht unter den aufgedrehten Wasserhahn und bemühte mich, die scharfe, ätzende Flüssigkeit aus meinen Augen zu spülen. Als ich endlich, wenn auch nur blinzelnd und zwinkernd, meine Umgebung erkennen konnte, waren seit der Flucht des Mädchens mindestens drei Minuten vergangen. Es hatte keinen Sinn, ihr zu folgen.

Ich war stocksauer. Kein Mann hat es gern, von einem jungen Mädchen in dieser Weise aufs Kreuz gelegt zu werden. Ich schwor mir, diese Schlappe schon bald wieder wettzumachen.

Die Officetür stand noch offen. Ich hörte Schritte und Stimmen und trat vor die Tür.

Lieutenant Allan Brigh hob grinsend die Hand, als er mich sah. Er führte mit dem Polizeiarzt Doc Richards den kleinen Trupp von Kriminalbeamten an.

Allan-Brigh war der einzige Offizier der Mordkommission, der nie seine gute Laune verlor und selbst angesichts einer Leiche vergnügt vor sich hin summen konnte. Böse Zungen behaupteten, daß er ein Zyniker sei, dem jeder Mord Vergnügen bereitete. Aber das war natürlich Unsinn.

Der rotblonde sommersprossige Lieutenant war nur frei von mißverstandener Pietät. Er war ein tüchtiger Kriminalist, der nicht einsah, daß etwa ein Schuß Heiterkeit den Ernst seines Jobs trüben könnte.

»Hallo, Jesse«, begrüßte er mich. »Wo ist der teure Verblichene?«

Wir betraten das Office. Während ich Doc Richards die Hand schüttelte und den anderen zunickte, gingen die Fotografen an ihre Arbeit. Das eingespielte Team brauchte vorerst keine Fragen zu stellen. Jeder Handgriff saß.

»Was ist denn mit Ihnen los?« erkundigte sich der Doktor und betrachtete meine geröteten Augen.

»Eine sehr attraktive Besucherin hat sie auf ihre Weise geschärft«, sagte ich und berichtete, was mir zugestoßen war.

Brigh trat an die offene Schreibtischschublade. »Hat sie Fingerabdrücke zurückgelassen?«

»Nein, sie trug dünne Baumwollhandschuhe.«

Brigh wandte sich dem Toten zu? Ich erklärte ihm, warum ich nicht an Selbstmord glaubte. Der Lieutenant nickte und sagte: »Er hat sich nicht selber aufgehängt. Sehen Sie die nach oben stehenden Borsten des Hanfseils? Das spricht dafür, daß der Strick belastet war, als man ihn an dem Haken befestigte. Mit anderen Worten: Guinn hing bereits daran, als man ihn aufknüpfte.«

»Einer allein dürfte das nicht geschafft haben«, sagte ich. »Ted Guinn war kein Leichtgewicht.«

Lieutenant Brigh pfiff leise vor sich hin. Er dachte ein bißchen nach, stellte sein Pfeifen ein und meinte dann: »Ich würde sogar soweit gehen, ihn als schweren Jungen zu bezeichnen.«

»Kannten Sie ihn?«

»Flüchtig. Er hat uns manchmal Ärger gemacht. Im Grunde war es ein Wunder, daß er nicht seine Lizenz verloren hatte«, sagte Brigh.

»Er war nicht kriminell«, sagte ich. »Würden Sie die Hand für ihn ins Feuer gelegt haben?« fragte Brigh skeptisch. »Ich will nicht behaupten, daß er schlecht war. Aber er war labil. Er war nicht sehr wählerisch, wenn es um die Erfüllung eines Auftrages ging. Er ist oft genug in der Gesellschaft sehr fragwürdiger Typen gesehen worden.«

»Zum Beispiel?«

»Mit Eisen-Harry und Burt Ross. Ich könnte die Liste beliebig fortsetzen.«

»Kein feiner Umgang«, gab ich zu, »aber wir müssen ihm zubilligen, daß diese Kontakte möglicherweise seiner Arbeit dienlich waren.«

»Das hat er immer behauptet, aber ich glaube nicht, daß es ihm nur um Informationen ging. Es gibt nicht nur die brutale Unterweltsschicht — es gibt auch einen Kreis von Illegalen, der sehr witzig und geistvoll ist. Schwindler und Betrüger der White-Collar-Gruppe. Hochintelligente Leute. Ich glaube, daß Ted Guinn sich sehr wohl zwischen ihnen gefühlt hat.«

»Der Tod dürfte ungefähr vor einer Stunde eingetreten sein, so gegen zwanzig Uhr«, sagte Doc Richards, der eine erste flüchtige Untersuchung vorgenommen hatte.

»Läßt sich schon erkennen, wie das Ableben unseres Sherlock Holmes zustandegekommen ist?« fragte der Lieutenant. »Vieles spricht dafür, daß er seinen hellen Kopf nicht ganz freiwillig in die häßliche Schlinge gesteckt hat.«

»Näheres wird die Obduktion ergeben«, meinte der Arzt und steckte sich eine Zigarette an. »Äußere Spuren von Gewaltanwendung sind nicht sichtbar. Würden mich die Herren jetzt bitte entschuldigen? Ich habe Gäste zu Hause.« Ich nickte. »Lassen Sie vor allem Ted Guinns Mageninhalt untersuchen und feststellen, was er getrunken hat«, bat ich den Polizeiarzt.

Richards war bereits auf dem Weg zur Tür. »Sie bekommen schnellstens eine Kopie meines Berichtes zugestellt. Gute Nacht, meine Herren.«

Lieutenant Brigh setzte sich auf die Schreibtischkante. »Was wollten Sie eigentlich von Guinn?« erkundigte er sich. »Warum kamen Sie her?«

»Er wollte etwas von mir«, stellte ich richtig. »Ted Guinn bat mich telefonisch um meinen Besuch. Er wirkte nicht aufgeregt, aber sehr ernst. Guinn sagte, daß es sehr wichtig sei, daß ich aber erst nach Büroschluß zu ihm kommen sollte — am besten so gegen einundzwanzig Uhr. Genau das habe ich getan.«

»Glauben Sie, daß er singen wollte und deshalb sterben mußte?« fragte Brigh.

Ich zuckte mit den Schultern. »Es ist zu früh, um irgendwelche Hypothesen aufzustellen. Fest steht, daß wir herausfinden müssen, wer das Girl war und was der Mikrofilm enthielt.«

»Eins verstehe ich nicht«, meinte Lieutenant Brigh. »Warum haben der oder die Mörder den Film nicht gleich itgenommen?«

»Dafür gibt es zwei Erklärungen. Entweder besteht zwischen Ted Guinns Ermordung...«

»Mutmaßlicher Ermordung!« fiel mir ler Lieutenant korrigierend ins Wort. »Meinetwegen. Ganz wie Sie wollen. Entweder besteht zwischen Guinns Tod und dem Filmdiebstahl kein direkter Zusammenhang, oder Guinns Gegner haben, was ich für wahrscheinlicher halte, ihre Arbeit genau aufgeteilt. Ich glaube, daß die Killer den Weg für das Mädchen und ihren Auftrag freigemacht haben. Jedenfalls war das Girl nicht überrascht, als ich sie mit der Nachricht von Ted Guinns Tod konfrontierte.«

»Sie haben recht, Jesse. Wir müssen das Girl finden. Sie ist der Schlüssel zu dem Verbrechen...«

»Zu dem mutmaßlichen Verbrechen«, warf ich spöttisch ein.

Brigh grinste. »Meinetwegen. Aber wie sollen wir an sie herankommen? New York wimmelt nur so von hübschen Girls,- die der Puppe gleichen dürften.«

»Ich wage zu bezweifeln, daß von dem Mädchen viele Kopien herumlaufen. Sie hat Klasse. In gewisser Hinsicht ist sie einmalig. Aber natürlich verkenne ich nicht die Schwierigkeiten bei der Fahndung. Ich könnte eine genaue Beschreibung des Mädchens liefern und mit Hilfe unseres Zeichners sogar ein brauchbares Porträt von ihr anfertigen lassen. Trotzdem wird es schwer sein, damit zum Erfolg zu kommen. Eine Zeichnung ist keine Fotografie. Außerdem wissen wir nicht einmal, ob die Puppe aus New York stammt. Allerdings spricht sehr viel dafür.«

»Zum Beispiel?«

»Die Art, wie sie gekleidet war. Kein Hauch von Provinz.«

»Den werden Sie auch bei einem Girl aus Frisco oder Chicago nicht entdecken«, meinte Brigh.

»Zugegeben, aber sie hatte das, was ich mit New Yorker Flair bezeichnen möchte.«

»Die Kleine hat’s Ihnen angetan, was?« fragte Lieutenant Brigh grinsend.

Ich massierte mir die noch immer schmerzenden Augen mit den Fingerspitzen. »Ich brenne darauf, sie wiederzusehen«, sagte ich.

***


Jemand ging hinter uns. Ich spürte es genau.

Ich befand mich mit meinem Freund und Kollegen Milo Tucker auf dem Weg zum Mittagessen. Wir hätten uns vorgenommen, chinesisch zu speisen. Ganz in der Nähe des District Office hatte ein neues Lokal eröffnet, von dessen Speisekarte man sich Wunderdinge zuflüsterte.

»Merkst du was?« fragte ich Milo.

»Und ob«, sagte er. »Mein Magen hängt ungefähr dort, wo die Kniekehlen sind.«

»Deine Freßgier macht dich blind. Jemand steigt uns hinterher.«

»Ein Mädchen?« fragte Milo hoffnungsvoll.

»Für wen hältst du dich eigentlich?« wollte ich wissen. »Für Cary Grant?«

»Hör auf, mich mit alten Männern zu vergleichen«, meinte er beleidigt. »Wollen wir am nächsten Schaufenster stehenbleiben?«

»Untersteh dich«, sagte ich. »Das ist ein Geschäft für Damenunterwäsche. Nehmen wir den übernächsten Laden. Der verkauft Kameras.«

Sekunden später betrachteten wir die Auslagen des Kamerageschäfts. Ich erkannte auf Anhieb, wer der Mann war, der uns folgte. Er war mit Sicherheit kein Profi, denn er benahm sich reichlich auffallend. Er blieb nur vier Schritte von uns entfernt stehen. Wie ein Schuljunge kaute er auf seinen Fingernägeln herum. In der Spiegelung der großen Kristallglasscheibe war er genau zu erkennen.

Er war nicht mehr jung. Ich schätzte ihn auf fünfundfünfzig. Er war nicht schlecht, aber ziemlich nachlässig gekleidet — wie jemand, dem es egal ist, was er auf dem Leib trägt. Er trug keinen Hut und hatte dünnes blondes Haar.

»Gehen wir weiter«, sagte ich. »Er wird uns ansprechen. Im Augenblick fehlt ihm dazu noch der Mut.«

»Er sieht nicht gefährlich aus«, meinte Milo, »aber das kann natürlich täuschen. Nägelkauer sind meistens naive Leute, ich weiß nicht warum.«

»Naivität schließt Intelligenz nicht aus«, sagte ich. »Ich tippe auf einen Eier köpf.«

Wir hatten das Lokal erreicht und sicherten uns mit einiger Mühe einen freien Tisch. Ich griff nach der Speisekarte. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, daß der Nägelkauer sich vergeblich nach einem freien Platz umschaute. Schließlich trat er an unseren Tisch. »Darf ich mich zu Ihnen setzen, bitte?« fragte er. Seine Stimme klang angenehm, ein nervöser Unterton war unverkennbar.

Milo nickte und schaute mich an. »Was nimmst du? Bambussprossen?«

»Verzeihung«, sagte der Mann leise und schaute sich kurz um. »Sind die Herren vom FBI?«

»Hm«, machte ich und legte die Speisekarte beiseite. »Können wir Ihnen helfen?«

»Ich hatte nicht den Mut, Ihr Office zu betreten«, sagte der Mann. »Amos bat mich darum, möglichst vorsichtig vorzugehen. Er fürchtet um Vickys Leben. Vicky ist seine Tochter. Sie wurde gestern gekidnappt.«

»Immer schön der Reihe nach«, sagte Milo und tat so, als ob er sich für den Inhalt der Speisekarte interessierte. »Glauben Sie, daß Ihnen jemand gefolgt ist?«

»Das hoffe ich nicht!« sagte der Mann erschreckt. Er schaute sich um und begann wieder nervös an seinen kurzen Fingernägeln herumzukauen.

»Wie heißen Sie?« fragte ich ihn.

»Ich bin Dr. Gerlinger«, erwiderte er. »James Gerlinger.«

»Arzt?«

»Nein, Wissenschaftler. Chemotechniker.«

»Angenehm«, sagte ich. »Mein Name ist Jesse Trevellian. Das ist mein Kollege Milo Tucker.«

Dr. Gerlingers Augen leuchteten wie befreit auf. »Jesse Trevellian!« sagte er. »Zu Ihnen wollte ich. Amos hat mir Ihren Namen genannt. Er erinnerte sich, ihn irgendwo einmal gelesen zu haben. Das ist wirklich ein Glück für mich.«

»Wer ist Amos — und wer ist Vicky?« fragte Milo.

»Amos ist mein Duzfreund — und mein direkter Vorgesetzter«, berichtete James Gerlinger. »Professor Amos Sorensen. Ich nehme an, daß Sie schon von ihm gehört haben. Er hat viel für die Vervollkommnung der modernen Kriminaltechnik getan. Ich bin sein Assistent. Vicky ist seine Tochter.«

Der Ober trat an unseren Tisch. Wir bestellten aufs Geratewohl eine der Speisen, die auf der Karte verzeichnet waren. »Bringen Sie uns vorher einen Tee«, bat ich ihn. Er notierte das Gewünschte und enteilte, nachdem er uns sein asiatisch-verbindliches Lächeln demonstriert hatte.

»Das Unglück passierte erst gestern abend«, berichtete uns Dr. Gerlinger. »Amos war auf dem Nachhauseweg, so gegen einundzwanzig Uhr. Ein Fremder hielt ihn auf und zwang ihn, in seinem Wagen Platz zu nehmen. Der Fremde war nicht allein. In dem Wagen, einem gelben Dodge, saß noch ein zweiter, bedeutend jüngerer Mann. Amos protestierte natürlich gegen diese unwürdige Behandlung, aber als er erkannte, daß er es mit Gangstern zu tun hatte, hielt er es für besser, zu schweigen. Der Fremde eröffnete meinem Chef, daß man Vicky entführt hätte und daß das Mädchen nur dann lebend in ihr Elternhaus zurückkehren würde, wenn Amos bereit sei, eine bestimmte Leistung für die Gangster zu erbringen.«

»Wie alt ist Vicky?« warf Milo ein. »Neunzehn. Sie ist ein sehr schönes Mädchen«, sagte Gerlinger und bekam plötzlich ganz verträumte Augen.

»Was forderten die Gangster für Vickys Freilassung?« wollte ich wissen.

Dr. Gerlinger erklärte es uns. Milo und ich hörten gespannt zu. Wir waren an Ray Silvers Verhaftung mitbeteiligt gewesen. Es überraschte uns nicht, daß der Rest von Silvers Syndikat alle Anstrengungen unternahm, ihren Boß freizuboxen.

»Amos wäre gern persönlich zu Ihnen gekommen«, fuhr Gerlinger fort, »aber die Gangster haben ihm angedroht, das Mädchen zu töten, wenn er sich mit der Polizei oder dem FBI in Verbindung setzt. Sie behaupteten, daß er überwacht würde und daß sein Telefon angezäpft worden sei. Amos wußte sich keinen anderen Rat, als mich einzuweihen und mich darum zu bitten, an seiner Stelle mit Ihnen zu sprechen.«

»Das war sehr vernünftig von ihm«, sagte ich. »Haben Sie sich die Gangster genau beschreiben lassen?«

»Nur den Mann, der als Anführer auftrat«, meinte Dr. Gerlinger. »Ich habe alle Details auf einem mitgebrachten Zettel vermerkt. Amos war sogar so klug, sich die Nummer des Dodge einzuprägen.« James Gerlinger schaute sich nochmals ängstlich um, dann holte er einen mehrfach zusammengefalteten Zettel aus seiner Brusttasche und schob ihn mir in die Hand. Als sich unsere Finger berührten, merkte ich, daß er vor Aufregung schwitzte. »Die Nummer steht ebenfalls darauf«, sagte er.

Ich nickte und steckte den Zettel ein. »Haben Sie auch ein Bild von Professor Sorensens Tochter mitgebracht?« fragte ich ihn.

»Oh, das hätte ich beinahe vergessen«, meinte Dr. Gerlinger und zog seine Brieftasche aus dem Jackett. Er entnahm ihr ein postkartengroßes Foto und legte es mit der Bildseite nach unten auf die Tischdecke. »Sie betrachten es sich am besten im Büro«, sagte er und blickte erneut ängstlich über seine Schulter. »Ich komme nicht davon los, daß wir beobachtet werden.«

Ich steckte das Foto ein, ohne es näher anzusehen.

»Amos ist völlig verzweifelt«, fuhr Dr. Gerlinger leise fort. »Anfangs war er wohl bereit, sich den Forderungen der Gangster zu beugen, aber dann sagte er sich, daß es klüger sei, das FBI auf Umwegen zu benachrichtigen. Amos ist wegen Vicky in schrecklicher Sorge. Sie ist sein einziges Kind. Amos bittet Sie, ihn durch mich mit den notwendigen Verhaltungsmaßregeln zu versorgen.«

Der Ober brachte den Tee.

»Ich bin einfach nicht der richtige Mann für diese Aufgabe«, sagte Dr. Gerlinger wie entschuldigend. »Andererseits würde ich gern alles opfern, um Vicky aus der Patsche zu helfen. Es ist für mich ein unerträglicher Gedanke, das zarte Geschöpf in der Gewalt brutaler Gangster zu wissen.«

Milo und ich wechselten einen kurzen Blick. Es war offenkundig, daß James Gerlinger in Vicky Sorensen verliebt war.

»Können wir Sie heute abend zu Hause erreichen?« fragte ich ihn.

»Ja, gewiß.«

»Besteht für uns eine Möglichkeit, mit dem Professor zu sprechen?«

»Amos, hat sich darüber lange den Kopf zerbrochen, aber er hält es für klüger, wenn Sie- vorerst darauf verzichten und mich als Mittelsmann akzeptieren. Er glaubt nicht, daß die Gangster eine Möglichkeit haben, uns im Labor zu überwachen oder zu belauschen. Allerdings traut er dem Telefon nicht über den Weg und bittet Sie darum, ihn auch an seinem Arbeitsplatz nicht anzurufen.«

»Konnte er in Erfahrung bringen, wann und wo das Mädchen entführt wurde?« fragte Milo.

»Nein, Sir«, erwiderte Dr. Gerlinger. »Er hat sich am Frühstückstisch von Vicky verabschiedet und sie seither nicht mehr zu Gesicht bekommen.«

»Gibt es eine Mrs. Sorensen?«

»Nicht mehr. Sie ist vor zwei Jahren gestorben.«

»Lebt der Professor mit seiner Tochter allein, oder gibt es Hausangestellte?«

»Er beschäftigt ein Hausmädchen — falls man eine fast sechzig] ährige Frau so nennen kann. Mrs. Latherson hält das Haus und den Garten in Ordnung. Zum Kochen hat sie natürlich bei der Größe des Grundstücks keine Zeit. Der Professor ißt in der Firma. Vicky aß bislang in der Stadt. Mrs. Latherson bereitet nur das Frühstück und das Abendessen zu, meistens kalt, soviel ich weiß.«

»Hat sie etwas von Vickys Entführung bemerkt?«

»Nein. Amos hatte nicht den Mut, die Alte davon zu unterrichten. Er befürchtet, sie könnte verrückt spielen. Amos hat ihr erklärt, Vicky sei für einige Tage zu ihrer Tante aufs Land gereist.«

»Es muß Mrs. Latherson doch aufgefallen sein, daß Vicky weder ihre Koffer gepackt noch sich verabschiedet hat«, warf Milo ein.

»Die beiden hatten sich nicht viel zu sagen«, meinte Gerlinger und senkte den Blick.

»Spannungen?« fragte ich.

Dr. Gerlinger zuckte mit den Schultern. »Offenbar. Wenn es nach Vicky gegangen wäre, hätte Amos die Alte längst entlassen müssen.«

»Warum?« wollte ich wissen.

»Das weiß ich nicht. Amos tut im allgemeinen alles, was Vicky wünscht — aber finden Sie heutzutage mal eine tüchtige Kraft.«

»Wie und wo pflegt Vicky ihre Tage zu verbringen?« erkundigte ich mich. »Hm, sie nahm Schauspielunterricht. Bei Dean Ketwood. Sie hat sehr hart an sich gearbeitet. Sie möchte zur Bühne... oder zum Film.«

»Sie muß begabt sein, wenn Ketwood sie als Schülerin akzeptiert«, meinte Milo. »Ein Schauspieler seines Kalibers gibt sich nicht mit jedem Dilettanten ab.«

»Keine Ahnung«, sagte Dr. Gerlinger, der auf einmal recht mürrisch wirkte. »Ich glaube eher, daß ihn das Honorar reizt. Er bekommt für die Stunde fünfundzwanzig Dollar.«

Ich lächelte matt. »Ich habe den Eindruck, daß Sie diese Ausgabe für verfehlt halten.«

Dr. Gerlinger lächelte gequält. »Ich will ganz offen mit Ihnen sein«, sagte er. »Ich liebe Vicky. Ich weiß, daß Ihnen das verrückt erscheinen muß. Vicky könnte meine Tochter sein. Ich bin immerhin schon neunundvierzig. Aber Überlegungen dieser Art können einen Mann nicht davon abhalten, sein Herz zu verlieren. Vicky und Amos wissen nichts davon. Ich würde niemals den Mut aufbringen, mich ihnen zu eröffnen. Diese Liebe ist etwas, mit der ich ganz allein fertig werden muß. Aber kommen wir zurück zu Vicky. Ich würde sie sofort heiraten. Sie ist eine Frau, die einen Mann glücklich machen könnte. Als Schauspielerin muß sie scheitern. Sie ist zwar schön, aber — unter uns gesagt — ihr Talent hält sich in recht bescheidenen Grenzen. Ketwood unterrichtet sie nur um des lieben Geldes willen. Täglich eine Stunde. Das sind immerhin einhundertfünfundzwanzig Dollar in der Woche.«

»Wann nimmt sie den Unterricht?«

»Das ist verschieden und hängt ganz davon ab, wann Ketwood zu seinen Proben muß. Wollen Sie mit ihm sprechen?«

»Natürlich. Auf der Suche nach Vicky Sorensens Entführern müssen wir versuchen, den Tagesablauf des Mädchens nachzuzeichnen«, sagte ich. »Hat sie 'einen Freund?«

»Davon ist mir nichts bekannt«, meinte Gerlinger. Er schaute mich an. »Ich bin mindestens dreimal in der Woche Gast im Hause Sorensen. Es geschieht dabei höchst selten, daß ich Vicky antreffe. Sie ist meistens unterwegs. Ich weiß, daß Amos sich deshalb immer große Sorgen macht — aber er hat es nie geschafft, wirklich ihr Vertrauen zu gewinnen. Der alte Generationskonflikt. Trotzdem bin ich davon überzeugt, daß Vicky ihren Vater liebt. Amos weiß nur wenig von dem, was seine Tochter tut und was sie beschäftigt. Irgendwo befindet sich zwischen den beiden eine unsichtbare Barriere. Vielleicht liegt es daran, daß Amos ein Wissenschaftler ist. Vicky ist mehr nach der Mutter geraten, die eine prominente Sängerin war. Vicky ist wie sie: phantasiebegabt und musisch. Das ist das Problem!«

Der Ober brachte das Essen.

»Ich muß gehen«, sagte Dr. Gerlinger. »Ich hoffe, Sie werden alles tun, was in Ihrer Macht steht, um Vicky und ihrem Vater zu helfen.«

»Was hältst du von der Sache?« fragte ich Milo, nachdem sich Dr. Gerlinger verabschiedet hatte.

Milo musterte mit ernstem Gesicht den Inhalt seines Tellers. »Vorhin kam mir ein phantastischer Gedanke«, sagte er.

»Nämlich?«

»Mir fiel ein, wie Dr. Gerlinger zu dem Mädchen steht, und ich fragte mich, ob er sie wohl entführt haben könnte.«

»Meinst du das im Ernst?«

Milo nickte. »Es ist doch zu spüren, wie sehr Gerlinger in sie verschossen ist. Er bestreitet das .nicht. Für einen Mann seines Alters muß es schrecklich und qualvoll sein, daß diese Liebe unerwidert bleiben muß. Könnte es nicht sein, daß er sich mit Gewalt zu holen versucht, was er auf andere Weise nicht bekommen kann?«

»Hast du ihm nicht richtig zugehört?«

»Oh, du meinst, was er von Ray Silver sagte?« Milo stocherte unlustig auf seinem Teller herum. »Das kann er den Kidnappern, die von ihm bezahlt worden sind, eingebleut haben, um das FBI auf eine falsche Fährte zu lenken. Ich kann mir einfach nicht denken, daß die Entführer auf diese Weise mit offenen Karten gespielt haben. Es widerspricht allen Erfahrungen.«

Ich überlegte und schüttelte dann den Kopf. »Nein, Gerlingers Geschichte stimmt. Er ist nicht der Typ, der ein Verbrechen auf diese Weise begehen und tarnen könnte.«

Wir kehrten ins District Office zurück. Wir gingen sofort zu Mr. McKee und erklärten ihm, was geschehen war. Ich holte das Foto aus der Tasche und überreichte es dem Chef. Der schaute es nur kurz an und legte es vor sich auf den Schreibtisch.

»Darf ich es mal sehen?« fragte Milo. Mr. McKee gab ihm das Bild.

Ich warf einen interessierten Blick auf das Foto. Mein Herz machte einen jähen harten Sprung. Ich riß Milo das Bild aus der Hand.

»He! Moment mal...«, protestierte ich. Ich starrte das Foto an. Mein Herz schlug einen dumpfen Trommelwirbel. »Das ist doch nicht möglich!«

Mr. McKee und Milo starrten mich an. Sie begriffen, daß ich etwas äußerst Ungewöhnliches entdeckt hatte.

»Du kennst sie?« fragte Milo.

Ich nickte. »Und ob ich sie kenne. Es ist das Mädchen, das den Mikrofilm aus Ted Guinns Office holte.«

***


Milos Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Wenn das stimmt, muß einer geflunkert haben«, sagte er. »Gerlinger zufolge war das Mädchen zu diesem Zeitpunkt schon entführt worden.«

»Vielleicht ist deine Version von vorhin nicht ganz so abwegig«, sagte ich. »Die Entführung — falls sie überhaupt stattgefunden hat — war nur gestellt. Sie diente dem Zweck, Vickys Abwesenheit von zu Hause zu erklären.«

»Glaubst du, daß das Mädchen mit den Gangstern Hand in Hand arbeitet?« fragte Milo ungläubig.

»Ich weiß es nicht.«

»Ihr Auftreten in Guinns Office läßt doch keinen anderen Schluß zu«, sagte Milo.

»Fest steht, daß wir uns um die Sache kümmern müssen«, sagte ich und schaute Mr. McKee an. »Teilen Sie diese Ansicht, Sir?«

Mr. McKee massierte sich mit zwei Fingern das Kinn. »Kidnapping fällt in unseren Zuständigkeitsbereich«, sagte er. »Wir müssen die von Dr. Gerlinger erstattete Anzeige ernstnehmen — auch wenn einiges dafür spricht, daß Vicky Sorensen keineswegs das bedauernswerte Opfer ist, für das Dr. Gerlinger und ihr Vater sie halten.«

Milo betrachtete hingerissen das Foto. »Und du bist sicher, daß keine Verwechslung vorliegt?«

»Nicht, wenn Dr. Gerlinger mir das richtige Bild gegeben hat«, erwiderte ich.

»Dieses Mädchen ist unverwechselbar«, murmelte Milo. »Ich muß dir recht geben.«

»Uns muß gleichzeitig interessieren, inwieweit unser alter Freund Ray Silver in diese merkwürdige Entführungsgeschichte verwickelt ist«, meinte Mr. McKee. »Nach allem, was es uns gekostet hat, ihn und sein Syndikat lahmzulegen, wäre es geradezu grotesk und unvorstellbar, daß er es schaffen könnte, die Anklage zu unterlaufen und wieder freizukommen.«

***


Wer war Vicky Sorensen?

Das beschäftigte mich fast mehr als die Frage nach ihrem gegenwärtigen Aufenthaltsort. Ich erhoffte mir von Dean Ketwood, ihrem Lehrer, ein paar wichtige Hinweise. Ehe ich zu ihm fuhr, telefonierte ich mit der Mordkommission, da Dr. Richards’ angekündigter Bericht noch nicht eingegangen war.

Man teilte mir mit, daß Ted Guinns Tod durch Erdrosselung eingetreten war. Es ließ sich nicht mehr zweifelsfrei feststellen, ob das der Strick besorgt hatte, oder ob Guinn vorher von zwei starken Händen erwürgt worden war.

Der Blutalkoholtest hatte ergeben, daß Ted Guinn vor seinem Tod stark angetrunken gewesen war. Mit 2,3 Promille konnte er seinem Mörder keinen körperlichen Widerstand entgegensetzen.

Als ich auflegte, unterrichtete mich Milo davon, daß der sandgelbe Dodge, den die Gangster benutzt hatten, gestohlen worden war. Das brachte uns also auch nicht weiter.

Ich fuhr zu Dean Ketwood und traf ihn in der Garderobe des Helen Hayes Theater an. Er war gerade dabei, sich abzuschminken. Ich fand, daß er einen ziemlich müden, mürrischen Eindruck machte und keineswegs dem Bild entsprach, das das Publikum sich von ihm machte. Unter seinen sehr blauen Augen zeigten sich die Tränensackansätze eines Mannes, der gern und viel trinkt.

»FBI«, stöhnte er und trug eine Schicht Abschminkcreme auf. »Als ob es nicht genug wäre, von den Fans belästigt zu werden. Ich habe wenig Zeit, Mister. Ich muß nach Hause, um Unterricht zu geben. Die Pflege und Ausbildung des Nachwuchses liegt mir ganz besonders am Herzen.«

»Erwarten Sie Vicky Sorensen?« fragte ich ihn.

Ich saß schräg hinter ihm auf einem Polsterhocker. Er starrte mich im Spiegel an. »Kennen Sie Vicky?«

»Das ist sie doch, oder?« fragte ich ihn und zeigte ihm das Foto, das Dr. Gerlinger uns überlassen hatte.

»Ja«, meinte er. »Das ist Vicky. Weshalb interessiert sich das FBI für sie?«

»Das erfahren Sie später. Wie gut kennen Sie das Mädchen?«

Er riß ein paar weiche Papiertücher aus einer Box und wischte sich die Creme vom Gesicht »Tja, wie gut kenne ich sie? Sie besucht mich zweimal in der Woche. Vicky ist nicht sonderlich begabt, aber sie entwickelt einen enormen Ehrgeiz. Mädchen ihres Kalibers schaffen irgendwann einmal den Durchbruch — noch eher als die wirklich Begabten.«

»Was würde sie tun, um eine Rolle zu bekommen?«

»Alles«, sagte Dean Ketwood. »Vicky würde dabei sogar über Leichen gehen.« Er zuckte leicht zusammen, als unsere Blicke sich erneut im Spiegel kreuzten. »Das dürfen Sie nicht wörtlich nehmen«, fügte er hinzu. »Es ist nur so eine Redensart.«

»Ich weiß«, sagte ich, »aber sie kennzeichnet den Charakter des Mädchens, nicht wahr?«

»Hm, ich denke schon.«

»Kennen Sie ihre Freunde?«

»Nein. Ich habe mich niemals für ihr Privatleben interessiert«, sagte er. »Das geht mich nichts an.«

»Ist sie niemals nach dem Unterricht von jemand abgeholt worden?« wollte ich wissen.

»Doch, ja«, sagte er. »Da war einmal ein Mann. Nicht mehr jung, aber ganz attraktiv, Der .dynamische Typ, wissen Sie. Golfspieler oder Reiter. Scharfgeschnittene gebräunte Züge. Und trotzdem kein Herr. Ich sah ihn vom Fenster aus. Er half Vicky in seinen Wagen.«

»Was war das für ein Wagen?«

»Ein Europäer. Ein Coupé. Kein landläufiger Typ. Ich könnte Ihnen nicht einmal die Marke sagen.«

»Würden Sie den Mann auf einem Foto wiedererkennen?« wollte ich erfahren.

»Ganz bestimmt«, sagte er. »Er war ein Typ, den man so leicht nicht vergißt. Wollen Sie mir nicht endlich verraten, was mit Vicky los ist?«

»Sie wurde angeblich entführt«, teilte ich ihm mit.

»Wieso angeblich?«

»Nach der sogenannten Entführung wurde sie gesehen — frei und ohne Begleitung.«

»Das ist ja höchst seltsam«, meinte Dean Ketwood. Er lächelte plötzlich. »Vielleicht erhofft sie sich für den großen Start ein wenig Publicity.«

Ich verschwieg ihm, daß Vickys Auftreten in Ted Guinns Office keineswegs mit Ketwoods Theorie in Einklang zu bringen war. Ich schaute mich in der Garderobe um. Sie war schmucklos und häßlich. Ich verkniff die Augen, als mein Blick auf die Tür fiel. Es war eine gewöhnliche graulackierte Stahltür. Mir schien es auf einmal so, als hätte sich an ihr seit meinem Hereinkommen irgend etwas verändert.

Dean Ketwood schwang sich auf seinem Hocker herum und blickte mir in die Augen. »Offen gestanden kann ich mir nicht vorstellen, daß Vicky krumme Sachen machen sollte«, meinte er. »Sie will Schauspielerin werden. Andere Interessen hat sie nicht. Ihr Vater erfüll! ihr jeden Wunsch. Sie hat Schmuck, Kleider und ein mehr als reichlich bemessenes Taschengeld. Es gibt für sie einfach keinen Grund, kriminell zu werden.«

Ich blickte erneut zur Tür. Plötzlich wußte ich, was mich irritierte. Das Schlüsselloch war relativ groß. Vorher hatte ich durch die Öffnung blicken und das Korridorlicht sehen können. Jetzt war das Schlüsselloch schwarz. Entweder hatte jemand im Korridor das Licht abgedreht, oder es stand jemand hinter der Tür und lauschte.

Da niemand einen Grund hatte, in dem fensterlosen Korridor das Licht auszuknipsen, tippte ich auf die Gegenwart eines interessierten Zuhörers. Möglicherweise war es ein neugieriger Ketwood-Verehrer — aber vielleicht handelte es sich auch um einen Mann, der hören wollte, welche Fragen ich dem Schauspieler stellte.

Ich schaffte es, mit drei Schritten an der Tür zu sein, ohne dabei irgendein Geräusch zu verursachen. Mit einem Ruck riß ich die Tür auf.

Der junge Mann, der gelauscht hatte, prallte zurück. Ich schätzte sein Alter auf vierundzwanzig. Er war mit einer scharfgebügelten Hose, einem auffällig karierten Sakko und einem zitronengelben Sporthemd bekleidet.

»Hallo«, murmelte er und hielt einen Schreibblock hoch. »Ich — ich wollte zu Mr. Ketwood.«

»Was ist los mit Ihnen?« fragte der Schauspieler hinter mir.

Der junge Mann grinste. »Entschuldigen Sie, Sir — ich hätte gern ein Autogramm von Ihnen.«

Dean Ketwood lächelte schablonenhaft und schaute mich an. »Da sehen Sie mal, wie es mir geht. Na, kommen Sie her, junger Mann. Haben Sie wenigstens einen Kugelschreiber dabei?« Während Ketwood seinen Namen auf den Schreibblock des jungen Mannes setzte, fragte er: »Wie sind Sie denn hereingekommen, mein Freund?«

»Ich habe mich am Portier vorbeigeschlichen«, sagte der junge Mann. »Ich bewundere Sie sehr, Sir!«

»In welcher Rolle haben Sie Mr. Ketwood denn zuletzt gesehen?« fragte ich den Besucher.

Der junge Mann starrte mich an, eher wütend als verblüfft. »Was geht Sie das denn an?« stieß er hervor.

»So unberechtigt ist die Frage gar nicht«, meinte Ketwood und sah sehr interessiert aus. »Wann und wo haben Sie mich zuletzt auf der Bühne gesehen?«

»Vor einem halben Jahr — ich habe vergessen, wie das Stück hieß«, murmelte der Besucher und nahm seinen Schreibblock mit dem Kugelschreiber wieder an sich.

»Vor einem halben Jahr war ich in England. Am Old Vic. Haben Sie mich dort gesehen?«

»Nein, nein«, sagte der junge Mann, sichtlich in die Enge getrieben. »Es war in New York. Vielleicht ist es auch ein wenig länger her.«

»Okay — es hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Mister... ?« sagte Ketwood.

»Rose. Andy Rose«, meinte der junge Mann und ging zur Tür. »Vielen Dank, Sir!«

Er stoppte, als er gegen mich prallte und zuckte herum. Ich sah das kalte Glitzern in seinen Augen, das er sofort durch ein forciertes Grinsen zu mildern versuchte.

»Pardon, Mister«, sagte er, »würden Sie mich bitte vorbeilassen?«

»Erst möchte ich einen Blick auf Ihren Ausweis werfen«, sagte ich. »Mein Name ist Jesse Trevellian, FBI.« Ich zeigte ihm meine ID-Card.

Ketwood stand auf. »Ist das wirklich notwendig?« fragte er ärgerlich. »Sie sehen doch, daß der Mann nur ein harmloser Autogrammjäger ist.«

»Ein Autogrammjäger, der sich auf raffinierte Weise in das Theater eingeschlichen hat und nicht einmal sagen kann, in welchem Stück Sie auftreten«, stellte ich fest.

Der junge Mann ließ den Schreibblock fallen. Noch ehe der Block den Boden berührte, zuckte die Linke meines Gegenübers hoch und traf meine Magengrübe. Ich jumpte zurück und riß die Deckung hoch.

Der junge Mann ging mit beiden Fäusten auf mich los. Es schien fast so, als hätte er sich vorgenommen, mich in der ersten Kampfminute von den Beinen zu holen.

Er schlug schnell, hart und ungestüm. Er pfiff dabei auf seine Deckung und war nur bestrebt, den wilden Schwung seiner Offensive beizubehalten.

Ich versuchte ihn abzublocken und steckte dabei einige harte Treffer ein. Ich konterte einigemal erfolgreich mit der Linken und schaffte es endlich, den Kampf ausgeglichener zu gestalten. Der junge Mann blinzelte, als ich ihn das erstemal voll auf das Kinn traf.

Mein Gegner begriff, daß es unmöglich war, mich mit einem Überraschungscoup auszuschalten. Er stellte sich mit einem etwas gemäßigterem Tempo auf eine längere Auseinandersetzung ein. Dabei zeigte sich, daß er eine fabelhafte Schlagtechnik hatte und eine Menge vom Boxen verstand.

»Was soll denn dieser Blödsinn?« schnappte Dean Ketwood hinter uns. »Meine Herren, ich bitte Sie...«

Ich hatte mich rasch auf seine Beinarbeit und seine Technik eingestellt. Ich ging zum Gegenangriff über und sorgte dafür, daß das Tempo erneut anzog. Der junge Mann hielt glänzend mit, aber nach zwei präzise geschlagenen Körperdoubletten, die seinen Lufthaushalt dezimierten, wurde er erheblich langsamer. Er bemühte sich, diese Vorentscheidung mit ein paar Tiefschlägen auszugleichen. Aber ich drehte mich ab und konterte hart.

Eine scharf hochgerissene Linke traf ihn voll auf defi Punkt. Er drehte sich .einmal um die eigene Achse, griff wie Halt suchend in die Luft und brach dann zusammen. Ich beugte mich über ihn und klopfte ihn nach Waffen ab. Er hatte keine bei sich — ein Taschenmesser ausgenommen.

Ich atmete mit offenem Mund. Ich war ziemlich groggy. Hinter mir sagte Dean Ketwood irgend etwas. Ich hörte nicht bin und zog dem jungen Mann die Brieftasche aus dem Jackett. Sie enthielt vierzig Dollar in Zehnernoten und einen Führerschein auf den Namen Andrew Rosell.

»Sie hätten ihn nicht so reizen dürfen«, sagte Dean Ketwood. »Ihr Mißtrauen hat ihn hochgehen lassen.«

»Soll das heißen, daß Sie ihn verteidigen?« fragte ich. »Haben Sie nicht gesehen, daß er mich angegriffen hat?«

»Natürlich habe ich das gesehen. Ich habe aber auch bemerkt, wie sehr Sie ihn mit Ihren Fragen bloßstellten und blamierten. Das war nicht fair von Ihnen. Ich bin nun mal ein bekannter Mann. Nicht alle meine Verehrer finden den Weg ins Theater...«

»Er hat gelauscht«, sagte ich. »Er wollte hören, was hier gesprochen wird. Daß mit dem Autogramm war nur eine Ausrede.«

»Jetzt geht die Phantasie mit Ihnen durch«, meinte der Schauspieler und stellte einen umgefallenen Hocker wieder auf.

Rosell kam wieder zu sich. Er stemmte sich hoch und ließ sich dann keuchend auf die Lederpritsche fallen, die eine Ecke der Garderobe ausfüllte.

»Warum haben Sie sich unter einem falschen Namen vorgestellt?« fragte ich ihn und warf ihm die Brieftasche hin.

Er starrte mich an. »Ich habe gesagt, wer ich bin. Andy Rosell! Das stimmt doch, Mr. Ketwood, nicht wahr?«

Der Schauspieler legte die Stirn in Falten. »Nicht ganz, mein Freund«, meinte er. »Sie gaben sich als Andy Rose aus. Rose — und nicht Rosell.«

»Sie haben das Doppel-l am Schluß nicht mitbekommen«, murmelte der junge Mann gekränkt.

»Irrtum, mein Freund«, sagte Dean Ketwood. »Modulationsdetails sind meine Spezialität. Sie haben eindeutig Rose und keineswegs Rosell gesagt.«

Andy Rosell setzte sich auf. »Und für Sie habe ich geschwärmt!« knurrte er.

»Schicken Sie den Kerl nach Hause«, zischte der Schauspieler wütend. »Ich kann seinen Anblick einfach nicht mehr ertragen.«

Andy Rosell blinzelte mich an. Ich schwieg.

Er erhob sich unsicher, klaubte den Schreibblock mit Ketwoods Autogramm vom Boden auf und verließ die Garderobe. Ich hörte, wie er den Korridor rasch hinabeilte.

Dean Ketwood setzte sich wieder. Er sah nachdenklich aus. »Vielleicht war es ein Fehler, ihn gehenzulassen, was?«

Ich schüttelte den Kopf und schloß die Stahltür. »Bestimmt nicht«, beruhigte ich ihn. »Ich weiß jetzt, wie er heißt und wo er wohnt. Das genügt.«

»Sie glauben, daß er Ihnen gefolgt ist und hören wollte, was ich über Vicky zu sagen hatte?«

»Das weiß ich nicht. Fest steht, daß sein Autogrammwunsch eine Finte war.«

Zehn Minuten später saß ich in meinem Jaguar und telefonierte mit dem District Office. Ich erfuhr, daß Andrew Rosell eine beträchtliche Latte von Vorstrafen hatte und erst vor zwei Monaten aus dem Gefängnis entlassen worden war.

»Für wen arbeitete er zuletzt?« erkundigte ich mich.

»Für Stan Polowsky — aber das konnte ihm nicht nachgewiesen werden.«

Ich stieß einen dünnen Pfiff aus, bedankte mich und legte auf. Stan Polowsky!

Polowsky war Ray Silvers rechte Hand gewesen — der Erfolgsmanager vieler legal arbeitender Betriebe, die der Syndikatsboß zur Tarnung seiner Unterweltorganisation besessen hatte.

Polowsky war der einzige führende Kopf des Syndikates, der die Verhaftungswelle überstanden hatte. Er hatte nachweisen können, daß er an keinen kriminellen Handlungen beteiligt gewesen war. Die von ihm geleiteten Großfirmen hatten pünktlich ihre Steuern entrichtet und waren nach allgemein gültigen kaufmännischen Prinzipien geleitet worden. Sie hatten eigentlich nur einen Schönheitsfehler: Sie waren mit illegal erworbenen Geldern gekauft und ausgebaut worden. Da es nicht möglich gewesen war, Polowsky nachzuweisen, daß ihm diese Quellen bekannt gewesen waren, hatte man auf seine Verhaftung verzichten müssen. Er leitete diese Betriebe noch immer. Er war es auch, der mit dem Profit dieser Firmen, oder doch mit einem Teil davon, die Verteidigung anheizte.

Ich war überrascht, wie schnell sich der Kreis geschlossen hatte. Polowskys Aussehen entsprach der Schilderung, die Dean Ketwood von dem Mann gegeben hatte, zu dem Vicky Sorensen einmal in den Wagen gestiegen war. Ich tätigte noch einen Anruf und fand heraus, daß Polowsky tatsächlich ein ausländisches Coupé besaß — einen Maserati.

Wenn es etwas gab, das meine Überlegungen störte, dann war es der Umstand, daß sich der Fall plötzlich so durchsichtig und einfach präsentierte.

Vicky Sorensen war mit Polowsky befreundet.

Um ihm zu zeigen, was er ihr bedeutete, hatte sie sich bereit erklärt, für ihn zu arbeiten. Sie war dabei so weit gegangen, den eigenen Vater zu hintergehen.

Es lag nahe, zu vermuten, daß sich Stan Polowsky schon vor längerer Zeit an das Mädchen herangemacht hatte, um auf diese Weise herauszufinden, ob sich mit Vickys Hilfe Professor Sorensens wichtige Fachkenntnisse für die Freilassung von Ray Silver ausnutzen . ließen.

Stan Polowsky war reich. Er .sah blendend aus. Seine vitale Art machte es ihm leicht, Frauen zu imponieren. Obwohl er fast zwanzig Jahre älter war als Vicky Sorensen, blieb nicht auszuschließen, daß sie ihm verfallen war.

Die beinahe nahtlos anmutende Kombination hatte leider einen Schönheitsfehler. Sie erklärte nicht, wieso Stan Polowsky so interessiert daran schien, seinen Boß Ray Silver freizubekommen.

Im Grunde konnte und mußte es Stan Polowsky nur recht sein, wenn Ray Silver für den Rest seiner Tage im Gefängnis blieb. Auf diese Weise bot sich Stan Polowsky die Chance, Ray Silvers Imperium einigermaßen intakt zu übernehmen. Polowsky gefährdete diese kostbare Erbschaft, wenn er Ray Silvers Prozeßgewinn betrieb.

Andererseits mußte Polowsky nach außen hin demonstrieren, wie sehr ihm an Ray Silvers Freilassung lag. Ray Silver hatte sicherlich einige mächtige Freunde, die von Polowsky solche Aktionen erwarteten.

Ich nahm mir vor, ihn gründlich beschatten zu lassen. Wenn Vicky Sorensen freiwillig für ihn arbeitete und zum Lager unserer Gegner gehörte, mußte sie sich irgendwo in Stan Polowskys Nähe befinden.

***


Stan Polowsky wechselte zum drittenmal das Taxi.

Er haßte dieses Katz- und Mausspiel, aber er sah ein, daß er zum gegenwärtigen Zeitpunkt äußerste Vorsicht walten lassen mußte. Als er den Fahrer wenig später in der Fordham Road entlohnte, glaubte er sicher sein zu können, daß ihm niemand gefolgt war. Er schaute sich noch mal kurz um und betrat dann das Haus Nummer 115.

Stan Polowsky hatte dieses Haus mit Vorbedacht für seine Zwecke gewählt. Es war gute Mittelklasse — ein zwölfstöckiger Neubau, der erst vor wenigen Wochen bezogen worden war. Die Mieter kannten sich noch nicht richtig, und bei dem beständigen Kommen und Gehen, das in dem Gebäude herrschte, wußte niemand zu sagen, ob er einen Hausbewohner oder einen Besucher vor sich hatte.

Der Lift brachte Polowsky in die vierte Etage. Er öffnete mit einem Schlüssel eine Wohnungstür, die das Namensschild »Harry Relly« trug.

Stan Polowsky schloß die Tür hinter sich, durchquerte die kleine Diele und betrat das Wohnzimmer. »Hallo, Liebling!« sagte er lächelnd. »Du siehst blendend aus.«

Er war mit wenigen Schritten an der Couch.

Vicky Sorensen unternahm keine Anstrengung, sich zu erheben. Sie trug ein schwarzes durchsichtiges Négligé und streckte ihm beide Arme entgegen. »Ich habe mich ohne dich schrecklich gelangweilt, Honey.«

Er küßte sie. Sie zog ihn zu sich herab. Er spürte, wie sich ihr junger schlanker Körper ihm entgegenspannte. Er stemmte, sich gegen das heiße Pochen, das plötzlich sein Blut erfüllte, und er machte sich behutsam von dem Mädchen los.

»Ich brauch’ erst mal einen Drink«, meinte er.

»Ist etwas schief gegangen?« fragte Vicky Sorensen erschreckt.

»Ich hoffe es nicht«, meinte er und trat an den kleinen, gut bestückten Barwagen. »Bist du so lieb und holst mir etwas Eis aus der Küche?«

Vicky Sorensen verließ das Zimmer.

Stan Polowsky blickte ihr kurz hinterher, dann entkorkte er eine Bourbonflasche und füllte zwei Gläser zu einem Drittel mit Whisky.

Vicky Sorensen kehrte zurück. Polowsky grinste verstohlen, als er bemerkte, daß sie die Zeit genutzt hatte, um ihr Make-up aufzufrischen. Sie lächelte ihm strahlend ins Gesicht und warf die Eiswürfel in das Glas.

»Ich kann nicht den ganzen Tag in der schrecklichen Wohnung bleiben — nicht ohne dich!« schmollte sie.

Er prostete ihr zu und trank. »Ah, das tut gut!« meinte er und ließ sich in einen Sessel fallen. Das Girl setzte sich zu ihm auf die Lehne. Sie sorgte dafür, daß der sanfte Druck ihres Oberschenkels sich auf seine Schulter übertrug und kraulte ihm mit einer Hand in dem blonden Nackenhaar.

»Die Wohnung ist doch schick«, sagte er. »Mit allem Komfort. Teure Möbel, eine Stereoanlage. Fernsehen. Wie kann man sich da bloß langweilen?«

»Dreimal darfst du raten!« hauchte Vicky Sorensen. Sie beugte sich zu ihm hinab und begann an seinem Ohr herumzuknappern.

»Ich bin ein vielbeschäftiger Mann«, protestierte er schwach. »Ganz im Ernst. Wenn ich nicht im Büro bin, geht alles drunter und drüber.«

Was er sagte, klang nicht sehr überzeugend. Er hob seinen Kopf. Das Mädchen kam ihm mit ihrem Mund entgegen. Polowsky ließ plötzlich das Glas fallen. Seine Hand preßte sich auf Vickys Bein. Er erhob sich so abrupt, daß das Girl fast von der Lehne gefallen wäre.

Er nahm Vicky Sorensen auf die Arme. Als er sie zur Couch trug, mußte er sich auf seinen Orientierungssinn verlassen. Er konnte nichts sehen, da Vicky ihre Lippen auf seinen Mund preßte und alles tat, um die Schlagzahl seines Herzens noch weiter zu erhöhen.

Er warf sie auf die Couch und legte sich neben sie. Vicky Sorensen klammerte sich an ihn fest, als wollte sie ihn nie wieder loslassen.

»Du bist ein stürmisches Mädchen«, keuchte er.

»Ich liebe dich«, sagte Vicky Sorensen. »Ich kann nichts dafür, daß meine Liebe ein Sturm ist.«

Er kapitulierte und ließ sich in den Strudel der Gefühle reißen, den Vicky Sorensen immer wieder in ihm aufzuwirbeln verstand.

Plötzlich schien es Stan Polowsky, als wäre er mit Vicky nicht mehr allein im Raum. Er hatte den Wunsch, den Kopf zu heben und einen Blick über seine Schulter zu heben, aber das Girl hielt ihn so fest umklammert, daß eine heftige Anstrengung notwendig gewesen wäre, um dieses Ziel zu erreichen. Er gab es auf und überließ sich der Wärme, der Erregung und der Zärtlichkeit des Augenblicks. Er lauschte dem Flüstern von Vickys Stimme und vergaß, was ihn gestört hatte.

Im nächsten Augenblick durchzuckte ihn ein wilder, scharfer Schmerz. Es war, als würde sein Nervenzentrum von einem Blitz getroffen.

Er bäumte sich auf, fiel aber sofort wieder in sich zusammen. Er wollte schreien, aber ihm fehlte jede Kraft.

Er wußte, daß alles aus war.

Er wußte, daß es keine Rettung mehr für ihn gab. Diese Erkenntnis lähmte ihn. Der Schock verband sich mit einem häßlichen rostigen Geschmack in seinem Mund.

Dann kam der Schrei, grell und hysterisch. Er stammte nicht von ihm, er kam aus dem Mund des Mädchens.

Stan Polowskys Denken und Fühlen zerfaserte.

Der Schrei ebbte in seinem Bewußtsein ab wie eine allmählich auslaufende Sirene. Polowsky wurde ohnmächtig. Es war nur eine kurze Ohnmacht.

Ihr folgte der Tod.

***


Vicky Sorensen empfand die Last des steif und schwer werdenden Männerkörpers wie ein Tonnengewicht. Sie blickte mit weit aufgerissenen Augen an Polowskys Kopf vorbei und sah, wie der maskierte Fremde zur Tür ging, ohne Eile, beinahe gelassen. Der Schrei des Mädchens glitt an ihm ab, er veranlaßte ihn nicht einmal zu einem Zusammenzucken.

Vicky Sorensen sah, daß der Mann einen dunklen Anzug trug. Billige schwarze Baumwollhandschuhe hatte er über seine Hände gestreift. Der Mann verließ das Zimmer. Kurz darauf fiel die Wohnungstür ins Schloß, leise, diskret.

Vicky Sorensen arbeitete sich zitternd unter dem Männerkörper hervor. Sie sah, daß ihre rechte Hand blutverschmiert war.

»Stan!« wimmerte sie. »Stan!«

Der Mann rührte sich nicht. In seinen weit offenen, starren Augen hockte der Tod. Das Girl zwang sich zur Ruhe. Der Angriff hatte nicht ihr gegolten. Sie war nicht gefährdet. Trotzdem hatte sie Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Sie trat an den Barwagen und entkorkte die Bourbonflasche. Sie nahm einen Schluck daraus und schaute dann zitternd zur Couch hinüber.

Das Messer steckte bis zum Heft in Stan Polowskys Rücken. Vicky Sorensen nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche. Sie versuchte sich über die Konsequenzen des Geschehens klarzuwerden. Sie schaffte es nicht, ihren Gedanken eine klare Richtung zu geben. Sie liefen auseinander wie aufgescheuchte Kaninchen.

Vicky Sorensen bemerkte, daß ihre blutverschmierte Hand Abdrücke auf der Bourbonft&sche zurückgelassen hatte. Sie ging mit der Flasche ins Badezimmer, wusch sich die Hände und spülte die Flasche ab. Sie nahm sich Zeit dabei. Es war beruhigend, das kalte Wasser über die Hände laufen zu lassen. Wenn man die Augen schloß und abschaltete, konnte man sich einbilden, daß alles nur ein böser Traum gewesen sei.

Das Klingeln des Telefons ließ das Girl zusammenzueken. Sie trocknete sich die Hände ab und stellte fest, daß eine leichte Rötung auf dem weißen Frottierstoff zurückblieb. Spuren, Spuren, Spuren. Würde sie die Nerven haben, sie gründlich und rechtzeitig zu beseitigen?

Vicky Sorensen betrat das Wohnzimmer. Ihr Atem kam flach und gepreßt. Sollte sie das Gespräch annehmen? Der Apparat klingelte unaufhaltsam. Das Läuten zerrte an ihren Nerven. Vicky Sorensen gab sich einen Ruck. Sie nahm den Hörer ab. »Ja?« fragte sie.

»Ich bin’s, Joe«, sagte eine Männerstimme am anderen Leitungsende. »Geben Sie mir Stan, bitte. Es ist wichtig.«

»Stan ist nicht hier«, sagte Vicky Sorensen. Die Antwort entsprach keiner Überlegung, sie kam ungewollt über die Lippen.

»Dann muß er gleich kommen«, sagte Joe. »Sagen Sie ihm bitte, er soll mich anrufen. Es ist sehr wichtig.«

»Ja, ich sage ihm Bescheid«, flüsterte Vicky Sorensen.

»Was ist denn los mit Ihnen?« fragte der Anrufer plötzlich. »Sie wirken so — so...« Er führte den Satz nicht zu Ende, da ihm keine treffende Formulierung in den Sinn kam.

Vicky Sorensen riß sich zusammen. Sie mußte jetzt die Nerven behalten, sonst war alles verloren. »Ich langweile mich«, behauptete sie. »Ich bin es nicht gewohnt, den ganzen Tag in der Wohnung zu sitzen.«

»Es dreht sich doch bloß um ein paar Tage, höchstens um eine Woche«, meinte der Anrufer. »Vergessen Sie es bitte nicht, Vicky: Stan soll anrufen, sobald er bei Ihnen aufkreuzt. Ich bleibe solange am Telefon.«

»Wais ist, wenn er nicht kommt?«

»Oh, er kommt bestimmt«, versicherte der Anrufer. »Stan hat mir gesagt, daß er zu Ihnen fährt. Eigentlich müßte er schon dort sein.«

Es klickte in der Leitung. Der Anrufer hatte aufgelegt. Vicky Sorensen ließ den Hörer auf die Gabel fallen. Sie machte kehrt, holte das Handtuch aus dem Bad und stopfte es in den Müllschlucker. Danach trocknete sie die Bourbonflasche mit einem Kleenextuch ab. Sie genehmigte sich einen weiteren Schluck und kehrte in das Wohnzimmer zurück. Es gab keinen Zweifel, sie saß in der Patsche. Warum hatte sie Joe Bradley nicht die Wahrheit gesagt? Sie brauchte ihn. Er mußte ihr helfen.

Sie blickte auf die Uhr. Sie brauchte mindestens eine weitere Viertelstunde, um ihren Fehler wiedergutzumachen, vorher konnte sie Bradley nicht anrufen. Was aber sollte sie ihm sagen, wenn er ungeduldig wurde und sich nochmals telefonisch meldete?

Zehn Minuten verstrichen. Vicky Sorensen hielt es nicht länger aus.

Sie rief Bradley an. Er meldete sich sofort. Vicky begann zu schluchzen. Das fiel ihr nicht schwer, denn sie befand sich am Rande eines nervlichen Zusammenbruchs.

»Beruhigen Sie sich, Vicky«, sagte Joe Bradley. »Was ist denn geschehen?«

»Er ist tot, Joe«, stieß das Girl hervor. »Jemand hat ihn erstochen!«

»Was denn? Sprechen Sie von Stan?«

»Ja. Er liegt auf der Couch, mit einem Messer im Rücken«, sagte das Girl schluchzend. »Sie müssen herkommen, Joe«, fuhr sie fort. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin völlig hilflos.«

»Sind Sie sicher, daß er tot ist?«

»Ganz sicher.«

»Moment mal, Vicky«, sagte der Mann am anderen Leitungsende. Seine Stimme klang scharf und metallisch. »Warum hat Stan nicht angerufen, als er zu Ihnen kam? Haben Sie ihm nicht gesagt, daß ich ihn dringend sprechen muß?«

»Klar habe ich es ihm gesagt«, antwortete das Mädchen. »Aber er meinte, das hätte ein paar Minuten Zeit — und... Na ja, da ist es eben passiert.«

»Was ist passiert?«

»Es ist so schwer zu erklären, Joe. Stan war so gut gelaunt. Er hob mich auf und trug mich zur Couch. Wir lagen nebeneinander und küßten uns, als das Furchtbare geschah. Keiner von uns hat etwas gehört. Ich spürte nur, wie Stan plötzlich zusammenzuckte. Ich erwachte wie aus einem Traum und sah einen maskierten Mann zur Tür gehen. Er hatte das Zimmer verlassen, noch ehe mir richtig klarwerden konnte, was geschehen war.«

»Wie ist er hineingekommen?«

»In das Zimmer?«

»Nein, in die Wohnung.«

»Keine Ahnung. Er muß einen Schlüssel gehabt haben«, sagte Vicky Sorensen.

»Von wem?«

»Von mir bestimmt nicht. Warum stellen Sie diese Fragen, Joe? Wollen Sie mich verhören? Das ist doch absurd. Es ist ein Wunder, daß ich noch lebe...«

»Vielleicht«, sagte Joe Bradley.

»Wieso vielleicht?«

»Denken Sie einmal darüber nach«, meinte Joe Bradley. »Stan Polowsky ermordet! In Ihrer Wohnung...«

»Es ist nicht meine Wohnung«, unterbrach sie ihn heftig. Sie weinte nicht mehr. Sie war nur noch wütend.

»Stan hat die Bude für Sie gemietet und für sie eingerichtet«, stellte Bradley fest »Der Mord ist dort passiert, in Ihrer Gegenwart. Ein paar Leute werden wissen wollen, wie das geschehen konnte — und ich schwöre Ihnen, daß das keine sehr angenehmen Fragen sein werden.«

Vicky Sorensen schwieg einige Sekunden. »Bitte, Joe«, sagte sie dann flehend. »Es ist doch nicht meine Schuld, daß es passiert ist. Was soll ich jetzt machen? Ich bin ganz durchgedreht.«

»Okay«, sagte er, »lassen Sie alles stehen und liegen. Ich komme sofort zu Ihnen.«

***


Als ich ins Office kam, war Milo gerade nach Hause gegangen. Er hatte mir einige Notizen auf dem Schreibtisch hinterlassen. Als ich sie überflog, klingelte das Telefon. Ich griff nach dem Hörer und meldete mich.

»Dr. Gerlinger«, sagte eine aufgeregte Männerstimme. »Sie können das Unternehmen abblasen, Sir.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Vicky ist soeben nach Hause zurückgekehrt.«

»Interessant. Wo hat sie gesteckt?«

»Sie hat ihren Entführern versprechen müssen, kein Wort darüber zu verlieren. Vicky scheint entschlossen, sich daran zu halten und die Leute nicht zu verraten. Das wird ihr um so leichter fallen, als ihr offensichtlich kein Haar gekrümmt wurde.«

»Haben Sie mit ihr gesprochen?«

»Ich? Nein. Die Neuigkeiten stammen von dem Professor. Er ist außer sich vor Freude.«

»Soll das heißen, daß er nicht mehr an die Forderung gebunden ist, die die Gangster an ihn richteten?« fragte ich.

»Es sieht ganz so aus, als sei das Unternehmen nur ein schlechter Scherz gewesen«, meinte Dr. Gerlinger. »Es steckte nichts dahinter.«

»Okay, ich spreche mit dem Mädchen.«

»Warum denn das?« fragte er. »Es ist doch alles in Ordnung!«

»O nein«, sagte ich. »Es gibt noch ein paar Kleinigkeiten, die der Klärung bedürfen. Ich erledige das schon.«

Ich verließ das Office und fuhr nach Long Island. Die Sorensens bewohnten einen brandneuen Bungalow in der Barbecue Lane, zwei Meilen nördlich von Middle Island. Als ich vör dem Grundstück stoppte und aus meinem Jaguar kletterte, war es zwanzig Uhr zehn. Ich hob den Messingklopfer an der weißgelackten Tür. Im Innern schlug ein Gong an. Die Tür öffnete sich nur wenige Sekunden später. Im Rahmen erschien Vicky Sorensen.

Ich merkte, wie sie bei meinem Anblick unter ihrem kräftigen Make-up erblaßte. Sie 'hob das Kinn und war bemüht, kühl und selbstsicher aufzutreten. Trotz ihrer Schauspielkunst vermochte sie weder die Unsicherheit noch die Angst zu vertuschen, d.ie sie in dieser Minute quälten.

»Bitte?« fragte sie spröde.

Ich lächelte dünn. Wenn man bereit war, ihr übertriebenes Make-up zu akzeptieren, stand außer Frage, daß Vicky Sorensen von makelloser Schönheit war. Ihr Gesicht hatte Rasse und Klasse. Der weiche volle Mund konnte selbst jetzt, wo er sich um Strenge bemühte, nicht seine sinnlichen Kurven verleugnen. Das weiche, fast bis auf die Schultern fallende Haar hatte einen rötlichen Schimmer. In den Schächten der großen langbewimperten Augen schienen Goldstäubchen zu tanzen. Vicky Sorensen trug ein schlichtes weißes Kleid mit tiefem Halsausschnitt. Es hatte den raffinierten Schnitt echter Eleganz und sorgte mit seinen Minimaßen dafür, daß die schlanken, langen Beine des Girls vollkommen zur Geltung kamen.

»Sie sprechen wie mit einem Fremden«, sagte ich. »Haben Sie vergessen, daß wir uns kennen.«

»Das muß ein Irrtum sein«, behauptete sie. »Ich erinnere mich nicht, Sie schon einmal gesehen zu haben.«

Mein Lächeln wurde sauer. Ich hatte zwar etwas Ähnliches erwartet, aber nun schlug mir Vicky Sorensens Unverfrorenheit doch auf die Laune.

»Ich bin Jesse Trevellian vom FBI«, sagte ich. »Würden Sie mir bitte erlauben, einzutreten?«

Vicky Sorensen trat zur Seite. Wir gingen ins Wohnzimmer. Ich schaute mich um. Die Einrichtung verriet Geschmack. Ihr etwas weiblicher Charakter ließ erkennen, daß Vicky Sorensen dafür verantwortlich zeichnete. Der Professor hatte vermutlich nur den notwendigen Scheck beigesteuert.

»Machen Sie es kurz, bitte«, meinte das Girl hochmütig. Sie dachte nicht daran, mir einen Platz anzubieten. »Ich bin sehr beschäftigt.«

»Wo ist Ihr Vater?«

»Noch im Labor. Er muß wegen eines Spezialauftrages Überstunden machen.«

»Wann sind Sie heute nach Hause gekommen?«

Vicky Sorensen hob irritiert die Augenbrauen. »Was geht Sie das an?«

»Eine ganze Menge. Oder glauben Sie, daß Ihr Engagement am Mordfall Ted Guinn ohne Folgen bleiben wird?«

Das Girl starrte mir in die Augen. Ihr Mund rundete sich verblüfft. »Mordfall Ted Guinn?« echote sie. »Den Namen höre ich zum erstenmal!«

Ich seufzte und bewunderte insgeheim meine eigene Geduld. »Wollen wir nicht endlich zur Sache kommen? Wir sind uns gestern abend in Ted Guinns Office begegnet. Sie haben mich dort mit einer Pistole bedroht, einen Mikrofilm aus Guinns Schreibtisch gezogen und schließlich mit einem Sprühnebel dafür gesorgt, daß ich Sie nicht verfolgen konnte.«

Vicky Sorensen setzte sich abrupt. Sie blickte zu mir hoch. »Das ist nicht wahr!« schnappte sie.

»So? Dann werden Sie mir gewiß sagen können, wo Sie gestern abend gegen zwanzig Uhr dreißig gewesen sind.«

»Ich — ich... Wieso spielt das eine Rolle?«

»Fragen Sie bitte nicht so dumm. Sie wissen genau, daß Sie ein Alibi brauchen.«

»Ich — ich wurde festgehalten.«

»Von wem?«

»Die Leute haben sich mir nicht vorgestellt.«

»Was wollten sie von Ihnen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Glauben Sie im Ernst, daß ich diese haarsträubende Geschichte schlucke?« fragte ich. »Sie haben keine Doppelgängerin, Vicky Sorensen. Sie wissen so gut wie ich, was gestern in Ted Guinns Office passierte. Sie wußten auch, daß er bereits tot war, als Sie zu ihm ins Office kamen. Wollen Sie sich nicht zu einem Geständnis bequemen?«

»Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich entführt wurde«, meinte sie und starrte an mir vorbei ins Leere.

»Von wem?«

»Die Männer haben sich mir nicht vorgestellt. Oder hatten Sie das erwartet?«

»Wie viele waren es?«

»Zwei. Sie entführten mich, als ich Dean Ketwoods Wohnung verließ. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich hatte nicht einmal die Kraft, um Hilfe zu rufen. Das lag nicht nur an dem Schock, der mich lähmte. Einer der Kerle preßte mir einen Revolverlauf in die Rippen.«

Vicky Sorensen hatte sich so weit gefangen, daß sie ihre Rolle wirklich überzeugend vortragen konnte. Ihr Mund zuckte, und ihre Augen machten den Eindruck, als litte sie nochmals am Schrecken des geschilderten Augenblicks.

»Als ich im Wagen der Gangster saß, mußte ich mich im Fond auf den Boden knien. Mir wurden die Augen verbunden. Ich kann nicht mehr genau sagen, wie lange die Fahrt -dauerte und wohin sie uns brachte. Der Raum, in dem ich später festgehalten wurde, hatte keine Fenster. Er war kühl und ein wenig feucht. Deshalb vermute ich, daß er zu einem Keller gehörte. Heute wurde ich plötzlich wieder abgeholt und freigelassen — zu Bedingungen, die ich akzeptierte und an die ich mich zu halten beabsichtige.«

»Warum? Um die Gangster zu schützen?«

»Diese Männer haben mich zwar entführt, aber sie haben mir kein Haar gekrümmt. Ich bin bereit, das zu honorieren. Ich mußte ihnen versprechen, sie nicht zu verraten. Unter dieser Bedingung wurde ich freigelassen.«

»Das war ein klarer Fall von Nötigung. Sie brauchen sich nicht daran zu halten.«

»Ich will es aber. Ich stehe zu meinem Wort. Selbst wenn ich es wollte, könnte ich Ihnen nicht sagen, wer die Männer waren und wo sie wohnen.«

»Immerhin könnten Sie mir die Gangster beschreiben.«

»Gewiß, aber sie hatten Allerweltsgesichter. Diese Beschreibung brächte Sie keinen Schritt weiter.«

»Haben Sie bereits mit Ihrem Vater gesprochen?«

»Gewiß, vor einer halben Stunde. Er kam aus dem Labor sofort nach Hause, um mich begrüßen zu können. Der arme Daddy. Er war meinethalben in schrecklicher Sorge.«

»Wollen Sie irgend etwas mitnehmen?« fragte ich das Girl.

Vicky Sorensen zuckte zusammen. »Mitnehmen?, Was soll das heißen? Wollen Sie mich verhaften?«

»Ich möchte Sie zur Einvernahme zum District Office bringen«, sagte ich. »Das ist alles. Selbstverständlich steht es Ihnen frei, vorher mit Ihrem Anwalt zu sprechen.«

»Ist es wegen dieser dummen Ted-Guinn-Geschichte?« wollte das Girl wissen.

»Unter anderem«, sagte ich.

Vicky Sorensen zog ihre Unterlippe zwischen die Zähne und knabberte darauf herum. Sie sah ernst und sogar ein wenig düster aus.

»Ich habe Ihnen etwas verschwiegen«, bekannte sie plötzlich.

»Nun?«

»Ich will vorher eine Frage an Sie richten. Eine Frage, die mich schon seit geraumer Zeit beschäftigt. Kann man einen Menschen mit Hilfe bestimmter Injektionen in einen Zustand von Trance versetzen, wobei er unbewußt Befehlen gehorcht?«

»O ja, das gibt es«, sagte ich seufzend. Ich wußte genau, was jetzt kommen würde.

»Sehen Sie — das wäre auch die Erklärung dafür, daß Sie behaupten, mich in Mr. Guinns Office gesehen zu haben. Mir ist es so, als gäbe es in meiner Erinnerung ein Blackout, eine totale Lücke — und die bezieht sich auf den gestrigen Abend.«

»Sie wollen damit andeuten, daß Sie es für möglich halten, von den Gangstern wider Willen mißbraucht worden zu sein«, sagte ich.

»Die Erinnerungslücke beginnt mit dem Abendessen«, nickte das Girl. »Ich weiß zwar noch, was es gab — aber was danach kam, liegt für mich im dunkeln. Es könnte sein, daß ich bewußtlos geworden bin. Mir kam es gleich so vor, als ob der Tee ein wenig komisch schmeckte...«

»Das wird unser Arzt feststellen«, sagte ich und wies zur Tür. »Wenn Ihre Version zutreffen sollte, müssen sich noch Spuren der Droge in Ihrem Blut befinden.«

»Soll das heißen, daß Sie mich untersuchen lassen wollen?« fragte Vicky Sorensen fassungslos.

Ich nickte lächelnd. »Zu Ihrem Nutzen, versteht sich. Ohne medizinische Untermauerung laufen Sie Gefahr, mit Ihrem Bericht als Lügnerin abgestempelt zu werden.«

»Das ist mir egal!« sagte sie scharf. »Was können Sie mir denn schon vorwerfen? Den angeblichen Diebstahl eines Mikrofilms!«

»Im Zusammenhang mit einer Mordsache«, machte ich ihr klar. »Ganz zu schweigen von dem tätlichen Angriff auf einen Bundesbeamten.«

»Hören Sie, Mr. Trevellian, ich finde, daß Sie mich nicht ganz fair behandeln. Ich mußte gestern und heute viel durchmachen. Es gab Stunden der Angst, wo ich glaubte, den Verstand zu verlieren. Ist es da wirklich nötig, daß Sie mich jetzt wie eine Verbrecherin behandeln? Sie sollten nicht vergessen, daß ich das unschuldige Opfer eines höchst seltsamen und undurchsichtigen Komplotts geworden bin.«

»Wie könnte ich das vergessen!« bemerkte ich spöttisch. »Sie sorgen ja selber dafür, daß der Vorfall seltsam und undurchsichtig bleibt.«

»Nur, weil ich zu dem Versprechen stehe, das ich den Gangstern gegeben habe?« fragte sie. »Ich bin fest davon überzeugt, daß Sie als ein Mann von Ehre an meiner Stelle nicht anders handeln würden.«

»Was die Gangster betrifft, kann ich nur sagen, daß Ehrabschneider keine Ehrerbietung verdienen. Apropos Gangster — wie geht es Stan Polowsky?«

Der Schuß ins Schwarze war genau kalkuliert. Er traf das Girl völlig unvorbereitet und riß sie aus der Rolle, die sie mit soviel Talent und Hingabe spielte.

»Stan Polowsky?« stammelte sie. Es war zu spüren, wie sehr sie an den Folgen dieses unerwarteten Tiefschlages litt. Sie wußte nicht, wie sie ihm begegnen sollte.

»Ganz recht«, sagte ich. »Ich spreche von Ihrem Freund Stan Polowsky. Wir hatten uns vorgenommen, ihn im Auge zu behalten, aber er ist seit heute nachmittag spurlos verschwunden.«

»Ich kenne keinen Stan Polowsky«, sagte sie.

»Weshalb hat Sie die Nennung seines Namens dann so sichtlich überrascht?«

»Mich überrascht nur der plötzliche Themenwechsel. Ich verstehe ihn noch immer nicht.«

»Was würden Sie dazu sagen, wenn ich einen Zeugen benenne, der Sie in Polowskys Begleitung gesehen hat?«

»Ich würde sagen, daß der Betreffende sich täuscht. Ich kenne niemanden, der Polowsky heißt.«

»Polowsky ist ein Mann mit sehr scharfen, markanten Gesichtszügen. Einfach unverkennbar«, sagte ich.

»Schon möglich. Dann bin ich eben mit einer anderen verwechselt worden.«

»Bestimmt nicht. Der Zeuge, von dem hier die Rede ist, kennt Sie sehr gut.«

»Wollen Sie mir nicht endlich sagen, worauf Sie hinauswollen? Ich kann nur wiederholen, daß ich den Namen Polowsky heute zum erstenmal höre.«

»Er ist die rechte Hand von Ray Silver. Sagt Ihnen wenigstens dieser Name etwas?«

»Ja«, meinte Vicky gedehnt. Sie gab sich Mühe, schnell zu schalten. »Papa erwähnte ihn. Meine Entführer nannten den Namen Ray Silver, als Sie Papa gegenüber gewisse Forderungen stellten, die als Lösegeld gedacht waren.«’

»Okay. Da haben wir immerhin einen Zusammenhang. Ihre Entführer wollten Ray Silver aus der Patsche helfen. Professor Sorensen sollte ihnen helfen, diese Aufgabe zu erfüllen. Um Ihren Vater gefügig zu machen, wurde Ihre Entführung inszeniert — aber auf einmal sieht es so aus, als sei niemand mehr an Ray Silvers Prozeßgewinn interessiert. Polowsky ist verschwunden, und Sie wurden freigelassen. Sie werden zugeben, daß die Sachlage zu sehr einleuchtenden Rückschlüssen zwingt.«

»Ich verstehe kein Wort!«

»Polowsky wollte Ray Silver freibekommen. Er kannte die lückenlose Indizienkette und versuchte sie mit Hilfe von Professor Sorensens Wissen aufzuknacken, indem er dessen Aktivierungsanalyse in Frage stellte. Er machte sich an Sie heran, um zu erfahren, wie und wo der Professor zu packen war. Es hgt den Anschein, als sei es Polowsky gelungen, Sie fest in den Griff zu bekommen. Sie waren offenbar damit einverstanden, die Entführung mitzumachen. Der Bluff diente nur dem Ziel, Ihren Vater einzuschüchtern. In Wahrheit machten Sie mit Polowsky gemeinsame Sache. Sie wollten ihm zeigen, wie sehr sie ihn liebten. Um zu beweisen, daß das für Sie nicht nur leere Phrasen waren, erklärten Sie sich sogar bereit, den Film aus Ted Guinns Office zu holen.«

Vicky Sorensen atmete sehr rasch. Die Goldfunken in ihren Augen blitzten scharf. »Ted Guinn. Immer wieder Ted Guinn!« stieß sie hervor. »Ich bin neugierig, wie Sie ihn in Ihr farbenfrohes Mosaik einzufügen gedenken. Offenbar macht es Ihnen Spaß, absurde Kombinationen aufzustellen. Sie haben nur leider das Pech, nichts von diesem Unsinn beweisen zu können.«

»Langsam, nur langsem«, sagte ich. »Okay. Beschäftigen wir uns mit Ted Guinn. Er war.,Privatdetektiv, und zwar einer von der tüchtigen Sorte. Er war dahintergekommen, was Polowsky vorhatte und wollte mich darüber informieren. Guinn muß dabei irgendwo einen Fehler gemacht haben, denn Polowsky schlug zu, noch ehe Guinn auspacken konnte. Als ich das Office des Privatdetektivs betrat, war er schon tot.«

»Wirklich eine reizende und sehr glaubwürdige Geschichte!« höhnte das Girl. »Ich brenne darauf, die Pointe zu hören. Denn wenn ich Ihnen bis jetzt richtig folgen konnte, war der Ausgangspunkt des Geschehens doch die Absicht, Ray Silver zu helfen. Nun zeigt sich aber plötzlich, daß man von Papa nichts mehr in dieser Hinsicht will und daß ich freigelassen wurde. Wie erklären Sie sich das?«

Das Telefon klingelte. Vicky Sorensen erhob sich und nahm das Gespräch an. Sie streckte mir mit finsterem Gesichtsausdruck den Hörer entgegen.

»Es ist für Sie.«

»Trevellian«, meldete ich mich.

Milo war am Apparat. »Polowsky ist gefunden worden«, sagte er. »In einer Baugrube, unter einer Plastikplane. Die Ermittlungen sind noch im Gange. Alles spricht dafür, daß er an einem anderen Ort ermordet wurde — vor knapp drei Stunden.«

»Danke«, sagte ich und legte auf.

Vicky Sorensen lehnte neben der Terrassentür an der Wand. Ihr Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt.

Ich blickte sie an. »Zuweilen ist es im Leben wie auf der Bühne«, sagte ich. »Zu einem Stichwort wird prompt die dramatische Erklärung geliefert. Sie fragten nach einer Erklärung für Ihre Freilassung. Hier ist sie: Polowsky wurde ermordet.«

»Schon wieder dieser Polowsky!«

»Sie werden seinen Namen noch oft hören«, sagte ich. »Ich will Ihnen erklären, weshalb auf einmal niemand mehr daran interessiert zu sein scheint, dem inhaftierten Ray Silver zu helfen. Die Unterwelt ist im Grunde genommen froh, ihn los zu sein. Sie legt keinen Wert darauf, erneut mit ihm teilen zu müssen. Deshalb wurde sein Prozeßgewinn hintertrieben und unmöglich gemacht. Deshalb mußte der einzige Mann sterben, der sich für diesen Prozeßgewinn stark machte — Stan Polowsky.«

»Was habe ich damit zu tun?«

»Eine ganze Menge. Mit Polowskys Tod erlosch Ihr Interesse für den Fall. Sie kehrten nach Hause zurück und nahmen sich vor, Ihrem Vater und dem FBI eine plausibel klingende Erklärung zu servieren. Vielleicht wären Sie sogar damit durchgekommen — aber die Tatsache, daß wir gestern abend in Ted Guinns Office zusammentrafen, verdirbt Ihnen das Konzept.«

»Ich kann nur wiederholen, daß ich mich nicht erinnere, jemals im Büro dieses obskuren Privatdetektivs gewesen zu sein. Das ist die Wahrheit.«

Ich blickte Vicky Sorensen an. Sie brachte es fertig, meinem Blick klar zu begegnen. »Wenn Sie Stan Polowsky wirklich geliebt haben sollten, müßten Sie eigentlich an einer raschen Sühne seines gewaltsamen Todes interessiert sein«, sagte ich.

»Eben!« meinte das Girl spöttisch. »Da Ihre Hypothesen sich jedoch von irrigen Voraussetzungen ableiten, kümmern mich weder dieser Polowsky noch seine Mörder.«

»Gehen wir«, sagte ich.

Vicky Sorensen spürte, daß es sinnlos war, zu protestieren. Sie rief ihren Vater im Labor an und teilte ihm mit, daß er sich nicht zu ängstigen brauchte, wenn sie bei seiner Rückkehr nicht zu Hause sein würde. Dann verließ sie mit mir den Bungalow.

Mein Jaguar stand nur zehn Schritte von der Tür entfernt. Der Schuß fiel in dem Augenblick, als wir uns dem Wagen bis auf zwei Yard genähert hatten.

Die Kugel zischte haarscharf an meinem Kopf vorüber. Ich riß Vicky Sorensen mit zu Boden. Meinen Smith and Wesson hatte ich im Office gelassen.

Der Jaguar bot uns nur wenig Deckung. Zum Haus und zum Garten hin hatte der Schütze freie Schußbahn. Ich wußte nicht, wo der Bursche sich versteckt hielt. Mir war bloß klar, daß er mit einem Gewehr auf uns feuerte und gute Aussichten hatte, das nächstemal besser zu treffen.

Vicky Sorensen atmete keuchend. Ich sah die Furcht in ihren großen, fragend auf mich gerichteten Augen. Sie lag so dicht neben mir, daß sich unsere Schultern berührten.

Im nächsten Augenblick krachte es abermals. Wenige Inch vor uns stieg eine kleine Erdfontäne aus dem Boden. Ein paar winzige Steinchen pfiffen durch die Gegend und schlugen hart gegen die Kotflügel des Jaguar.

Ich glaubte, den Standpunkt des Schützen geortet zu haben. Er mußte, gut zwanzig Yard von der östlichen Schmalseite des Bungalows entfernt, hinter einem Rhododendronbusch stehen.

Ich riß Vicky hoch und sprintete mit ihr zur Frontseite meines Jaguar, um den Wagen als Schutzwall zwischen uns und den unsichtbaren Schützen zu bekommen.

Noch ehe wir unser Ziel erreicht hatten und erneut zu Boden gingen, krachte es zum drittenmal. Das Girl zuckte zusammen und stieß einen Schrei aus. Wimmernd preßte sie eine Hand gegen ihre Schulter.

»Legen Sie sich auf die Seite!« stieß ich hervor und zog behutsam ihre blutverschmierte Hand von der Einschußwunde.

Die Wunde lag ziemlich hoch. Die Kugel konnte die Lunge nicht verletzt haben, aber sie steckte noch im Körper. Es war möglich, daß das Schlüsselbein getroffen war. Die Blutung hielt sich in Grenzen.

Vicky Sorensen begann haltlos zu schluchzen. Sie war am Ende ihrer Kräfte.

Ich schnellte mich vom Boden ab, raste von dem Jaguar weg und duckte mich hinter einen Busch. Ich hörte das Brechen von Zweigen. Im nächsten Moment sah ich einen jüngeren schlanken Mann durch den Garten davonlaufen.

Der Mann hatte einen flachen schwarzen Koffer bei sich. Es gab keinen Zweifel, daß das Gepäckstück sein zusammengelegtes Gewehr enthielt.

Ich raste hinter ihm her.

Ich sah, wie er sich über die Hecke schwang, die das Gartengrundstück zum Nachbarn hin begrenzte, und war sicher, den Gangster in diesem Moment erkannt zu haben. Es war Andy Rosell, meine Bekanntschaft aus dem Broadway-Theater.

In der nächsten Sekunde war er aus meinem Blickfeld verschwunden. Ich legte ein paar Touren, zu, um den Abstand zwischen ihm und mir zu verringern. In diesem Augenblick fiel abermals ein Schuß. Aus einem Revolver. Er verfehlte mich nur knapp.

Ich stoppte hinter der schorfigen Hülle einer alten Ulme. Offenbar gab ein zweiter Gangster Andy Rosell Feuerschutz.

Schwer atmend wartete ich auf weitere Aktionen, aber ich hörte nur das leise Rauschen der Bäume und das rasch wieder einsetzende Zwitschern der Vögel.

Ich sah keinen Grund, die sinnlos gewordene Verfolgung fortzuführen. Ich wußte, daß Andy Rosell der erste Schütze war. Es wurde Zeit, daß ich das Haus erreichte und mich um einen Arzt für das Girl bemühte.

Ich raste los und erreichte den Bungalow ohne weitere Zwischenfälle. Vicky Sorensen lag noch immer dort, wo ich sie zurückgelassen hatte. Sie hob mir den Kopf entgegen, fragend und mit tränenüberströmtem Gesicht. Ich hob sie auf und trug sie in das Haus.

Die Art, wie das Mädchen reagierte, als ich sie durch die Diele trug und im Wohnzimmer auf die Gauch bettete, ließ erkennen, daß das Schlüsselbein keinen Schaden davongetragen hatte.

Ich stopfte Vicky Sorensen ein Kissen unter den Kopf und sagte ihr, wie sie sich legen sollte, um die Blutung auf ein Minimum zu reduzieren.

Dann benachrichtigte ich einen Arzt und die Ambulanz. Ich verzichtete jedoch vorerst darauf, die Polizei zu informieren. Ich hielt es für sinnlos, die angrenzenden Grundstücke von Beamten durchkämmen zu lassen. Es genügte, daß die Gangster mit einer gezielten Polizeiaktion rechneten und sich deshalb schnell aus dem Staub gemacht hatten.

Ich legte den Hörer aus der Hand und wandte mich dem Girl zu. »Kann ich etwas für Sie tun?« wollte ich wissen.

Vicky Sorensen verneinte. »Setzen Sie sich zu mir, bitte«, murmelte sie kaum hörbar. »Ich möchte ein umfassendes Geständnis ablegen.«

***


Ich zog mir einen Stuhl heran und nahm rittlings darauf Platz. Die Arme verschränkte ich auf der Stuhllehne. Gerade, als das Girl zum Sprechen ansetzen wollte, fiel mir etwas ein.

»Einen Augenblick, bitte«, sagte ich und trat nochmals an das Telefon. Ich wählte die Nummer des District Office. Sekunden später hatte ich Milo an der Strippe.

»Ich bin endlich hinter Ted Guinns Geheimcode gekommen«, teilte er mir mit. »Jetzt können wir den Inhalt seiner Kundenkartei entziffern.«

»Wunderbar«, sagte ich. »Trotzdem möchte ich dich bitten, deine Dechiffrierkünste vorerst einmal auf Eis zu legen. Auf Miß Sorensen und mich wurde beim Verlassen des Hauses geschossen. Ich habe den flüchtenden Schützen erkannt. Es war Andy Rosell. Fahr sofort zu ihm. Für ihn ist es ein weiter Weg von Long Island nach Hause. Das sichert dir den notwendigen Vorsprung. Wenn wir Glück haben, gelingt es dir, Andy Rosell die Tatwaffe abzuknöpfen. Als er von hier verschwand, hatte er sein Gewehr zusammengelegt in einen flachen schwarzen Koffer gepackt.«

»Okay, Alter«, versprach Milo, »ich mach’ mich auf die Socken.«

Ich legte auf. Während des Gesprächs hatte ich das Girl nicht aus den Augen gelassen. Mir war es so vorgekommen, als wäre sie bei der Nennung von Rosells Namen leicht zusammengezuckt.

»Ich war dabei, als es Stan erwischte«, sagte Vicky Sorensen und stieß die Luft aus. Es war zu spüren, wie sehr sie das Geständnis erleichterte und befreite.

Ich setzte mich zu ihr. »Sie haben den Mörder gesehen?«

»Ja. Er war maskiert. Er stach zu, als ich... Nun, als ich mit Stan auf der Couch lag. Stan lag mir gegenüber. Er verdeckte mit seinen Schultern meinen Blick zur Tür... Ich hielt die Augen bis zu dem Zeitpunkt geschlossen, als Stan so schrecklich zusammenzuckte.«

»Sie geben also zu, daß die Entführung nur ein ausgemachter Schwindel war und daß Sie mit Polowsky und seinen Leuten zusammen gearbeitet haben?«

»Ja«, würgte Vicky Sorensen hervor. »Ich gebe es zu. Für mich war das ein Abenteuer und zugleich die Möglichkeit, Stan meine Liebe zu beweisen.«

»Seit wann kannten Sie ihn?«

»Er hat mich vor drei Monaten angesprochen, auf der Straße. Seine Nonchalance überraschte und empörte mich — aber als er mir eröffnete, daß er ein prominenter Filmmann sei und von meinem Gesicht fasziniert wäre, wurde ich schwach und fiel um.«

»Sie müssen doch rasch dahintergekommen sein, daß das nur eine Fint6 von ihm war.«

»Natürlich erkannte ich bald, was er wirklich von mir wollte, aber Stan Polowsky hatte nicht gelogen, als er von seinen Filmbeziehungen sprach. Eine seiner Firmen dreht Werbefilme. Ich durfte in mehreren Spots auftreten und wurde dafür gut bezahlt. Diese Filme werden in den kommenden Wochen im Fernsehen ausgestrahlt.«

»Wurden Sie ihm deshalb hörig?«

»Wie wollen Sie Liebe und Hörigkeit voneinander trennen? Ich fand Stan hinreißend. Er war in meinen Augen ein richtiger Mann, dynamisch und resolut — wenn auch einer, der ohne Bandagen kämpfte und der keine Skrupel hatte, wenn es um den eigenen Vorteil ging. Ich nahm ihm das nicht übel. Wir verstanden uns großartig. Als er merkte, wie sehr ich ihn bewunderte, ließ er es geschickt darauf ankommen, meine Hingabe zu prüfen und bewußt zu strapazieren. Er gestand mir, daß er in Abwesenheit seines Bosses ein Syndikat leitete — aber er brachte es einfach nicht fertig, meine Bewunderung für ihn zu schmälern.«

»Also habe ich richtig getippt«, sagte ich. »Sie machten freiwillig mit. Wo wurde Stan Polowsky ermordet?«

»Er hatte für mich ein Apartment in der Fordham Road eingerichtet. Dort passierte es.«

»Wer holte den Toten aus der Wohnung?«

»Joe«, erwiderte Vicky Sorensen stockend. »Joe Bradley. Ich hatte ihn telefonisch um seine Hilfe gebeten.«

Ich fühlte, wie schwer es ihr wurde, diesen Namen auszusprechen. Vicky Sorensen wußte, was sie mit ihrem Geständnis für sich an Gefahren heraufbeschwor. Andererseits erkannte sie, daß sie nur dann vor den Gangstern sicher sein konnte, wenn es der Polizei gelang, die Männer zu verhaften.

»Joe ist der Mann, der die Dreckarbeit für Stan erledigt«, fuhr das Mädchen fort. »Hank Fowler und Andy Rosell pflegten ihm dabei zu helfen.«

»Wer schickte Rosell zu Dean Ketwood?«

»Das kann nur Stan gewesen sein«, vermutete das Mädchen. »Stan war ein Mann, der an alles dachte. Er muß gewittert haben, daß Sie sich mit Mr. Ketwood in Verbindung setzen würden.«

»Polowsky hat nicht an alles gedacht«, sagte ich. »Sonst wäre er zweifellos noch am Leben.«

Die Augen des Mädchens füllten sich mit Tränen. »Wie soll ich das bloß Papa erklären?« fragte sie. »Es wird ihm das Herz brechen. Er war immer so gut zu mir...«

Es klingelte an der Haustür. »Der Arzt«, sagte ich und blickte auf die Uhr. »Er hat sich wirklich beeilt.«

Ich ging hinaus und öffnete.

Vor mir stand ein etwa vierzigjähriger Mann. Er war gut gekleidet und hatte ein schmales gebräuntes Gesicht mit straffen Zügen. In der Hand hielt er einen Instrumentenkoffer. »Dr. Svensson«, stellte er sich vor. »Gehen Sie bitte voran.«

Ich machte kehrt und bewegte mich rasch auf die Wohnzimmertür zu. Es irritierte mich, daß der Arzt mir beinahe auf die Fersen trat, so dicht blieb er hinter mir. Ein kurzer scharfer Luftzug verstärkte dieses Gefühl und verwandelte es in einen jäh aufspringenden Verdacht. Ich wollte herumzucken, um das Schlimmste zu verhüten, aber meine Reaktion kam zu spät.

Die lederverkleidete Bleikugel einer stählernen Schlagrute traf mich oberhalb der Schläfe und ließ in meiner Nervenzentrale einen grellroten Blitz des Schmerzes explodieren. Ich brach in die Knie und riß instinktiv den Ellenbogen hoch, um weitere Angriffe abzuwehren.

Mein Gegner stieß den Ellenbogen zur Seite und schjug erneut zu. Würgende Übelkeit zerrte in meiner Kehle. Ich kippte mit dem Oberkörper nach vorn und hatte das Empfinden, in einen schwarzen, endlos tiefen Schacht zu stürzen.

***


Als ich wieder zu mir kam, hatte ich Angst davor, den Kopf zu heben und die Augen zu öffnen. Ich wußte, daß diese Manöver sich mit höllischen Schmerzen verbinden würden. Ich ging mit äußerster Behutsamkeit daran, mich hochzustemmen. Der Druck hinter meiner Stirn artete sofort in ein wildes, schmerzhaftes Pochen aus. Ich kam auf die Beine, torkelte in das Badezimmer und hielt meinen Kopf unter den kalten Strahl der Wasserleitung.

Als ich den Hahn abdrehte und mich im Spiegel sah, nahm ich meine Züge kaum wahr. Ich dachte an Vicky Sorensen und versuchte mich auf das Bild einzustellen, daß mich im Wohnzimmer erwartete.

Ich torkelte durch die Diele. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. Vicky Sorensen war von der Couch verschwunden. Ein dunkler Blutfleck auf dem goldfarbenen Veloursstoff erinnerte daran, daß Vicky Sorensen schon während meiner Anwesenheit einen hohen Preis für ihre Vergehen bezahlt hatte. Es gab keinen Zweifel, daß dies noch nicht der Endpreis war.

Ich torkelte durch alle Zimmer. Ich entdeckte weder Vicky Sorensen noch Spuren ihres Verbleibs. Als ich in die Diele zurückkehrte, öffnete sich die Tür. Ein Mann betrat die Diele und stoppte verblüfft, als er mich sah.

»Professor Sorensen?« fragte ich ihn.

Er nickte.

»Jesse Trevellian vom FBI«, sagte ich.

»Was haben Sie denn mit Ihrem Kopf gemacht?« fragte er und drückte die Tür hinter sich zu. »Wo ist Vicky?«

»Sie wurde entführt.«

Amos Sorensen starrte mich an. Sein Gesicht verfiel, es wurde grau und schlaff. Er stellte keine Fragen, obwohl ihm mindestens ein Dutzend davon auf der Zunge liegen mochte. Er ging an mir vorbei, ließ sich in den ledernen Ohrensessel fallen, der zur Terrassentür wies, und blickte in den Garten. Sein Schweigen bedrückte mich mehr, als es ein Ausbruch der Verzweiflung getan hätte.

Ich blieb wenige Schritte hinter der Türschwelle stehen. Der Schmerz in meinem Kopf begann zu verebben.

»Ich habe den Kram hingeschmissen«, sagte der Professor. Er sprach nur halblaut und wie zu sich selbst. »Ich konnte den Formelkram nicht mehr ausstehen. Ich war unfähig, mich zu konzentrieren. Ich wollte nach Hause zu Vicky. Ich hoffte, daß sie nicht lange wegbleiben würde. Sie hat mir so schrecklich gefehlt...«

Ich trat an das Telefon und nahm den Hörer von der Gabel. Plötzlich kam mir eine Idee. Ich ließ den Hörer fallen und betrat den Garten. Es war kein Problem, die Telefonleitung zu finden und ihr quer durch den Garten zu folgen. Ich entdeckte die zweite Leitung auf dem Nachbargrundstück hinter einer Baumgruppe. Das Kabel lag lose im Gras. Sein blankes Ende verriet, daß es noch bis vor kurzem mit einem Anschluß verbunden gewesen war. Bis vor zehn Minuten, um genau zu sein.

Ich bereute plötzlich, nach den Schüssen nicht die Polizei angerufen zu haben. Die Gangster hatten perfekte Arbeit geleistet. Sie hatten sicherheitshalber den Sorensenschen Telefonapparat angezapft und dabei gehört, daß ich mich auf die Benachrichtigung des Arztes und der Ambulanz beschränkt hatte.

Unter diesen Umständen war leicht erklärlich, daß einer der Gangster den Namen des von mir informierten Arztes gekannt und ihn zu meiner Täuschung benutzt hatte.

Ich machte kehrt. Als ich den Bungalow erreichte, standen zwei weitere Fahrzeuge vor der Tür: ein cremefarbiger Ambulanzwagen und der Pontiac des Doktors. Ich schickte den Arzt und die Leute vom Hospital wieder nach Hause.

Ämos Sorensen saß noch immer in seinem Ohrensessel, unbeweglich und schweigend, so wie ich ihn verlassen hatte, ich trat erneut ans Telefon. Sorensen wandte seinen Kopf und schaute mich an.

»Ich bin für derlei Dinge nicht gemacht«, sagte er. »Warum hat man sie diesmal entführt? Gehört das zur Taktik der Gangster? Glaubt man, mich damit vollends fertigmachen zu können?«

»Wir sprechen gleich darüber«, sagte ich und wählte die Nummer des District Office. Myrna saß in der Zentrale. Ihre rauchige Stimme war wie immer ein echter Ohrenbalsam.

»Gut, daß Sie anrufen, Jesse«, sagte sie. »Mr. McKee möchte Sie sprechen. Ich stelle durch.«

Es knackte in der Leitung. Eine Sekunde später hatte ich den Chef an der Strippe.

»Ich hörte von Milo, daß Sie und das Mädchen Opfer eines unerwarteten Schützenfestes geworden sind«, meinte Mr. McKee. »Wie geht es Miß Sorensen?«

»Ich weiß es nicht, aber ich fürchte, daß es jetzt darauf ankommt, sie schnellstens zu finden. Allerschnellstens sogar, sonst wird es zu spät sein. Das Schützenfest endete leider mit einem Rohrkrepierer.«

»Was soll das heißen?«

»Vicky Sorensen wurde entführt — und diesmal war sie mit dem Kidnapping bestimmt nicht einverstanden. Auf sie wurde geschossen, weil man befürchtete, sie würde unter dem Druck wiederholter Verhöre singen. Glücklicherweise hat sie das getan, noch ehe die Gangster zuschlagen konnten. Ich habe die Namen der mutmaßlichen Entführer. Sie lauten: Joe Bradley, Hank Fowler und Andy Rosell. Milo dürfte vermutlich schon zu Rosell unterwegs sein. Die anderen müssen sofort zur Fahndung ausgeschrieben werden.«

»Ich habe mir die Namen notiert«, sagte Mr. McKee. »Die Aktion läuft kn. Bleiben Sie am Apparat. Wir sprechen weiter, sobald ich das Notwendige veranlaßt habe.«

Amos Sorensen erhob sich langsam. Er hielt sich an der Lehne des Ohrensessels fest, als benötigte er dringend einen Halt. »Was sagen Sie da?« murmelte er. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, war Vickys Entführung nur ein Bluff?«

»Ja.«

»Wer sagt das?«

»Ich. Vicky hat bereits zugegeben, daß es stimmt.«

Amos Sorensen ließ sich erneut in den Sessel fallen. Er blieb auf der vorderen Kante, sitzen, in einer hochaufgerichteten, unnatürlich steifen Haltung. »Ich kann es nicht glauben«, murmelte er. ‘ »Das würde doch bedeuten...« Seine Stimme brach. Er konnte den Satz nicht zu Ende führen.

Ich hielt es für meine Pflicht, Vicky Sorensen in Schutz zu nehmen.

»Ich glaube nicht, daß Vicky Ihnen Schaden oder Schmerzen zufügen wollte«, sagte ich. »Sie war verliebt und hatte weder den Mut noch die Einsicht, die Konsequenzen ihres Handelns in allen Einzelheiten zu überdenken. Sie wollte nur beweisen, wie groß ihre Liebe war und Welche Opfer sie ihr bringen konnte.«

»Sie , hat — sie hat einen Gangster geliebt?«

»Leider. Liebe fragt selten nach Gesetz oder Moral. Vicky wurde verführt, und sie hatte nicht die Kraft, der Versuchung zu widerstehen. Der Mann, der sie mißbrauchte, ist tot.«

»Das ist kein Trost für mich«, sagte Amos Sorensen mit grauem Gesicht und spröder Stimme. »Vicky hat sich gegen mich gestellt. Sie hat es zugelassen, daß ich von Gangstern geohrfeigt und erpreßt wurde. Und während der ganzen Zeit dachte ich an nichts anderes als an ihr Wohlergehen. Ich litt mit ihr, ich litt für sie — umsonst!« Er schlug beide Hände vor sein Gesicht. Ich konnte verstehen, wie ihm zumute war.

»Hallo, Jesse?« meldete sich in diesem Augenblick Mr. McKee am anderen Ende der Leitung. »Die Aktion läuft. Wenn wir Glück haben, fassen wir die Burschen rasch. Wissen die Kerle, daß wir ihre Namen kennen?«

»Andy Rosell kann nicht bezweifeln, daß er auf unserer Liste ganz oben steht — aber die anderen sind, wie ich hoffe, ahnungslos. Vicky Sorensen wird nicht so töricht sein, den Gangstern zu verraten, daß sie bereits gesungen hat.«

»Was ist, wenn man sie unter Druck setzt? Wird sie dann sprechen?« fragte Mr. McKee.

In meinem Magen bildete sich ein Knoten. »Ich fürchte, ja. Zu ihrer seelischen Angst und Verzweiflung kommt die Schußwunde, die die Widerstandskraft des Mädchens schwächen wird.«

»Warum hat man das Mädchen laufenlassen und schließlich erneut gekidnappt?« fragte Mr. McKee.

Ich berichtete meinem Chef, was geschehen war.

»Demnach müssen wir befürchten, daß Vicky Sorensen keine Überlebenschance hat«, sagte Mr. McKee.

»Alles hängt davon ab, wie Vicky Sorensen sich jetzt verhält und inwieweit es ihr gelingt, die Gangster davon zu überzeugen, daß sie mir gegenüber keine Namen genannt hat. Vielleicht kommen die Gangster dann zu dem Schluß, daß es genügt, Vicky Sorensen als Geisel festzuhelten.«

»Fest steht, daß unser Aktionskommando mit äußerster Behutsamkeit Vorgehen muß«, sagte Mr. McKee. »Wenn einer der Burschen beim Nachhausekommen entdecken sollte, daß man seine Wohnung beobachtet, wird er wissen, was die Stunde geschlagen hat. Man wird dafür sorgen, daß Vicky Sorensen ihr Geständnis nicht als Zeugin vor einem Gericht wiederholen kann.«

***


Andy Rosell wußte, daß er zuviel getrunken hatte. Er hielt sich zwar für völlig fahrtüchtig und hatte auch sonst einen klaren Kopf, aber vier Whisky waren nach einem solchen Tag einfach zuviel. Er lenkte seinen Wagen in die Tiefgarage, stoppte in der für ihn reservierten Box und stieg aus. Der Lift brachte ihn vor seine Wohnungstür. Als er den Schlüssel aus der Hosentasche holte, legte sich eine Hand auf seine Schulter. Rosell zuckte herum, als hätte er einen Elektroschock erhalten.

»Milo Tucker, FBI«, sagte der Mann, der Rosell gegenüberstand.

»Schon wieder«, murmelte Rosell und grinste. Auf einmal war er froh, getrunken zu haben. Der Whisky verwischte die Konturen. Er gab ihm Mut und ließ mögliche Gefahren lösbar und unwichtig erscheinen.

»Nehmen Sie die Hände hoch, und drehen Sie sich mit dem Gesicht zur Wand!« befahl Milo.

Andy Rosell gehorchte grinsend. Gerechter Himmel, was waren diese Bullen doch für Anfänger. Hielten sie ihn für so blöd, daß er nach der Panne im Helen Hayes Theater mit einem Schießprügel in der Tasche herumlaufen würde?

»Danke, das genügt«, sagte Milo, nachdem er den Gangster sorgfältig abgeklopft hatte. »Wo kommen Sie her?«

Andy Rosell ließ seine Arme sinken und wandte sich um. »Aus der Kneipe«, sagte er. »Sie sollten auch mal hingehen. Dann würden Sie nicht so sauer aussehen, Mister. Was gibt’s denn diesmal? Ist es wegen der Autogrammgeschichte?«

»Gehen wir in Ihre Wohnung«, schlug Milo vor. »Das nächste Autogramm gibt Ihnen der Haftrichter.«

»He, Moment mal!« protestierte Andy Rosell gekränkt. »Hier hört der Spaß auf. Was werfen Sie mir denn vor? Whisky trinken am Nachmittag?«

»Wann haben Sie damit begonnen, und wann haben Sie aufgehört?« wollte Milo wissen.

»Lassen Sie mich mal nachdenken. Ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Ich bin gegen achtzehn Uhr zwanzig zu Tony gegangen und vor einer halben Stunde wieder abgehauen. Lassen Sie mich auf die Uhr sehen — das war also um zweiundzwanzig Uhr zwanzig. Zufrieden?«

»Wer ist dieser Tony?«

»Tony Garlick, ein alter Bekannter. Ihm gehört der Silberne Stiefel am Deegan Boulevard. Eigentlich hat er heute seinen Ruhetag, aber mich hat er natürlich bedient. Kommen Sie ’rein, Mister, rufen Sie ihn an. Er wird Ihnen bestätigen, was ich sagte«, meinte Andy Rosell und öffnete die Tür.

Er torkelte vor Milo ins Wohnzimmer. Milo hatte das Gefühl, daß Andy Rosell zwar getrunken hatte, daß er aber keineswegs so voll war, wie er mit der gespielten Torkelei vorzugeben versuchte.

Das Wohnzimmer war mit billigen Möbeln vollgestopft und machte einen vernachlässigten Eindruck. Auf dem Tisch standen noch die Reste des Frühstücks. Am Hals der Milchflasche klebte eine kleine Fliegentraube.

»Da steht das Telefon«, sagte Andy Rosell. »Los, sprechen Sie mit Tony. Seine Nummer ist LEroy-4567.«

»Schon gut«, meinte Milo. »Ich bin davon überzeugt, daß er ihre Geschichte bestätigen wird. Was kostet Sie das Alibi?«

»He, Moment mal. So dürfen Sie nicht mit mir sprechen. Ich weiß nicht, was Ihr Bullen euch eigentlich einbildet. Nur weil man einigemal im Knast gesessen hat, ist man doch kein Unmensch. Oder meinen Sie, man müßte zur Polizei oder zum FBI gehören, um die Wahrheit gepachtet zu haben? Ich war bei Tony, basta!«

»Wie gut waren Sie mit Polowsky befreundet?«

»Befreundet? Sie sind gut. Ich bin nur ’n kleiner Fisch, und Stan ist ein Big Time Manager. Ich kannte ihn, das stimmt — aber Freunde waren wir nie.«

»Er ist tot«, sägte Milo.

»Tatsächlich? Das tut mir leid«, meinte Andy Rosell gedehnt. »Autounfall?«

»Leute seines Schlages sterben nicht im Bett — und wenn es sie auf der Straße erwischt, steckt meistens mehr dahinter als menschliches Versagen. Er wurde ermordet — aber das wissen Sie ja längst.«

»Sie setzen bei mir zuviel voraus, Mister. Ich erfahre erst jetzt von dem Unglück. Offen gestanden geht es mir nicht unter‘die Haut. Seit meiner Entlassung habe ich Stan Polowsky nicht wieder zu Gesicht bekommen. Weshalb soll ich um einen Mann trauern, der in Dollars schwamm? Tja, wenn er mir gelegentlich etwas davon abgegeben hätte, wäre das etwas anderes...«

»Haben Sie eine Ahnung, wer ihn ermordet haben könnte?«

»Es wird Zeit, daß ich Ihnen klarmache, wie mein neues Leben aussieht. Ich habe mit der Vergangenheit gebrochen. Krumme Touren sind für mich passé. Ich verkehre nicht mehr mit den Polowskys dieser Welt.«

»Hört sich gut an. Es steht dummerweise in Widerspruch zu Ihrem kleinen Trinkgelage bei Tony. Soviel ich weiß, saß Garlick schon häufiger im Kasten als Sie.«

»Das war einmal. Jetzt hält er es genauso wie ich«, meinte Andy Rosell.

»Darf ich mich einmal in Ihrer Wohnung umsehen?«

»Wenn Sie -'der Dreck nicht stört — bitte!«

Milo schaute sich gründlich in der Wohnung um. »Okay, wir können gehen«, sagte er dann.

»Wohin?«

»Zum District Office.«

»Moment mal. Ich habe doch ein Alibi...«

»Das reicht von achtzehn Uhr zwanzig bis zweiundzwanzig Uhr zwanzig«, nickte Milo. »Wer sagt Ihnen denn, daß wir uns nur für diese Zeit interessieren?«

»Ich kann Ihnen auch für die restliche Zeit ein lückenloses Alibi liefern.«

»Um so besser. Mal sehen, wessen Trümpfe besser stechen«, sagte Milo. »Sie kennen doch Ray Silver, nehme ich an?«

»Nicht persönlich. Was ist mit ihm?«

»In der Indizienkette, die ihm zum Verhängnis geworden ist, spielt die sogenannte Aktivierungsanalyse eine wichtige Rolle. Ich erwähne das nur, weil ich beabsichtige, Sie mit der gleichen Methode zu konfrontieren. Sie werden beschuldigt, auf Vicky Sorensen geschossen zu haben. Die Untersuchung wird zeigen, ob sich auf Ihrer Haut Rückstände von Barium und Antimon befinden. Da wir die leeren Geschoßhülsen im Garten der Sorensens sicherstellen konnten, wird sich eine absolut präzise Vergleichsuntersuchung vornehmen lassen.«

»Das ist doch verrückt!« stieß der Gangster hervor. »Weshalb sollte ich auf ein Mädchen schießen, das ich gar nicht kenne? Sie müssen den Verstand verloren haben!«

Milo grinste unlustig. »Warum regen Sie sich auf, wenn Sie nichts zu befürchten haben? Los, kommen Sie jetzt!«

»Ich möchte mit meinem Anwalt sprechen.«

»Den können Sie aus dem District Office anrufen«, sagte Milo. »Ich habe keine Lust, noch mehr Zeit mit Ihnen zu verplempern.«

Milo und Rosell verließen die Wohnung. Der Gangster sah finster und erschöpft aus. Er merkte, wie die Wirkung des Alkohols nachließ. Er fürchtete sich nun vor dem, was ihn erwartete. Er dachte an Flucht, spürte aber genau, daß er dem G-man hoffnungslos unterlegen war.

Sie betraten die Straße. Um diese Zeit waren nur noch wenige Passanten unterwegs. »Mein Wagen steht auf der anderen Straßenseite«, sagte Milo. »Wenn...«

Weiter kam er nicht. Noch ehe er das Peitschen der Schüsse hörte, sah er das Aufblitzen des Mündungsfeuers. Milo versuchte Andy Rosell mit sich zu Boden zu reißen. Der Gangster machte sich mit einem Ruck frei, weil er meinte, die ersehnte Fluchtchance bekommen zu haben.

Andy Rosell rannte los, quer über die Fahrbahn. Ein Wagen stoppte mit hysterisch jaulenden Bremsen. Im nächsten Moment hämmerte die Maschinenpistole erneut los.

Die Geschoßgarbe erwischte Andy Rosell mitten auf der Straße. Er warf die Hände in die Luft und setzte zu einer wilden, unkontrollierten Pirouette an. Die Kugeln schüttelten seinen Körper wie ein Fieberanfall.

Er brach zusammen und blieb liegen. Auf der Straße war es plötzlich unnatürlich still. Nur wenige Sekunden lang. Dann heulte eine Maschine auf. Milo war bereits auf den Beinen, als er sah, wie sich der dunkle Ford aus seiner Parklücke löste und mit radierenden Rädern auf die Fahrbahn schoß.

Milo riß seinen Smith and Wesson aus der Schulterhalfter. Er sah, daß zwei Männer in dem Ford saßen. Sie trugen dunkelgraue Hüte. Ihre Gesichter waren nicht zu erkennen. Die Seitenfenster des Wagens waren herabgekurbelt.

Milo hob die Waffe und zielte, ließ sie aber wieder sinken, als er bemerkte, daß sich auf der anderen Straßenseite, genau im Winkel seines Schußfeldes, ein paar Neugierige flach gegen eine Hauswand preßten. Er konnte dieses Risiko nicht eingehen.

Der Ford gewann blitzschnell an Fahrt. Milo hörte, daß der Wagen eine frisierte Maschine mit hoher Drehzahl hatte. Er hatte keine Mühe, sich die Nummer des Wagens einzuprägen, aber er wußte, daß das ziemlich sinnlos war. Der Ford war entweder gestohlen worden, oder er hatte vorübergehend eine Tarnnummer erhalten.

Mit heulenden Reifen raste das Fahrzeug um die Ecke und verschwand. Nur sein hoch drehender Motor war noch für einige Zeit zu hören.

Milo stürmte auf die Fahrbahn. Er war der erste, der Andy Rosell erreichte.

Der Gangster lag in einer Blutlache, die Arme zur Seite geworfen, ein Knie leicht angewinkelt, mit seltsam verdrehtem Oberkörper. Andy Rosells Mund stand weit offen, aber er hatte nicht mehr die Kraft gefunden, sein Entsetzen in die Nacht hinauszuschreien.

Der Tod hatte ihm die Kraft von der Zunge gefegt.

***


»Er war sofort tot«, berichtete Milo. »Vielleicht hätte er eine Chance gehabt, wenn er mit mir hinter dem am Straßenrand parkenden Wagen in Deckung gegangen wäre. Aber er versuchte zu fliehen. Rosell muß geglaubt haben, daß die Kugeln für mich bestimmt gewesen seien. Er war nicht clever genug zu erkennen, daß für seine Partner sein Tod wichtiger war.«

Ich saß an meinem Schreibtisch und hatte die Beine auf der Platte liegen. Aber ich spürte nichts von der erholsamen Entspannung, die mir diese Stellung sonst gab.

»Die Gangster müssen gewußt oder geahnt haben, daß Vicky Sorensen gesungen hat«, sagte ich nachdenklich. »Sie hielten es für ratsam, die Probe aufs Exempel zu machen. Sie warteten, was mit Andy Rosell nach seiner Heimkehr passieren würde. Als sie ihn in deiner Begleitung das Haus verlassen sahen, zögerten sie nicht, die Notbremse zu ziehen.«

»Das Haus hatte leider keinen Hinterausgang, sonst hätte ich mich mit Rosell auf die französische Art empfohlen«, meinte Milo.

»Wir müssen froh sein, daß du nichts dabei abbekommen hast«, sagte ich.

»Ich bin aber nicht froh«, knurrte Milo. »Ich habe das idiotische Gefühl, versagt zu haben.«

Ich griff nach dem Telefon. Myrna verband mich mit Steve Tardelli. Steve hatte Außendienst. Er beschattete mit zwei Kollegen Joe Bradleys Haus und Wohnung.

»Hallo, Steve«, sagte ich, »was gibt’s Neues?«

»Nichts«, erwiderte er. »Ich bin ziemlich sicher, daß wir ihn weder heute noch morgen zu sehen bekommen werden. Es' ist nur so ein Gefühl - aber eins von denen, die selten trügen. Bradley hat Lunte gerochen.«

»Schon möglich«, sagte ich, »aber du wirst trotzdem die Stellung halten müssen.«

»Weiß ich«, knurrte er. »Manchmal komme ich mir vor wie ein Beamter im Wartestand.«

»Wem sagst du das?« meinte ich und legte auf.

Milo schaute mich fragend an. »Fehlanzeige«, sagte ich.

Milo setzte sich an seinen Schreibtisch und starrte aus dem Fenster. Er bemerkte nicht den rötlichen, von tausend Neonlichtern erhellten Nachthimmel New Yorks. Milo hatte inzwischen herausgefunden, daß der Ford, den die Gangster benutzt hatten, mit einer nicht registrierten Nummer ausgerüstet war.

»Ich könnte mir jetzt diesen Tony Garlick vorknöpfen, der Rosells Alibi liefern sollte«, meinte Milo. »Aber ich habe es satt, einen weiteren Haufen dummer Lügen zu schlucken. Ich ziehe es vor, mich nochmals mit Ted Guinns Kundenkartei zu befassen. Ich komme nicht davon los, daß sie uns ein paar wertvolle Hinweise liefern kann.«

»Viel Spaß dabei«, sagte ich, schwang die Beine auf den Boden und stand auf. »Ich fahre jetzt nach Hause und stelle fest, ob meine Matratze noch den gewohnten Schlafkomfort bietet.«

»Ist das dein Ernst?« fragte mich Milo und schaute auf seine Uhr. »Es ist erst halb eins!«

»Tatsächlich?« fragte ich stirnrunzelnd. »Da bin ich heute doch tatsächlich bloß 16 Stunden auf den Beinen gewesen. Macht nichts. Warum soll ich nicht auch einmal früh nach Hause gehen?«

***


Das Telefon schrillte. Ich fuhr aus dem Schlaf hoch und streckte mechanisch im Dunkeln die Hand nach dem Hörer aus. Dabei stieß ich den Apparat zu Boden. Der dumpfe Krach machte mich vollends munter. Ich knipste das Licht an, fischte mir den Hörer vom Teppich und spuckte meinen Namen in die Sprechmuschel. Es war vier Uhr morgens. Wer immer mich um diese Zeit anrief, konnte nicht erwarten, daß ich auf einen Höflichkeitswettbewerb eingestellt war.

»Tut mir leid, daß ich Sie stören muß, Jesse«, tönte die Stimme meines Chefs an mein Ohr. Seine Stimme war ruhig, sachlich, klar. Ich begriff, daß etwas Außergewöhnliches geschehen sein mußte.

»Was gibt es, Sir?« fragte ich. »Betrifft es Vicky Sorensen?«

»Nein«, erwiderte Mr. McKee. »Es geht um Ray Silver. Er ist vor einer Stunde aus dem Untersuchungsgefängnis entflohen.«

Ich hatte plötzlich das Empfinden, auf einer voll beheizten Schnellkochplatte zu sitzen. »Ray Silver!« stieß ich hervor. »Wie konnte das passieren?«

»Erste vage Ermittlungen lassen den Schluß zu, daß er zwei Gefängnisbeamte bestochen oder erpreßt hat«, erwiderte Mr. McKee. »Fest steht, daß Ray Silver in der Uniform eines Justizsergeants entkommen ist. Natürlich wird er die Uniform inzwischen mit Zivilkleidung vertauscht haben. Die Fahndung läuft auf Hochtouren. Sämtliche Ausfallstraßen, Bahnhöfe und Flugplätze werden überwacht. Aber das ist nicht das eigentliche Problem. Ray Silver ist hier in New York zu Hause. Ich bezweifle nicht, daß seine Flucht sorgfältig vorbereitet wurde und daß er bereits sein Versteck erreicht hat. Wir müssen befürchten, daß ein Chirurg eine Gesichtsoperation vornehmen wird. Wir stehen damit praktisch vor einem neuen Beginn - nach allem, was uns Ray Silvers Verhaftung an Opfern, Zeit und Mühe gekostet hat!«

»Der Coup muß von außen her betrieben worden sein«, sagte ich nach kurzer Überlegung. »Stan Polowsky war der einzige, der den Einfluß, das Geld und die notwendige Fantasie hatte, um Silvers Flucht in die Wege zu leiten. Jetzt ist Stan Polowsky tot. Das stellt Ray Silver vor neue Probleme.«

»Er wird sie lösen«, vermutete Mr. McKee düster. »Sein Name hat in der Unterwelt noch immer einen magischen Klang. Ich bin davon überzeugt, daß er auch ohne Polowsky an größere Geldreserven herankommen kann. Er wird sie einsetzen, um damit eine neue Organisation aufzubauen.«

»Er ist rachsüchtig«, sagte ich. »Er wird Polowskys Tod sühnen wollen.«

»Sie haben recht, Jesse. An diesem Punkt müssen wir ansetzen. Um Ray Silvers Spur zu finden, wird es notwendig sein, Stan Polowskys Mörder zu entdecken - oder den Weg nachzuzeichnen, den Ray Silver gehen wird, um diesen Mörder zu stellen.«

»Ray Silvers schärfster Konkurrent und erbittertster Rivale war und ist Lester Bryant«, sagte ich. »Bryant hat sicherlich das größte Interesse am Untergang der Silver-Polowsky-Gruppe.«

»Wer steht in Verdacht, Bryants Starkiller zu sein?«

»Budd Arworth«, erwiderte ich. »Er muß ab sofort unauffällig beschattet werden.«

»Ich leite das sofort in die Wege.«

»In 20 Minuten bin ich im Office«, sagte ich.

»Großartig.«

»Und was wird mit der entführten Vicky Sorensen?« wollte ich wissen.

»Ich glaube, daß sich das eine nicht vom anderen trennen läßt«, meinte Mr. McKee. »Es bleibt Ihrem Geschick überlassen, wie Sie den Fall in den Griff bekommen.«

***


Vicky Sorensen blinzelte.

Es gab jetzt schon Sekunden, wo sie meinte, völlig schmerzunempfindlich geworden zu sein. Augenblicke, wo sie weder das gleißende Licht der auf sie gerichteten Scheinwerfer noch die unerträgliche Hitze oder die Stricke an ihren Händen und Füßen spürte.

Aber dann, ganz plötzlich, waren diese Schmerzen wieder da, mit doppelter Wucht, entnervend und schockierend zugleich.

»Du hast so eine angenehme Stimme, Vicky«, drangen die Worte ihres Peinigers erneut an ihr Ohr. »Zum Verlieben schön. Im Moment hat sie leider Pause. Eigentlich war sie vorher schon reichlich schlapp. Schade. Ich muß dich warnen, Vicky-Girl. Wenn du nicht spurst, werden wir deine wundervolle Stimme ganz zum Schweigen bringen müssen.«

»Ich habe doch alles gesagt, was zu sagen war«, würgte das Mädchen hervor. Sie hatte einen pulvertrockenen Mund, obwohl ihr Gesicht schweißgebadet war.

Die Gangster hatten ihr ein Pflaster auf die Schulterwunde geklebt. Das Pflaster hatte zwar die Blutung gestillt, aber das heiße, fiebrige Brennen, das darunter wucherte und nach allen Seiten hin ausstrahlte, ließ wenig Gutes ahnen. Vicky Sorensen hätte nie geglaubt, daß ein Mensch soviel Schmerzen, Angst und Demütigungen aushalten konnte, ohne daran zu zerbrechen.

Joe Bradley, der auf der anderen Seite der zwei Scheinwerfer saß, trank laut und gluckernd. Es gab keinen Zweifel, daß.er ihren quälenden Durst auf diese Weise erneut herausfordern wollte.

»Du hast nur immer wieder versucht, uns die alten Märchen anzuhängen«, meinte er. »Wir haben Zeit. Nimmst du auch einen Schluck, Hank? Dieses eisgekühlte Zeug ist köstlich. Eine wirkliche Erfrischung.«

»Ich wiederhole, daß ich Trevellian gegenüber nichts verraten habe. Warum hätte' ich das tun sollen? Ich stehe doch auf eurer Seite. Ich würde ins Gefängnis wandern, wenn ich meine Rolle ausplauderte.«

»Sie hat wirklich Ausdauer«, sagte Bradley anerkennend. »Ich frage mich, wie lange sie das noch durchhält.«

»Ich glaube, da ist ein Fehler in unseren Berechnungen«, meinte Hank Fowler und stellte die Flasche hart auf den Tisch zurück.

»Laß hören, Hank!«, meinte Joe Bradley. »Vor Vicky-Girl brauchen wir keine Geheimnisse zu haben.«

»Du gehst davon aus; daß sie umgefallen ist, als Trevellian sie in die Mangel nahm. Ich bin nicht sicher, ob du damit richtig liegst. Du siehst doch, was die Puppe für Mumm in ihren süßen Knochen hat. Weshalb hätte sie nach allem was wir jetzt von ihrer Ausdauer wissen, ausgerechnet bei den Bullen weich werden sollen?«

»Das will ich dir sagen, Schlauberger«, meinte Bradley höhnisch. »Vicky-Girl ist keine Gangstermolly. Sie war nur ein verliebtes, dummes Mädchen, das Stan Polowsky aus der Hand fraß. Als es ihn erwischte, war der Film für sie gelaufen. Ich verwette meinen Hut, daß sie gesungen hat. Es ist die einzige Erklärung dafür, daß ein paar verdächtige Figuren vor unseren Häusern herumscharwenzeln. Noch ein Wort zu dem Mädchen. Sie weiß worum es geht. Ihre Zähigkeit wird aus Angst geboren.«

»Angst mußte sie aber auch vor Trevellian haben!« meinte Hank Fowler.

»Helfen Sie mir doch, Hank!« flehte Vicky Sorensen. »Es ist ein Glück, daß wenigstens Sie einen klaren Kopf behalten. Ich weiß auch, warum Joe mir das antut. Ich weiß es ganz genau.«

»Da bin ich aber mal neugierig!« höhnte Joe Bradley. »Na los, pack schon aus!«

»Sie konnten es nie überwinden, daß ich Sie einmal abblitzen ließ!« rief Vicky Sorensen aus. »Darum hassen Sie mich. Aus gekränkter Eitelkeit. Darum quälen Sie mich. Sie wollen, daß ich Ihnen aus der Hand fresse, nicht wahr?«

»He, stimmt das, Joe?« fragte Hank Fowler verdutzt.

»Sie spinnt!« zischte Joe Bradley. »Vicky-Girl war nie mein Typ, Alter. Das solltest du wissen. Ich stehe auf größere Oberweiten.«

»Als Stan vor zwei Monaten für ein paar Tage in Chicago war, um die Miller-Fusion abzuschließen, hat Joe sich an mich herangemacht«, sagte Vicky Sorensen. »Er kam erst wieder zu sich, als ich ihm damit drohte, Stan zu informieren.«

»Das saugt sie sich doch nicht aus den Fingern, Joe«, meinte Hank Fowler.

Joe Bradley schlug mit der Faust so hart auf den Tisch, daß die Flasche umfiel. Sie rollte über die Kante, fiel zu Boden und zerbrach. »Verdammt noch mal, ich habe ihr vielleicht ein paar dumme Komplimente gemacht, sonst nichts!« sagte er. »Aber es geht hier einzig und allein darum, ob sie gesungen hat - und wieviel die Bullen von ihr erfahren haben. Das müssen wir genau wissen. Jede Einzelheit. Es ist wichtig, um die Abwehr zu organisieren.«

»Okay, okay - du hast ja recht«, meinte Hank Fowler müde und hob die Flaschenreste vom Boden auf. »Ich finde nur, daß wir uns erst mal eine Pause gönnen und uns aufs Ohr hauen sollten. Weißt du überhaupt, wie spät es ist?«

»Und ob ich das weiß!« sagte Joe Bradley. »Die Zeit arbeitet für uns, Hank. Sieh dir doch unsere gefeierte junge Schönheit einmal genau an! Bemerkst du die Ringe unter ihren zauberhaften Augen? Das ist kein Make-up, Hank, das sind die Vorzeichen der Kapitulation. Wenn du willst, können wir das Verfahren beschleunigen,«

»Wie denn?«

»Ganz einfach«, sagte Joe Bradley ruhig. »Reiß ihr die Bluse auf und drücke ihr die glühende Zigarette auf die Haut. Das wird Vicky-Girl schon sprechen lassen. Los, versuch es doch mal!«

»Nein, nein!« stammelte Vicky Sorensen. »Das dürfen Sie nicht machen.« Sie wollte noch etwas sagen, aber die Angst schnürte ihr die Kehle zu.

»Du kannst sie auch mit den Flaschensplittern ein wenig anritzen«, höhnte Joe Bradley. »Es kommt bloß darauf an, daß du dir die richtige Stelle aussuchst.«

»Allmählich glaube ich, was Vicky von dir behauptet«, grunzte Hank Fowler wütend. »Du haßt sie«.

»Ich wollte dir nur ein wenig entgegenkommen«, spottete Joe Bradley. »Ich dachte, du willst dich hinlegen? Meinetwegen - hau ab! Das hier führe ich auch allein zu Ende.«

Ein Frösteln überlief das Mädchen. Es war schlimm genug gewesen, die Tortur bis zu diesem Augenblick durchzuhalten. Aber der Gedanke, mit Joe Bradley allein gelassen zu werden, war noch schlimmer.

»Ich bleibe!«, erklärte Hank Fowler, der zu ahnen schien, was in dem Mädchen vorging.

»Ich bleibe!« erklärte Hank Fowler, der zu ahnen schien, was in dem Mädchen vorging.

»Wie du willst«, meinte Joe Bradley, »aber dann halt dein Maul!«

Er erhob sich, kam um den Tisch herum und trat in das gleißende Scheinwerferlicht. Vicky Sorensen blinzelte und verzog das Gesicht. Bradleys Körpergeruch stieß sie ab. Sie vermochte nur die Umrisse des Mannes zu erkennen. Ihre gequälten Augen waren außerstande, sich auf etwas zu konzentrieren.

Joe Bradley trat so dicht neben seine Gefangene, daß er mit seiner Hüfte ihre Schulter berührte. Vicky Sorensen zuckte zusammen, als sich erneut der Schmerz in ihrer Schußwunde meldete.

»Warum willst du mir nicht die Wahrheit sagen, Vicky-Girl?« fragte er mit sanftem, bohrendem Spott. »Ich kriege sie doch aus dir heraus. Mit deiner Sturheit erweist du dir keinen Gefallen. Du verlängerst damit bloß deine Qualen.«

Vicky Sorensen preßte die Lippen zusammen, weil sie merkte, wie ihr Mund zu zittern begann. Sie wollte nicht mehr weinen, nicht vor Bradley. Aber er hatte recht. Früher oder später würde sie unter dem Druck dieser Tortur zusammenbrechen. War es da nicht sinnlos und sogar dumm, sich noch länger zu widersetzen?

Andererseits wußte sie, was auf sie zukam, wenn Joe Bradley die volle Wahrheit erfuhr. Er war rachsüchtig. Er suchte nur nach einem Vorwand, um mit ihr endgültig Schluß machen zu können.

Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Die Gangster hatten sie mit verbundenen Augen über Treppen und Korridore geführt und dann hier an den Stuhl gefesselt. Als sie ihr die Augenbinde abgenommen hatten, war sie von den Scheinwerfern angestrahlt.

Der feucht-muffige Geruch ungelüfteter Räume und die völlige Stille, die sie umgab, ließen Vicky Sorensen vermuten, daß sie sich in einem großen, leer stehenden Gebäudekomplex befanden, möglicherweise in einer verlassenen Fabrik.

»Nein!« schrie Vicky Sorensen, als sie Bradleys Hand aüf ihrer Haut spürte. Er strich ihr mit den Fingerspitzen sanft und wie streichelnd über den glatten Oberarm. Dann, mit einem jähen Ruck, riß er ihr die Bluse auf.

»Das wird eine Lektion für dich und Hank«, höhnte Joe Bradley, dessen Finger schon wieder in dieses trügerisch-herausfordernde Streicheln verfallen waren.

»Hör auf damit!« schaltete sich Fowler ein. »Ich pfeife auf deine Belehrungen.«

Hank Fowlers Stimme klang verändert, flach und gepreßt. Vicky Sorensen konnte ihn nicht sehen, aber sie begriff, was seine Verwandlung bewirkte. Seine Blicke saugten sich in diesem Moment an ihren runden Schultern und an der glatten schimmernden Haut fest.

»O ja, Vicky-Girl ist schön«, spottete Joe Bradley.

Seine Finger stoppten. Vicky Sorensen stieß einen Schrei aus, fast gegen ihren Willen. Sie befürchtete, Bradley würde ihr die Wäsche vom Leib reißen.

Es war, als weckte ihr Hilferuf ein Echo. Irgendwo im Raum klingelte ein Telefon, dünn und blechern.

»Wer kann das sein?« fragte Fowler nervös.

Joe Bradley zog seine Hand von Vickys Haut zurück. »Laß mich das machen«, sagte er unwirsch.

Vicky Sorensen hörte, wie er sich mit hallenden Schritten entfernte.

»Ja?« fragte er kurz darauf. Dann hörte er nur noch zu. Vickys Herz hämmert wild. Sie spürte, daß dieser Anruf über ihr Schicksal entscheiden würde.

»Ja, Boß«, sagte Joe Bradley, »wir kommen.«

Obwohl er nur diese wenigen Worte äußerte, war zu erkennen, wie er sich dem Gesprächspartner gegenüber duckte, wie er servil und unterwürfig wurde. Er hatte es genossen, den Big Shot zu spielen, aber in dieser Minute wurde klar, daß er nur eine Laus war, ein Abhängiger.

»Mit wem hast du gesprochen?« fragte Fowler verwundert, während Joe Bradley an den Tisch zurückkehrte.

»Mit Ray Silver«, erwiderte Joe Bradley. »Er braucht uns. Wir sollen sofort zu ihm kommen.«

»Wo ist er?«

»Ich weiß Bescheid«, sagte Joe Bradley ungeduldig und knipste einen der Scheinwerfer aus.

»Und was wird mit Vicky?« wollte Hank Fowler wissen.

Joe Bradley lachte kurz. »Dreimal darfst du raten!«

»Hat Ray dir irgendwelche Anweisungen gegeben?«

»Ich brauche sie nicht. Ich kann allein entscheiden, was in diesem Fall das Richtige ist. Du etwa nicht?«

»Worauf willst du hinaus?«

»Blöde Frage. Vicky-Girl ist uns im Weg, Hank. Es wird Zeit, daß wir uns Platz verschaffen und sie beiseite räumen. Und zwar sofort.«

***


»Sieh dir das mal an«, meinte Milo und hielt mir eine von Ted Guinns Karteikarten unter die Nase. »Sie enthält den Namen Oliver Fulton, sonst nichts.«

»Was ist damit?«

»He, träumst du noch? Oliver Fulton. Klick, machte es, als der Groschen fiel.« Ich stieß einen dünnen Pfiff aus. »Fulton. So heißt einer der Burschen, die von Silver erpreßt wurden. Stimmt’s?«

»Genau. Oliver Fulton, der Gefängniswärter. Ted Guinn hatte den Namen dieses Burschen in seiner Kartei, als Ray Silver noch hinter Gittern saß. Was schließt du daraus?«

»Da gibt es eine Verbindung«, sagte ich. »Ted Guinn muß gewußt haben, was Ray Silver vorhatte — und er wußte auch, welche Rolle Fulton bei der geplanten Flucht spielen sollte. Aber wie kommt es, daß Ted uns nicht früher benachrichtigte?«

»Für ihn war die Zeit noch nicht reif. Er wollte uns mit einer lückenlosen Beweiskette überraschen«, vermutete Milo.

»Augenblick mal. Dieser Fulton muß doch einmal bei ihm gewesen sein — sonst gäbe es von ihm keine Klientenkarte«, sagte ich.

»Vielleicht hatte er sich angemeldet und ist dann nicht gekommen. Oder Fulton wurde von Ted Guinn telefonisch um einen Besuch gebeten und ignorierte die Aufforderung.«

»Du mußt mit Fulton sprechen«, sagte ich.

Milo nickte und ging zur Tür. »Und was steht auf deinem Arbeitsplan?«

Ich erhob mich. »Ein Besuch bei dem Mann, der Rosells Alibi liefern sollte.«

»Ich denke, du pfeifst auf Tony Garlick?«

»Ja und nein. Natürlich wird er versuchen, mich mit einem Haufen Lügen einzudecken, andererseits komme ich nicht daran vorbei, daß Tony Garlicks Eintreten für Andy Rosell nicht bloß auf der Basis eines dicken Schmiergeldes vorbereitet worden sein kann. Wenn Tony Garlick bereit war, für Andy Rosell die Schwurhand zu heben, um ihm ein Alibi zu verschaffen, kann das ebensogut bedeuten, daß Tony Garlick der Polowsky-Silver-Gruppe verpflichtet ist. Wenn das zutreffen sollte, kann er uns möglicherweise als Informationsquelle für den gegenwärtigen Aufenthaltsort des prominenten Ausreißers dienen.«

Neun Uhr dreißig klingelte ich an Tony Garlicks Wohnungstür. Sein Apartment befand sich in der Etage über dem Silbernen Stiefel. Ich mußte mein Klingeln zweimal wiederholen, ehe schlurfende Schritte in der Diele ertönten. Die Tür öffnete sich. Auf der Schwelle erschien eine zerzauste Blondine in einem sehr offenherzig gegürteten Morgenmantel. Sie hielt eine Zigarette zwischen den Fingern. Sie machte den Eindruck, als sei sie von meinem Klingeln aus dem Bett geholt worden.

»Wo brennt’s denn so früh?« wollte sie wissen.

»Ich muß mit Tony sprechen — und zwar rasch«, machte ich ihr klar.

»Dann müssen Sie die Kurve kratzen — und zwar rasch«, meinte das Mädchen. »Er ist vor drei Minuten gegangen.«

»Wohin?«

»Zur Garage, um seinen Wagen zu holen. Er will partout für ein paar Tage verreisen.«

»Wohin?«

»Das hat er mir nicht gesagt, der Schuft. Was wollen Sie denn von ihm?«

»Das sage ich ihm am besten selbst. Wo ist die Garage?«

»An der Ecke hinter der Tankstelle.« Ich raste die Treppe hinab. Zwei Minuten später hatte ich die Kreuzung erreicht. Ich war erleichtert, als ich Tony Garlick aus der verglasten Box der Tankstelle kommen sah. Sein Wagen, ein knallroter Pontiac Le Mans, stand fahrbereit vor einer Zapfsäule.

Ich kannte Garlick nur von Fotos und wußte nicht, ob er mich schon einmal gesehen hatte. Sein Zusammenzucken, als er mich sah, sprach dafür, daß er genau wußte, was ihn erwartete.

»Mr. Garlick?« fragte ich ihn höflich. Er nickte gelassen und mit der ungeduldigen Arroganz, die ihm helfen sollte, sein Erschrecken zu vertuschen. »Was gibt’s denn, Partner?«

»Ich bin Jesse Trevellian vom FBI«, sagte ich. »Ich würde gern ein paar Fragen an Sie richten.«

»Schießen Sie los«, meinte er und lehnte sich an die Zapfsäule. Es schien ihm nichts auszumachen, daß auf diese Weise der Tankwart mithören konnte.

»Wollen wir nicht zu Ihnen gehen?« fragte ich.

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin froh, daß ich die leidige Abschiedsszene mit Jane hinter mir habe. Sie neigt zu dramatischen Ausbrüchen. Hat sie Ihnen gesagt, daß ich wegfahren will?«

»Ja, aber ich weiß noch nicht, wohin Sie reisen möchten und was Sie zu dem plötzlichen Aufbruch bewegt.«

»Na, Sie machen mir Spaß. Was kümmern Sie meine Privatangelegenheiten?«

»Eine ganze Menge. Sie wissen, was Andy Roself zugestoßen ist?«

»Ich weiß nur, daß er sich gestern bei mir besoffen hat«, sagte Tony Garlick. »Wenn er so weitermacht, landet er eines schönen Tages in der Trinkerheilanstalt.«

»Denken Sie lieber an sich«, empfahl ich ihm. »Ist Ihnen eigentlich klar, wo Sie landen werden, wenn Sie sich darauf einlassen, für Leute vom Schlage Andy Rosells zu bürgen?«

»Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen. Meine Devise ist es, der Wahrheit treu zu bleiben — da kann mir nichts passieren.«

»Wenn ich richtig orientiert bin, saßen Sie zweimal wegen Falscheids hinter Gittern.«

»Jugendsünden. Das ist vorbei.«

»Überlegen Sie sich bitte genau, was Sie jetzt sagen. Ihre Worte können unter Umständen gegen Sie verwendet werden. Wann war Rosell gestern bei Ihnen?«

»Moment mal. Er kreuzte irgendwann nach sechs auf und blieb so bis gegen zehn.«

»Das können Sie beschwören?«

»Warum denn nicht? Er hat mich die ganze Zeit mit seinen blöden Geschichten angeödet. Ich war froh, als er sich endlich entschloß, die Kurve zu kratzen.«

»Das Dumme ist nur, daß er zu dem von Ihnen angegebenen Zeitpunkt an einem anderen Ort gesehen wurde.«

»Tatsächlich?« Garlick wurde unsicher.

»Ich habe ihn gesehen, Mister.«

»Dann muß er einen Doppelgänger haben«, meinte Garlick. »Was mich betrifft, so kann ich schwören, mit dem richtigen Andy gesprochen zu haben.«

»Mit Schwüren sollten Sie vorsichtiger sein«, sagte ich.

»Sie haben kein Recht, mich zu schulmeistern!« erklärte er scharf.

»Andy Rosell ist tot«, sagte ich.

Tony Garlick riß in gespieltem Erstaunen die Augen auf. »Tot?« echote er.

»Es steht in den Morgenzeitungen — und ich wette, daß Sie den Bericht schon gelesen haben. Ich halte es sogar für wahrscheinlich, daß diese Nachricht Sie zu Ihrer plötzlichen Abreise veranlaßte.«

»Sie irren sich — wie meistens«, sagte er. »Ich war heute morgen mit anderen Dingen beschäftigt. Ich mußte meine Koffer packen und hatte keine Zeit, mir die Zeitung vorzuknöpfen.«

»Lokalbesitzer stehen selten so früh auf«, sagte ich.

»Ich will verreisen, das ist die Erklärung«, sagte er.

Ich griff durch das herabgekurbelte Fenster von Tony Garlicks Pontiac. Die Morgenzeitung lag auf dem Beifahrersitz. Es war auf Anhieb zu erkennen, daß sie bereits einmal aufgeschlagen und wieder zusammengelegt worden war.

Als ich sie berührte, hörte ich hinter mir einen halblauten verblüfften Ausruf. Ich zuckte herum und bekam im nächsten Moment eine volle Ladung Benzin ins Gesicht gespritzt.

Tony Garlick hatte den Moment, als ich ihm den Rücken zukehrte, auf seine Weise genutzt. Er hatte dem Tankwart den Schlauch aus der Hand gerissen und mir den vollen Benzinstrahl in die Augen gelenkt.

Der Treibstoff verursachte ein höllisches Brennen und raubte mir für einige Sekunden die Sicht. Ich hörte nur, wie Tony Garlick kehrtmachte und davonrannte.

Ich zwang mich dazu, die brennenden Augen aufzureißen. Wie durch eine von Regenwasser überschüttete Windschutzscheibe sah ich Tony Garlick in die breite Gasse rennen, die zwischen zwei Garagenreihen lag. Ich stürmte ihm hinterher.

Das Garagengrundstück wurde von einer hohen weißgetünchten Mauer begrenzt. Garlick sprang sie aus dem Lauf heraus an, krallte sich mit seinen Händen an der Oberkante fest, zog sich mit einem KMmmzug daran hoch und schaffte es, auf der anderen Seite zu landen, noch ehe ich zu dem gleichen Manöver ansetzte.

Als ich auf der Mauer saß und bereit zum Absprung war, entdeckte ich Tony Garlick. Er stand nur wenige Yard von der Mauer entfernt. Er hielt eine Pistole in der Hand.

»Wenn ich jetzt abdrücke, ist die Trevellian-Legende ein und für allemal erledigt«, sagte er drohend.

Ich blinzelte. Meine Augen brannten noch immer. Trotzdem sah ich noch genug, um daraus meine Schlüsse ziehen zu können.

Er mußte wissen, daß er in der Klemme saß und daß ihm die Pistole dabei nicht helfen konnte.

Ich sprang von der Mauer in den asphaltierten Hof. Er gehörte zur Rückseite eines mehrstöckigen Wohnhauses. Auf den Baikonen flatterte bunte Wäsche. Zwei Kleinkinder auf einem Balkon des ersten Stockwerkes klammerten sich an die eisernen Gitterstäbe und verfolgen fasziniert, was sich nur wenige Yard von ihnen entfernt abspielte.

»Stehenbleiben!« keuchte Tony Garlick und hob den Pistolenlauf um wenige Millimeter. Die Mündung zielte direkt auf mein Herz.

Ich wußte, daß ich mit dem Feuer spielte, aber kalkuliertes Risiko gehört zu den Notwendigkeiten meines Berufs. Tony Garlick war kein Narr. Andererseits bewies sein Fluchtversuch, daß er zu Kurzschlußhandlungen neigte und seine Nerven nicht immer voll unter Kontrolle hatte. Trotzdem konnte ich nicht mehr zurück. Ich hatte nur dann eine Chance mit ihm fertig zu werden, wenn er merkte, daß ich die Situation nicht aus der Hand gab.

»Machen Sie keinen Unsinn«, warnte ich ihn. »Man weiß, wo ich bin. Wenn mir etwas zustößt, haben Sie das FBI des ganzen Landes auf dem Hals. Das wäre Ihr Ende, Tony.«

Ich griff nach seiner Pistole. Er überließ sie mir, aber als ich sie einsteckte, schoß er plötzlich seine Linke ab und landete einen knallharten Treffer in meiner Magengrube.

Er konnte gut boxen. Aber schön nach der ersten Minute des sehr hart geführten Fights stellte sich heraus, daß die Nachtarbeit in seinem Lokal seiner Fitness wenig nützlich gewesen war.

Ich schob ihn fast nach Belieben vor mir her. Schließlich holte ich ihn mit einem rechten Haken von den Beinen. Ich überzeugte mich davon, daß er keine weiteren Waffen bei sich hatte und wartete, daß er wieder zu sich kam.

Er fluchte leise vor sich hin, als ich ihm zwanzig Sekunden später auf die Beine half. »Nehmen wir wieder die Mauer?« fragte ich ihn. »Oder verschwinden wir durch die Hoftür und den Hausflur?«

Zehn Minuten später saßen wir in Garlicks Wohnzimmer. Die Blondine brachte mir auf meinen Wunsch hin e;n feuchtes Tuch. Ich rieb mir das Gesicht damit ab und zog mein nach Benzin stinkendes Jackett aus. Garlick scheuchte das Mädchen aus dem Zimmer, als es ihn mit Fragen bestürmte.

»Packen Sie aus«, sagte ich zu ihm.

Er steckte sich eine Zigarette an. »Was gibt’s da schon zu sagen?« knurrte er. »Ich kriegte es mit der Angst zu tun, als ich von Rosells Tod las. Ich dachte mir, es sei das beste, wenn ich für ein paar Tage aus der Stadt verschwinden würde. Rosell war vor seinem Tod bei mir. Ich kenne die Bullen. Einem Vorbestraften trauen die alles zu. Ich wollte nicht in die Mangel genommen werden, verstehen Sie?«

»Ist Ihnen nicht klar, daß Sie jetzt alles viel schlimmer gemacht haben?«

»Das beweist nur, daß ich Angst hatte und unschuldig bin«, behauptete er. »Wenn ich wirklich etwas ausgefressen hätte, würde ich mich anders verhalten haben.«

»Sie können den Schaden leicht reparieren.«

»Ich bleibe dabei, daß Andy zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Uhr bei mir war«, meinte er störrisch.

»Ich spreche augenblicklich nicht von Andy, sondern von Ray Silver«, sagte ich.

Tony Garlick zuckte zusammen. Er blickte mir in die Augen, ganz kurz nur, dann senkte er die Lider.

»Ich kenne ihn nicht«, behauptete er.

»Aber natürlich wissen Sie, wer er ist.«

»Das weiß doch jedes Kind!«

»Sie sind sicherlich auch darüber informiert, daß Ray Silver heute nacht aus dem Gefängnis entkommen konnte.«

»Ich hörte es im Radio. Ja und? Ich habe mit Silvers Flucht nichts zu schaffen!«

»Ich frage mich gerade, ob ich Ihnen das abkaufen soll. Ich frage mich weiter, ob Ihre Reisevorbereitungen und die damit verbundenen Kurzschlußhandlungen wirklich auf Andy Rosell zurückzuführen sind — oder ob nicht vielmehr Ray Silver dahintersteht.«

Tony Garlick riß das Kinn hoch, als hätte ich ihm einen schweren Haken versetzt. In seinen Augen flackerte es. »Was habe ich mit Silver zu tun?« fragte er. »Ich kann bloß wiederholen, daß ich ihn.nicht kenne.«

»Sie kannten Andy Rosell«, stellte ich fest. »Rosell arbeitete für Stan Polowsky, und Polowsky war Silvers rechte Hand. Liegt es da nicht nahe, gewisse Verbindungen zu suchen? Wie ich hörte, bringt Ihnen der Silberne Stiefel eine Menge Geld ein. Ein Mann mit Ihrer Vergangenheit wäre wohl nur unter zwei Bedingungen bereit, den Schwurfinger für einen Andy Rosell zu heben. Sie müßten entweder finanziell in Druck sein, oder Sie müßten sich vor Silver fürchten. Sie versuchten zu fliehen, um nicht mit Silver Zusammentreffen zu müssen.«

»Hören Sie auf mit diesem Unsinn!« knurrte Tony Garlick.

Die Tür öffnete sich. In ihrem Rahmen erschien die Blondine. Sie trug noch immer den offenherzigen Morgenmantel und rauchte, aber inzwischen hatte sie sich gekämmt und mit einer Schicht Make-up ansehnlich gemacht.

»Hau ab!« herrschte Tony Garlick sie an.

»Ich will dir doch nur helfen, Tony«, sagte sie verärgert.

»Wenn du nicht sofort verschwindest, kriegst du das Ding an den Kopf!« drohte er und griff nach einer mit Nelken gefüllten Kristallvase.

Das blonde Girl schüttelte ihr Haar zurecht und trat mit entschlossenem Gesichtsausdruck näher. »Das wirst du nicht wagen, Tony«, sagte sie halblaut. »Du weißt genau, daß ich es gut mit dir meine.«

Tony Garlick zitterte vor Wut am ganzen Körper. Aber meine Gegenwart hinderte ihn daran, sich zu entladen. Das Mädchen zog sich einen Stuhl heran und schlug ihre Beine übereinander. Der zurückfallende Morgenmantel enthüllte dabei mehr, als schicklich war.

»Tony hat mit den krummen Touren wirklich Schluß gemacht«, wandte sich das Girl an mich. »Er kann von dem Lokal leben — und zwar gut leben. Das blöde ist nur, daß ihn seine Vergangenheit immer wieder einholt. Polowsky hat ihn erpreßt.«

»Womit?« fragte ich.

Tony Garlick lehnte sich zurück. Er war leichenblaß. »Okay«, sagte er resignierend. »Vielleicht hat Jane recht. Es hat keinen Zweck, den Kopf in den Sand zu stecken oder vor einer Drohung davonzulaufen. Polowsky wußte ein paar Sachen von mir. Bei meinen Vorstrafen reichten die für mindestens ein Jahr. Es sind Sachen, die lange zurückliegen, aber noch nicht verjährt sind.«

»Ich verstehe«, sagte ich. »Polowsky hatte Sie damit in der Hand. Was Polowsky wußte, war auch seinen Mitarbeitern bekannt — also Bradley, Fowler und Rosell. Als Rosell ein Alibi brauchte, setzte er Sie mit diesem Wissen unter Druck.«

»Ja«, gab Tony Garlick zu.

»Na, endlich!« sagte das Mädchen erleichtert. »Du hättest gleich zur Polizei gehen sollen!«

»Shut up! Du hast doch keine Ahnung«, sagte Tony Garlick bitter. »Einem wie mir glaubt man nicht. Die hätten glatt behauptet, daß ich Stan Polowskys Mörder sei.« Er starrte mich an. »Na, denken Sie nicht genauso, G-man? Stan Polowsky war doch mein Feind, nicht wahr? Er erpreßte mich. Klar, Garlick legt ihn um!«

»Das hätte für Sie nur dann einen Rinn gehabt, wenn Sie gleichzeitig auch Hradley, Fowler und Rosell erledigt hätten«, stellte ich fest. »Nein, an Stan Polowskys Tod sind Sie gewiß unschuldig.«

»Das sagen Sie«, knurrte er. »Es wird ein paar Leute geben, die anders darüber denken.«

»Sie haben also gestern mit Andy Rosell gesprochen. War er hier, oder haben Sie mit ihm telefoniert?«

»Er war hier — nachdem er das Ding bei Sorénsen gedreht hatte«, sagte Tony Garlick. »Er drohte mir, mich hochgehen zu lassen, wenn ich nicht für ihn geradestehe. Ich hatte keine andere Wahl, verdammt noch mal!«

»Sie wissen, daß Sie sich einige dumme und sehr verhängnisvolle Fehler geleistet haben«, sagte ich. »Sie können sie wiedergutmachen, indem Sie uns helfen, Ray Silver hopp zu nehmen.«

»An dem verbrenne ich mir nicht die Finger!«

»Hand aufs Herz, Tony. Sind Sie abgehauen, weil Rosells Tod Sie schockte, oder hatten Sie Furcht vor Ray Silver?«

»Beides spielte eine Rolle«, meinte Tony Garlick, »aber Sie haben recht, es stimmt, daß ich Silver nicht persönlich kenne — aber ich bin überzeugt davon, daß er weiß, womit Stan Polowsky mich fest in der Hand hatte. Ray Silvers Syndikat ist nur noch in Fragmenten erhalten. Ich habe Angst, ,daß Ray Silver sich an alle wendet, von denen er glaubt, daß sie ihm helfen und ihn unterstützen könnten — unter anderem an mich. Deshalb packte ich heute morgen meine Koffer. Deshalb habe ich versucht, mich aus dem Staub zu machen.«

»Das hast du nicht einmal mir gesagt«, murmelte das Girl.

»Du brauchst nicht alles zu wissen.«

»Sie können etwas tun, um sich von diesem Druck zu befreien. Treten Sie: die Flucht nach vorn an!«

»Wie meinen Sie das?«

»Dienen Sie uns als Köder. Ihr Entgegenkommen wird dazu beitragen, daß die von Ihnen gemachten Fehler und Vergehen eine für Sie günstige Wertung erfahren.«

»Auf diese Versprechen gebe ich gar nichts«, sagte Tony Garlick. »Wissen Sie überhaupt, wer Ray Silver ist — und wie er ist? Es gibt keinen brutaleren Syndikatsboß. Er hat noch immer enorme Möglichkeiten. Er wird alle seine 'Feinde abservieren.«

Das Telefon klingelte.

»Das ist er!« stieß Tony Garlick hervor. »Ich fühle es. Was soll jetzt geschehen?«

»Nehmen Sie das Gespräch ab«, sagte ich. »Tun Sie so, als wären Sie allein. Kommen Sie ihm entgegen, aber nicht zu auffällig.«

Tony Garlick griff nach dem Telefonhörer. Ich stellte mich dicht hinter ihn, und blickte über Garlicks Schulter. Ich sah die Furcht in den Augen des blonden Girls.

»Ja?« raunzte Garlick in die Sprechmuschel.

»Hallo, Tony«, ertönte es am anderen Leitungsende. »Hier spricht Joe. Dein alter Freund Joe. Du erinnerst dich doch?«

Garlick entspannte sich ein wenig. »Joe Bradley?« fragte er.

»Stimmt genau. Hast du schon gehört, was dem armen Andy zugestoßen ist? Es ist wirklich ein Jammer tun ihn. Aber so spielt nun mal das Leben!«

»Wer hat es getan?« fragte Garlick. »Woher soll ich das wissen? Ich war nicht dabei, alter Junge. Oder meinst du, ich brächte es fertig, auf einen guten alten Freund zu ballern?«

»Genau das-'traue ich dir zu!« sagte Tony Garlick schroff.

Der Anrufer lachte. »Du hast recht, Tony. Ich wäre dazu imstande. Aber vergessen wir den armen Andy. Er hat keine Sorgen mehr. Ich rufe nicht seinetwegen an, Tony. Ich brauche Geld.«

»Ich habe keins.«

»Langsam, langsam, alter Junge. Dein Laden geht doch großartig, nicht wahr? Wie ich höre, ist er jeden Abend knüppelvoll.«

»Weil ich gute Getränke zu niedrigen Preisen anbiete«, sagte Garlick. »Weil meine Diskothek den Leuten gefällt. Und weil ich prima eingerichtet bin.«

»Ich wette, du hast dir inzwischen ein fettes kleines Sparpolster zugelegt, eine Rücklage, wie es so schön heißt. Die brauche ich, Tony. Eine einmalige Zahlung. Fünfzehntausend Bucks!«

»Du tickst wohl nicht richtig? Ich habe nicht mal ein Drittel davon auf meinem Konto.«

»Die Bank leiht dir das Geld ganz bestimmt. Schließlich bist du ein guter Kunde, und sie wissen, was dein Laden abwirft«, sagte Joe Bradley.

»Wofür brauchst du das Geld?«

»Gut, daß du mich danach fragst«, meinte Bradley gedehnt. »Das ist nämlich ein Punkt, der auch dich interessieren dürfte. Ich will das Moos nicht für mich haben. Ich versuche damit einem alten Freund zu helfen, der ganz plötzlich in der Stadt aufgekreuzt ist. Er kann nicht an seine Konten heran. Wenn er erfährt, daß du einer von denen bist, die ihm aus der Patsche helfen wollen, wird er sich eines Tages dafür erkenntlich zeigen — und das kann sehr gewinnbringend sein.«

»Rede nicht so blöd herum«, schnauzte Tony Garlick. »Handelt es sich um Ray?«

»Nehmen wir einmal an, es wäre so«, meinte Joe Bradley. »Würdest du dann zahlen?«

Tony warf mir einen Blick über die Schulter zu. Ich nickte zufrieden. Bis jetzt machte Garlick seine Sache ausgezeichnet.

»Ich biete dir einen Vergleich an«, sagte Tony Garlick mürrisch. »Ich überlasse dir zehntausend für Ray — dafür höre ich nie wieder etwas von euch. Einverstanden?«

»Fünfzehntausend, mein Alter«, beharrte Joe Bradley auf seiner Forderung.

»Zehntausend, keinen Cent mehr.«

»Das kann ich nicht entscheiden.«

»Okay, rufe mich wieder an«, sagte Tony Garlick.

»Moment, Alter. Ray ist bei mir.«

Tony Garlick hielt mir den Hörer ans Ohr. Ich konnte nichts verstehen. Das unverständliche Getuschel wurde von einem starken Rauschen in der Leitung untermalt. Ich wollte Garlick etwas zuflüstern, aber gerade in diesem Moment meldete sich Joe Bradley zu Wort.

»Geht in Ordnung, Tony«, sagte er. »Zehntausend in kleinen und mittleren Scheinen. Wann kriege ich den Kies?«

»Überhaupt nicht«, meinte Tony Garlick gelassen. »Ich- liefere nur an Ray.«

»Du spinnst jvohl, was?«

»Nun hör mir mal gut zu, Joe. Ich schulde dir nichts. Nicht einen Cent. Du setzt mich unter Druck, indem du mir mit Ray einheizt. Woher soll ich wissen, daß das kein Trick ist? Vielleicht hast du von seiner Flucht gelesen und hältst es für clever, damit ein paar Geschäfte zu machen. Rays Name hat noch immer die alte Zugkraft.«

»Gut, daß du das weißt. Du kannst nicht erwarten, daß Ray ausgerechnet jetzt seinen Bau verläßt — nur um von dir ein paar lausige Bucks in Empfang nehmen zu können. Zehntausend sind für einen Mann seines Formats ein Trinkgeld.«

»Um so besser. Dann wird es ihm nicht schwerfallen, darauf zu verzichten.«

»Du spielst mit dem Feuer, Tony!« sagte Joe Bradley scharf und drohend.

»Wieso? Ich habe mich bereit erklärt, das Geld aufzutreiben und Ray auszuhändigen«, erklärte ihm Tony Garlick. »Wenn er es nicht haben will, soll es mir nur recht sein.«

»Jetzt will ich dir mal was sagen...«, begann Joe Bradley, aber er wurde plötzlich von der Stimme eines Mannes unterbrochen, der ihm offenbar den Hörer aus der Hand gerissen hatte.

»Hier spricht Ray Silver«, sagte die Stimme. »Guten Tag, Tony. Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Sie sind ein tüchtiger Mann. Tüchtige Leute tun stets das Richtige. Weil das so ist, werden Sie damit einverstanden sein, das Geld an Joe auszuhändigen. Er handelt in meinem Sinn.«

Ich merkte, wie sich beim Klang dieser ruhigen, Autorität ausstrahlenden Stimme Tony Garlicks Muskeln spannten. »Ja, Sir«, sagte er. »Wird erledigt.«

»Können Sie das Geld noch heute auftreiben?«

»Das wird sich machen lassen.«

»Gut. Packen Sie es in eine Aktentasche, und übergeben Sie es Joe um einundzwanzig Uhr zehn an der Kreuzung 110. Straße. Sollten Sie sich mit dem FBI in Verbindung setzen, brauchen Sie sich um die Rückzahlung der zehntausend Bucks keine Gedanken mehr zu machen — dann sind Sie innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden ein toter Mann. Dafür stehe ich gerade. Haben wir uns verstanden?«

»Ich kann es mir nicht leisten, mit den Bullen zusammen zu arbeiten, Sir«, sagte Tony Garlick.

»Ich hoffe, Sie vergessen es nicht — zu Ihrem Vorteil«, meinte der Mann am anderen Leitungsende. Ein leises Klicken ertönte. Ray Silver hatte aufgelegt.

Tony Garlick warf den Hörer aus der Hand und setzte sich. Er zitterte plötzlich am ganzen Leib.

»Wie soll es jetzt weitergehen?« fragte er matt.

»Das«, erwiderte ich, »knobeln wir jetzt gemeinsam aus.«

Ray Silver lag auf einer großen, bequemen Couch, eine Zigarette im Mund, das halbvolle Whiskyglas in Reichweite. Neben ihm surrte ein kleiner Ventilator und erzeugte eine angenehme Brise. Das gedämpft spielende Radio sorgte dafür, daß sich die Atmosphäre von Luxus und Geborgenheit verdichtete. Joe Bradley stand am Fenster und blickte auf die Straße hinab.

Das Apartment lag im zwölften Stockwerk eines modernen Hochhauses. Die Wagen und Passanten auf der Straße hatten aus diesem Blickwinkel Lilliputformat.

»Wir hätten die Puppe abservieren können«, meinte Joe Bradley, ohne sich umzuwenden, »aber dann fiel mir ein, daß es eine gute Idee wäre, Vicky als Geisel zu behalten. Es könnte ja immerhin sein...« Er unterbrach sich plötzlich und hatte nicht mehr den Mut, den Satz zu beenden.

»Es könnte sein«, ergänzte Ray Silver spöttisch, »daß Sie mich schnappen. Das wolltest du doch sagen, nicht wahr?«

Joe Bradley schluckte. Er drehte sich um und grinste töricht. »Es ist kein Fehler, wenn man ein paar Reservepfeile im Köcher hat«, meinte er.

Warum fühlte er sich in Silvers Gegenwart nur so befangen? Es war zum Davonlaufen, aber dieser Ray Silver brachte es tatsächlich fertig, seine Umgebung durch seine bloße Gegenwart einzuschüchtern.

»Du wärst ein toter Mann, wenn du die Kleine erledigt hättest«, sagte Ray Silver ruhig, Er hatte sein Jackett abgestreift, den'Kragen geöffnet und den Schlipsknoten gelockert. Während er sprach, schaute er Bradley nicht einmal an.

Er haßte Bradley. Er hielt ihn für einen ehrgeizigen Streber ohne Format, für einen Mann, der immerzu nach Schuhen schielte, die ihm um eine Nummer zu groß waren.

Ray Silver unterdrückte einen Seufzer. Mit solchen Leuten mußte man nun zusammen arbeiten! Wennschon. Es war nur für eine kurze Zeit, für eine Periode des Übergangs.

»Wie meinen Sie das, Boß?« stotterte Joe Bradley.

Ray Silver starrte an die Zimmerdecke. Er verschränkte seine Ellenbogen unter dem Nacken. »Wie ich es sage«, erwiderte er. »Ich hatte nur einen zuverlässigen Freund auf dieser Welt. Das war Stan Polowsky. Wenn es stimmt, daß er die Puppe liebte, muß sie für euch tabu sein. Jeder, der sie anzurühren wagt, kriegt es mit mir zu tun.«

»Aber sie hat gesungen...«

»Hat sie das zugegeben?«

»Na ja, nicht direkt, aber so halb und halb...«

»Nachdem du sie durch die Mangel gedreht hast, wie?« fragte Silver scharf.

Bradley schoß das Blut ins Gesicht. »Hätte ich sie denn mit Handschuhen anfassen sollen? Ich hoffte richtig zu handeln, Boß!«

»Versteck dich nicht hinter mir. Du hast nicht an mich gedacht, Joe. Es war deine Idee, das Girl zu entführen, und es war dein Entschluß, Andy Rosell zu töten. Es macht dir nun mal Spaß, den großen Boß zu spielen. Du träumst davon, eines Tages... Ach, lassen wir das!«

Ray Silver schwieg. Es hatte keinen Zweck, Joe Bradley herauszufordern.

Ich muß dankbar sein für jeden, der zu mir hält, überlegte Ray Silver bitter. Er griff nach dem Whiskyglas und nippte daran. Ah, das tat gut. Er hatte lange genug auf einen solchen guten Tropfen verzichten müssen.

»Wo bleibt Hank?« fragte Ray Silver. »Er müßte doch längst zurück sein.«

»Seine Aufgabe ist nicht einfach, Boß. Man wird ihm nicht gerade auf die Nase binden, wer Stan abservierte.«

»Unsinn! Nachrichten dieser Bedeutung machen in unseren Kreisen schnell die Runde. Wenn er es richtig anstellt, weiß er es längst.«

»Leider hat Hank das Pulver nicht erfunden, Boß«, sagte Joe Bradley.

Es klingelte.

»Das kann er nicht sein«, meinte Bradley. »Hank bat einen Schlüssel.« Bradley zog seinen Revolver aus dem Hosenbund und verließ das Zimmer. Ray Silver blieb liegen, ohne sich zu rühren. Er hörte Stimmen in der Diele. Dann betrat Joe Bradley mit einem hochgewachsenen, elegant gekleideten Mann das Zimmer. Der Besucher lächelte strahlend. Er war etwa vierzig Jahre alt und hatte eine Instrumententasche aus braunem Chevreauleder bei sich .

Ray Silver wandte seinen Kopf und grinste matt, traf jedoch keine Anstalten, sich zu erheben. »Hallo, Dr. Mitchell!« sagte er. »Setzten Sie sich bitte.«

»Meinen Glückwunsch«, meinte der Besucher und schüttelte Ray Silver beide Hände. »Ich bewundere Sie, Ray. Natürlich habe ich gehofft, daß es eines Tages so kommen würde. Sie sind ein großer Mann, einfach nicht umzubringen!«

»Sie werden es schon schaffen, Doktor — zumindest, was mein Gesicht betrifft. Ich brauche ein neues. Wie lange wird das Ganze dauern?«

»Die Operation? Das kriegen wir an einem Tag hin. Aber der Heilungs- und Vernarbungsprozeß ist nicht unter vier bis sechs Wochen durchführbar. Die Gipsmaske kann ich Ihnen nach einem Monat abnehmen — aber vor dem Ablauf weiterer zehn bis vierzehn Tage können Sie sich nicht auf der Straße sehen lassen, ohne aufzufallen. Danach gibt es keine Bedenken.«

»Kostenpunkt?«

»Aber Ray, darüber sprechen wir doch Rar nicht. Ich schicke Ihnen die Rechnung zu, sobald Sie wieder etwas Luft haben«, meinte der Arzt.

»Sie sind sich darüber klar, daß Sie hier in der Wohnung operieren müssen?«

Der Arzt schaute sich um und nickte. »Das wird eine Reihe von Improvisationen erforderlich machen«, meinte er. »Wann können wir beginnen?«

»Morgen, wenn Sie wollen. Das setzt allerdings voraus, daß ich jetzt eine erste Untersuchung vornehme. Sie haben einen guten Kopf, Ray. Selbst wenn ich mein Bestes gebe, kann ich Sie nicht schöner machen.«

Ray Silver grinste unlustig. »Sicherheit geht vor Schönheit, Doktor. Natürlich brauche ich auch einen Satz neuer Fingerkuppen und eine Gebißänderung.«

»Sie werden mit mir zufrieden sein, Ray. Es gibt im ganzen Lande keinen Chirurgen, der auf diesem Gebiet Besseres leisten könnte.«

»Ehe Sie an mir herumzusäbeln beginnen, darf ich Sie bitten, sich um ein Mädchen zu kümmern. Sie hat eine Kugel in der Schulter und fiebert stark.«

»Ein Fall aus den Zeitungen?« fragte der Arzt interessiert.

»Würde Sie das kümmern?«

»Nein. Sie wissen, daß ich jeden vertretbaren Auftrag für Sie erledige. Alt oder jung?«

»Neunzehn. Eine Puppe zum Verlieben, wie ich höre. Sie war Stans Freundin. Deshalb fühle ich mich verpflichtet, etwas für sie zu tun. Stan zuliebe.«

»Ich entdecke ganz neue Züge an Ihnen, Ray«, stellte der Arzt verwundert fest.

»Sie meinen Dankbarkeit?« fragte Ray Silver. Er schwang die Füße herum und setzte sich auf. »Ich war schon immer so«, fuhr er fort, »aber wann hat man schon mal einen triftigen Grund, sich dankbar zu zeigen? Die meisten Menschen sind Ratten und verdienen eine dementsprechende Behandlung. Der Mann, der es wagte, meinen Freund Stan zu töten, wird noch bedauern, daß er geboren wurde, Doktor. Auch das gehört zu meiner Auffassung von Dankbarkeit.«

***


In knapp einer halben Stunde hatte ich die Einzelheiten der Aktion mit Tony Garlick besprochen.

»Das FBI beschafft Ihnen das Geld und eine ältere Aktentasche«, schloß ich. »In ihrem Griff wird sich ein Minisender befinden, dessen Signale von unseren Geräten aufgefangen werden können. Diese Methode wird es uns ermöglichen, Bradley zu folgen, ohne daß er einen von uns zu Gesicht bekommt.«

»Ich hoffe, Sie unterschätzen den Burschen nicht«, meinte Tony Garlick. »Silver wird die Aktion leiten. Weder er noch Bradley trauen mir über den Weg. Ich wette, daß sie mit ein paar Tricks rechnen und darauf vorbereitet sind.«

Ich nickte. »Es ist denkbar, daß Bradley unterwegs das Geld umpacken und sich von unserer Aktentasche trennen wird. Selbstverständlich werden wir diese Möglichkeit in Rechnung stellen.«

Tatsächlich schöpften wir alle Routineüberlegungen aus, die sich uns anboten. Ich sorgte dafür, daß die Ärzte überwacht wurden, von denen wir wußten, daß sie auf Gesichtsoperationen spezialisiert waren.

Diese Aktion beschränkte sich keineswegs nur auf jene Chirurgen, die schon einmal für die Unterwelt gearbeitet hatten. Schließlich konnte es passieren, daß Ray Silver auf die Idee kommen würde, einen bislang unbescholtenen Arzt entführen zu lassen.

Es war klar, daß wir sämtliche Unterweltinformanten auf den Fall angesetzt hatten. Sie wußten, worum es ging und waren allesamt unterwegs, um sich die dicke Belohnung zu holen, die damit verbunden war.

Ein Revierdetektiv behielt den Bungalow der Sorensens im Auge. Es war immerhin möglich, daß die Gangster sich mit Vicky Sorensen arrangiert hatten und daß das Girl mit Genehmigung der Gangster versuchen würde, einige Kleider und den Schmuck aus dem Haus zu holen.

Es war nicht zu umgehen, daß eine Reihe unserer Vorsichtsmaßnahmen von falschen Voraussetzungen ausgingen. Aber die Wichtigkeit des Falles machte es notwendig, auch absurd erscheinende Möglichkeiten in Rechnung zu stellen.

Nach Abschluß der Vorbereitungen saß ich an meinem Schreibtisch und fühlte mich wie ausgelaugt. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Ich wußte es, aber das untätige Herumsitzen machte mich kribblig. Bei jedem Telefonklingeln hoffte ich auf eine Nachricht, aber sämtliche Anrufe hatten nichts mit dem Fall zu tun.

Milo kehrte von seinem Besuch bei Oliver Fulton zurück.

»Halt dich fest, mein Junge«, sagte er und nahm mir gegenüber Platz. »Ich bringe dir ein paar überraschende Neuigkeiten mit. Ich weiß, was der Mikrofilm enthielt, den Vicky Sorensen aus Ted Guinns Office holte.«

»Soll das heißen, daß Guinn mit den Gangstern und Fulton zusammen arbeitete?«

»Ja. Ted Guinn bereitete Ray Silvers Flucht bis in die kleinste Einzelheit vor. Er war es, der die Zeichnungen des Fluchtweges mit einem genauen Zeitplan versah und einige Ausweichmanöver einkalkulierte, falls unvorhergesehene Schwierigkeiten es notwendig gemacht hätten, blitzschnell zu improvisieren. Der Mikrofilm enthielt die einzelnen Phasen des Fluchtplans.«

»Hast du das Gefühl, daß Fulton die Wahrheit sagt? Kann es nicht sein, daß er lediglich versucht, seine Schuld auf andere abzuwälzen?«

»Nein. Fulton hat sich kaufen lassen... für achttausend Dollar. Weitere zehntausend sollte er nach dem Unternehmen bekommen. Fulton hatte Schulden. Ted Guinn wußte davon. Es sieht so aus, als hätte Stan Polowsky einen guten Riecher bewiesen, als er das Fluchtunternehmen dem cleveren Guinn übertrug.«

Ich nickte. »Das war etwas für Ted, eine Aufgabe nach seinem Geschmack. Für ihn war es zunächst nichts anderes als eine Möglichkeit, seinen überlegenen Intellekt zu beweisen und sich und Polowsky zu zeigen, daß er selbst mit den schwierigsten Aufträgen fertig wurde. Aber als alles eingefädelt und organisiert war, als er bereits die Wächter bestochen und den Fluchttermin festgesetzt hatte, bekam er plötzlich kalte Füße.«

»Auch das war typisch für ihn«, nickte Milo. »Ihn hatte zwar die Aufgabe gereizt — aber als er die Folgen überdachte, versuchte er einen Rückzieher zu machen.«

»Er rief mich an, um sich mir anzuvertrauen«, fuhr ich fort. »Vielleicht hatte er auch nur vor, mir die halbe Wahrheit zu sagen. Möglicherweise wollte er erklären, er hätte den Auftrag von Stan Polowsky nur deshalb angenommen, um die Gangster bloßzustellen.«

»Was immer auch seine Absicht gewesen sein mag — der Tod kam ihm zuvor«, sagte Milo.

»Stan Polowsky muß gefühlt haben, was in Ted Guinn vorging«, meinte ich. »Um das Unternehmen nicht in letzter Stunde zu gefährden, gab Polowsky den Befehl, den Vater des Fluchtplanes aus dem Weg zu räumen.«

»So war es«, sagte Milo, »aber das bringt uns nicht weiter. Ted Guinns Arbeit trug für Stan Polowsky und Ray Silver jedenfalls reiche Früchte.«

»Nicht für Polowsky«, stellte ich richtig.

Das Telefon klingelte. Ich nahm den Hörer ab. »Hier spricht Dummy-Boy«, fistelte es mir ins Ohr.

Dummy-Boy war der Deckname für John Dumley, einem älteren zahnlosen Informanten, der meistens in den Bumslokalen der Bronx herumhing und sich für ein paar Tropfen Gin selbst dem Teufel verschrieben hätte. John Dumley gehörte zu den Burschen, die wir mit äußerster Vorsicht genießen mußten, weil sie zuweilen etwas erfanden, um ein paar Bucks zur Befriedigung ihrer Trinkleidenschaft aufzutreiben.

»Hallo, Dummy«, sagte ich. »Was gibt es Neues von der guten alten Spritfront?«

»Ich habe Fowler gesehen«, fistelte Dumley erregt. »Hank Fowler. Auf den sind Sie doch scharf, nicht wahr? Es ist erst zwei Minuten her... He, hören Sie mir überhaupt zu?«

»Aber ja!« sagte ich und streckte Milo den Zweithörer entgegen. »Wo ist er jetzt?«

»Das erfahren Sie gleich, G-man. Erst müssen wir den Preis aushandeln. Fünf große Lappen muß Ihnen die Information doch wert sein! Hank Fowler fragt überall herum, wer Stan Polowsky abserviert hat. Ich denke, daß...«

Er unterbrach sich. Seine nächsten Worte waren offenbar nicht an mich adressiert. Sie hörten sich an, als wären sie für einen Mann bestimmt, der in diesem Augenblick die Tür der Telfonzelle öffnete.

»He, was soll denn das!« fragte Dummy-Boy ärgerlich. »Ich habe doch...«

Ich drückte auf den Alarmknopf, der die Telefonfahndung davon verständigte, daß ich eine sofortige Lokalisierung des Anrufers wünschte.

»He, Dumley!« rief ich.

Plötzlich krachte es, gleich zweimal hintereinander. Milo starrte mich an. Im Hörer entstanden einige seltsame Geräusche. Vermutlich war John Dumley der Hörer aus den Fingern gefallen, und er schlug einigemal gegen die Wand der Telefonzelle.

»Dumley!« wiederholte ich, schon weniger laut als beim erstenmal.

In der Leitung klickte es. Die Verbindung war unterbrochen.

Sekunden später klingelte erneut das Telefon auf meinem Schreibtisch. Die Fahndungsstelle unterrichtete mich davon, daß das Gespräch zu kurz gewesen sei, um den Anrufer zu lokalisieren.

»Danke«, sagte ich und stand auf. Ich blickte Milo an. »Dumley hat sich offenbar so auffällig benommen, daß Fowler Verdacht schöpfte. Es sieht so aus, als sei Fowler unserem Informanten in die Telefonzelle gefolgt, um dort mit ihm abzurechnen.«

Zwischen Milos Augen stand eine steile Falte. »Ich bleibe hier und versuche die Fäden in der Hand zu behalten«, sagte er. »Soviel mir bekannt ist, pflegte Dummy-Boy vor allem bei Belasco und Kirk Andrews zu sumpfen.«

Ich war bereits an der Tür. »Halte mich auf dem laufenden, während ich unterwegs bin«, bat ich.

***


Vicky Sorensen konnte nicht mehr weinen. Sie war zu schwach, um aufzustehen. Sie spürte, daß das Fieber stärker wurde.

Sie war hungrig und durstig. Aber niemand war ip ihrer Nähe, um sich ihrer anzunehmen. Mari hatte ihr die Fesseln abgenommen. Der fensterlose Raum, in dem sie auf einer Matratze lag, wurde von einer nackten Glühbirne erhellt, die an einem Draht von der Decke herabhing.

Vicky Sorensen dachte an den Tod. Sie, die immer lebensfroh und optimistisch gewesen war, glaubte auf einmal fest daran, daß sie dieses Gefängnis nicht lebend verlassen würde.

Sie hörte plötzlich Schritte. Nein, das waren keine Schritte, das war eher das Huschen eines Mannes, der sich leise, aber nicht völlig lautlos der Tür ihres Gefängnisses näherte.

Vicky Sorensens Herz begann heftig zu klopfen. Sie wollte schreien, aber vor Aufregung brachte sie keinen Ton hervor. Jetzt war es draußen völlig still. Waren die vermeintlichen Geräusche ein Produkt ihres Fieberwahns?

Im nächsten Moment drehte sich ein Schlüssel im Türschloß. Vicky Sorensen griff sich an den Hals. Sie beobachtete, wie sich die Tür langsam öffnete. Ihre Hoffnungen fielen in sich zusammen, als sie den Mann auf der Schwelle erkannte. Es war Hank Fowler.

»Hallo«, sagte er heiser.

Er schwitzte stark, wie nach einem langen raschen Lauf.

»Wie geht es Ihnen?« fragte er unsicher.

Vicky Sorensens Herzklopfen nahm nicht ab. Ihr fiel ein, daß es Hank Fowler gewesen war, der Joe Bradley zuweilen gebremst hatte.

»Ich brauche einen Arzt, Hank«, sagte sie. »Warum helfen Sie mir nicht?«

»Ich helfe Ihnen«, meinte er schwer atmend und wischte sich die schweißfeuchten Hände an der Hosennaht ab. »Deshalb bin ich hier. Ich lasse Sie frei.«

»Ich kann mich nicht einmal aus eigener Kraft erheben, Hank«, sagte Vicky Sorensen.

Hank Fowler durchquerte den Raum. »Draußen steht mein Wagen«, meinte er. »Ich bringe Sie nach Hause.«

»Was ist mit — was ist mit Bradley?« fragte Vicky Sorensen angstvoll.

Fowlers Mund zuckte. »Zum Teufel mit Joe. Der wird verrückt spielen, wenn er von Ihrer Flucht erfährt.«

»Ich decke Sie, wenn es zum Äußersten kommen sollte«, stieß Vicky Sorensen' hervor.

Im nächsten Augenblick kam ihr dieser Eifer unaufrichtig und schäbig vor. Sie wußte, daß sie nichts für Hank Fowler tun konnte, wenn man ihn wegen seiner eigenmächtigen Aktion zur Rechenschaft ziehen sollte.

Hank Fowler schüttelte den Kopf. »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber. Ich habe auf meine Weise mit Joe abgerechnet«, sagte er.

Vicky Sorensen schluckte. »Soll das heißen, daß er tot ist?«

»So gut wie tot«, sagte Hank Fowler. »Zum Henker mit ihm. Er hat nichts Besseres verdient.«

»Wollen Sie — wollen Sie ihn dem FBI ausliefern?« fragte das Mädchen verblüfft.

Hank Fowler lachte kurz und unlustig. »Nein. Mit den Bullen will ich nichts zu tun haben. Ich habe mir was anderes einfallen lassen.«

Er schob die Hände in seine Hosentaschen und wippte mit den Füßen auf und ab. In seinen Augen lag ein hintergründiges Glitzern. Er sah aus wie ein Mann, dem es nach jahrelanger Unterdrückung gelungen war, seine Fesseln abzustreifen und sich selbständig zu machen.

»Joe ist ein Amokläufer«, sagte er. »Er ist schlauer als ich. Gebildeter. Cleverer — aber er muß immer übertreiben. Daran wäre er eines Tages auch ohne meine Beihilfe gescheitert. Deshalb habe ich die Pferde gewechselt.«

»Was meinen Sie damit?«

»Ich arbeite für einen anderen Boß.«

»Für wen, Hank?«

»Fragen Sie mich nicht danach. Es ist besser, wenn Sie es nicht wissen. Sobald Sie frei sind, wird das FBI bei Ihnen aufkreuzen. Mir genügt es, wenn Sie dabei ein gutes Wort für mich einlegen — vor allem, was Rosell betrifft. Ich habe ihn nicht umgelegt. Das war Joe, Joe Bradley!«

»Bitte helfen Sie mir auf die Beine, Hank — wir müssen weg von hier!« Hank Fowler lächelte zerfahren. Er schien das Mädchen gar nicht verstanden zu haben. »Ray Silver ist frei. Wußten Sie das?« fragte er und stellte das Wippen ein. »Er sitzt in einem Apartment, das von Stan Polowsky schon lange vor der geplanten Flucht gemietet wurde. Ich kenne die Adresse. Ich habe sie meinem neuen Boß vermacht.« Er grinste breit und holte tief Luft. »So ist das nun mal, wenn man die Pferde wechselt. Man muß einen Einstand geben.«

»Sie arbeiten jetzt für Lester Bryant, nicht wahr?« fragte Vicky Sorensen.

»Na schön, warum soll ich es Ihnen verschweigen? Er wird Ray hochgehen lassen. Einfach so! Vielleicht ist Ray Silver in dieser Minute schon ein toter Mann. Zusammen mit Joe, dem Schlaumeier.«

»Worauf warten wir noch? Lassen Sie uns doch endlich gehen, Hank!« bettelte Vicky Sorensen.

Hank Fowler nickte geistesabwesend. Es schien fast so, als müßte er erst einmal loswerden, was ihn beschäftigte.

»Lester Bryant ließ Stan Polowsky aus dem Weg räumen«, fuhr Hank Fowler fort. »Bryant kann es sich nicht leisten, die Wiedergeburt des Konkurrenzsyndikates zu dulden, indem er Ray Silver schont. Er wird auch Silver über die Klinge springen lassen.«

»Ich halte es hier unten nicht länger aus«, sagte Vicky Sorensen mit schwacher Stimme. »Wir können doch später über diese Dinge sprechen...«

Hank Fowler schaute das Mädchen blinzelnd an. »Sie sollen nicht glauben, daß ich nur hergekommen bin, um für den äußersten Fall einige Pluspunkt zu sammeln — so als Rückversicherung!« meinte er.

»Das glaube ich auch nicht, Hank.«

»Vicky«, sagte er und atmete plötzlich sehr schwer. »Ich konnte Ihren Anblick nicht vergessen. Die Tönung Ihrer Haut. Die Wärme, die Glätte, die Vollkommenheit. Ihre Bluse ist noch immer zerrissen. Lassen Sie mich noch einmal Ihre Schulter sehen, Vicky — bitte!« Vicky Sorensen merkte, wie eine kalte Furcht in ihr hochkroch. »Hank«, sagte sie. »Für diesen Unsinn ist jetzt doch keine Zeit...«

»Ich konnte kein Auge schließen, ich mußte immerzu an diese Schulter denken«, meinte Hank Fowler heiser. »Ich muß sie noch einmal sehen, Vicky!«

»Ich habe Fieber, ich bin verletzt...«

»Als Joe Ihnen die Bluse aufriß, zeigte er mir die unverletzte Schulter«, fiel Fowler ihr ins Wort. »Ich muß sie sehen!«

Ekel, Furcht und die Überlegung, ob es nicht klüger sei, die Situation mit weiblicher List zu meistern, kämpften in Vicky Sorensen um die Vorherrschaft.

Hank Fowler ließ sich neben ihr auf die Knie fallen. Als sein warmer Atem sie traf, schauderte das Mädchen zurück. Fowler hatte getrunken. Zögernd streckte er seine Hand aus.

»Ray Silver und Joe Bradley müssen sterben, weil ich es so will«, stieß er hervor. »Der kleine, von allen verspottete Hank Fowler macht auf seine Weise Geschichte. Ich bin es, der dafür gesorgt hat, daß die Ära Ray Silver zu Ende geht.«

Seine Finger berührten ihre Schulter. Vicky Sorensen schloß die Augen. Sie spürte, wie der Gangster den dünnen Stoff zur Seite' schob und wie seine . feuchte Hand unbeholfen über ihre Haut tastete.

»Hallo, Hank!« sagte in diesem Augenblick eine halblaute spöttische Stimme von der offenstehenden Tür her.

Hank Fowler riß seine Hand zurück. Aufspringend schnellte er herum. Sein Atem kam laut und keuchend.

Vicky Sorensen wandte den Kopf und blickte zur Tür. In ihrem Rahmen standen drei Männer. Vicky Sorensen kannte nur zwei davon, einen von Fotos: Es waren Joe Bradley, ihr Peiniger, und Ray Silver, der entsprungene Syndikatsboß.

Hinter den beiden erkannte Vicky Sorensen einen dritten Mann, einen säuerlich lächelnden Mittvierziger, der an dem Geschehen offenkundig wenig Geschmack fand.

Joe Bradley hielt einen Revolver in seiner Rechten. Sein Gesicht war haßverzerrt. In seinen Augen funkelte der Abglanz eines unverhüllten Triumphes.

Hank Fowler machte zwei Schritte nach vorn, dann blieb er stehen. »Hallo, Joe, hallo, Boß«, sagte er unsicher. »Ich wollte nur mal nach dem Mädchen sehen...«

»Das brauchst du uns nicht zu erklären, Hank«, höhnte Bradley mit sanfter Stimme. »Du bist wirklich rührend um die Kleine besorgt. Überhaupt bist du ein sehr vielseitiger Bursche. Ich muß gestehen, daß ich dich unterschätzt habe. Was sagtest du gerade vom Ende der Ära Silver?«

»Ich — ich habe nichts dergleichen gesagt!« stotterte Hank Fowler.

»Laß das Theater«, sagte Ray Silver scharf. Die Worte galten Joe Bradley. »Ich bin kein Freund von Zirkusvorstellungen.« Er schaute Hank Fowler an. »Was hast du in Erfahrung bringen können?«

Hank Fowler schluckte. Es schien, als könnte er gar nicht wieder damit aufhören. Sein Adamsapfel glitt auf und nieder wie ein Paternoster.

»Hast du die Sprache verloren?« zischte Ray Silver.

Hank Fowler gab sich einen Ruck. »Lester Bryant war der Auftraggeber«, sagte er heiser.

»Wer tötete Stan?«

»Budd Arworth.«

»Wann hast du das erfahren?«

»Vor — vor einer Stunde«, berichtete Hank Fowler stockend. »Ich mußte sogar einen alten Spitzbuben umlegen, so einen Penner, der plötzlich zum Telefon sauste, um die Bullen zu informieren. Wie Sie sehen, war ich ganz schön auf Draht. Ich habe an alles gedacht...«

»Nur nicht daran, mich schnellstens von dem Ergebnis deiner Ermittlungsarbeit zu informieren«, stellte Ray Silver fest. »Wann hast du mit Bryant gesprochen?«

»Ich... Wieso hätte ich mit Bryant sprechen sollen?« fragte Hank Fowler atemlos.

»Wir haben deutlich gehört, was du dem Mädchen erzählt hast«, sagte Silver ruhig. »Stimmt’s Doktor?«

»Ja, Ray, das stimmt«, versicherte der Arzt.

Hank Fowler unternahm einen vergeblichen Versuch breit zu grinsen. »Das dürfen Sie doch nicht ernst nehmen, Boß«, meinte er. »Ich wollte bloß dem Girl damit imponieren. Ich wollte... Na ja, ich wollte sie haben, genau wie Joe.«

»Genau wie Joe?« fragte Ray Silver lauernd.

»Er spinnt!« sagte Joe Bradley scharf. »Fragen wir doch einmal Miß Sorensen«, meinte Ray Silver und schob sich an Bradley vorbei in den Raum. »Es tut mir leid, daß Sie in diese Lage gekommen sind«, sagte er verbindlich. »Wie geht es Ihnen im Augenblick? Ich sehe, daß Sie Hilfe brauchen. Ich habe einen Arzt mitgebracht. Er wird sich um Sie kümmern.«

In Vicky Sorensens Augen standen Tränen.

Sie hatte das dumpfe Gefühl, etwas für den bedrohten Hank Fowler tun zu müssen, aber er war ihr plötzlich so zuwider, daß sie kein Wort hervorbrachte.

Sie spürte, daß die Worte, mit denen ■.ich Hank Fowler zu rechtfertigen verbuchte, frei erfunden waren. Trotzdem hatte sie nicht die Kraft, sich für einen Mann einzusetzen, der seinem Boß soeben einen Mord gestanden hatte. Oder hatte Fowler auch das erfunden?

»Ich bin nicht hergekommen, um über andere zu Gericht zu sitzen«, befand Ray Silver, dem plötzlich einfiel, wie wenig er unter den gegebenen Umständen auf Joe Bradley verzichten konnte. »Aber natürlich«, fuhr er fort, »kann ich keine Verräter unter uns dulden. Was hast du ihm gesagt, Hank?«

»Wem gesagt, Boß?«

»Bryant natürlich!«

»Überlassen Sie ihn mir, Boß«, meinte Joe Bradley. »Ich bringe ihn schon zum Sprechen.«

»Er wird mir die Wahrheit sagen«, erklärte Ray Silver. »Er kann gar nicht anders.«

Hank Fowler begann zu zittern.

»Es war ein Fehler. Ein idiotischer Fehler. Aber ich dachte...«

»Du hast ihm gesagt, wo ich wohne?«

»Ja«, flüsterte Hank Fowler.

Ray Silver verlor keinen Augenblick die Beherrschung. Er schnippte nur leise mit den Fingern und schaute Joe Bradley an. »Du weißt, was du zu tun hast«, sagte er.

Joe Bradley hob seinen Revolver und krümmte den Finger am Abzug.

»Nicht hier, verdammt noch mal!« sagte Ray Silver scharf.

»Pardon, Sir«, sagte Joe Bradley. Er stellte Hank Fowler mit dem Gesicht zur Wand und nahm ihm die Pistole ab. Er ging mit ihm hinaus.

Die drei Menschen, die im Raum zurückblieben, äußerten kein Wort. Es war so still, daß man sogar das Ticken der Armbanduhren hörte.

Dann fiel ein Schuß.

»Aus!« sagte Ray Silver. »Sie werden zugeben, daß er nichts anderes verdient hat.«

***


Es war tatsächlich aus. Aber nicht für Hank Fowler. Nicht so, wie Ray Silver es meinte.

Der Schuß war nicht von Joe Bradley abgefeuert worden. Die Kugel stammte aus meinem Smith and Wesson. Sie traf nicht Hank Fowler, sondern Bradley.

Ich war mit Milo hinter dem Trafohäuschen hervorgetreten, das uns in unmittelbarer Nähe der auf dem verlassenen Fabrikhof parkenden Fahrzeuge Deckung geboten hatte. Joe Bradley ignorierte meinen plötzlichen Warnruf. Ich drückte in dem Augenblick ab, als Bradley herumwirbelte, um sich mit der Waffe zu verteidigen.

Mein gezielter Notwehrschuß hatte sein Handgelenk erwischt. Der Revolver war ihm dabei buchstäblich aus den Fingern geschossen worden.

Hank Fowler stand wie erstarrt. Joe Bradley brach mit einem Wutschrei in die Knie.

Fowler begann zu schluchzen. Er begriff, daß er noch einmal davongekommen war. Es kümmerte ihn in diesem Moment nicht, daß er vermutlich bis ans Ende seiner Tage im Gefängnis sitzen würde.

»Wie haben Sie uns gefunden?« preßte Joe Bradley durch seine Zähne.

Milo sorgte dafür, daß ein Paar Handschellen Hank Fowlers Gelenke lahmlegten.

»Wir waren hinter Hank Fowler her. Nachdem er Dumley niedergeschossen hatte, raste ich in die Bronx. Unterwegs hörte ich, in welchem Lokal es Dumley erwischt hatte. Ich machte mir ein paar Gedanken über den mutmaßlichen Fluchtweg des Mörders, erfuhr, daß er mit einem burgunderroten Ford geflohen war und benachrichtigte sämtliche Streifenwagen. Zehn Minuten später erhielt ich den ersten telefonischen Hinweis. Als Hank Fowler mit seinem Wagen auf das Gelände der verlassenen Fabrik einbog, hatten wir uns längst an seine Fersen geheftet. Während wir noch damit beschäftigt waren, alle strategisch wichtigen Punkte der Fabrik zu besetzen, kreuzten Sie mit Ray Silver und einem zweiten Mann hier auf.«

»Das ist Dr. Mitchell«, sagte Joe Bradley mit matter Stimme. »Er sollte die Puppe behandeln.«

»Vicky Sorensen?« fragte ich.

Joe Bradley nickte grimmig. Er umklammerte sein blutendes Handgelenk mit der Linken. Klagend fragte er: »Haben Sie denn keinen Arzt dabei, verdammt noch mal? Wollen Sie mich hier verbluten lassen?«

Milo hatte inzwischen den offenen Zugang .erreicht, den Joe Bradley und Hank Fowler vor wenigen Minuten verlassen hatten. Von dort führte eine Betontreppe nach unten. Milo stand neben der Tür. Angestrengt lauschte er in die Tiefe.

Ich sorgte dafür, daß die beiden Gangster fortgebracht wurden und ging zu Milo. Wir brauchten nicht lange zu warten. Zehn Minuten später kamen drei Menschen die Treppe herauf. Ray Silver und der Arzt hatten das völlig geschwächte Girl zwischen sich genommen. Die Männer waren so sehr damit beschäftigt, die Verletzte behutsam nach oben zu bringen, daß sie Milo und mich erst in letzter Sekunde bemerkten.

Ray Silvers Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt. Er unternahm keinen Versuch, sich zu verteidigen. Milo nahm ihm die Pistole ab.

»Es war ein Versuch«, sagte Ray Silver. »Leider ist er gescheitert.«

Dr. Mitchell war kreidebleich. »Ich — ich wollte nur dem Mädchen helfen«, stotterte er.

»Budd Arworth hat Stan Polowsky erstochen«, sagte Ray Silver. »Ich erwarte, daß Sie Arworth dafür bestrafen — ihn und Lester Bryant, den Auftraggeber des Verbrechens. Ich gehe gern ins Gefängnis zurück, wenn ich die Gewißheit bekomme, daß auch die Ära Bryant zu Ende geht.«

Ich begriff nicht recht, warum bei diesen Worten ein dünnes bitteres Lächeln seine Lippen umspielte.

»Ich bin im Grundsätzlichen kein Mann, der mit Leuten Ihrer Berufsgruppe zusammen zu arbeiten pflegt«, fuhr er fort, »aber in diesem Fall bin ich entschlossen, eine Ausnahme zu machen. Wenn es Ihnen recht ist, erhalten Sie von mir genügend Material, um Lester Bryant und Budd Arworth für immer ausschalten zu können.«

»Dieses Angebot«, sagte ich, »nehmen wir gern an!«

ENDE

Der 12 Romane Krimi Koffer Juni 2021

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