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Intervention 5. Oktober 2019
ОглавлениеDie Frau, die auf der Dialyse starb, ich rannte, sie reagierten nicht, ich rannte um den Notkoffer, rannte. Der Mann der Frau holte die Frau oft ab. Er liebte sie. Ich glaube, er holte sie an dem Tag auch ab, ich weiß es nicht mehr. Ich glaube, er kam an dem Tag und wusste von nichts. Nein, ich sah ihn nicht an dem Tag. An einem anderen, glaube ich, später einmal noch, da ging er auf die Station, kurz. Einmal sah ich ihn dann später noch, ich wusste nicht, ob ich ihm sagen soll, wie seine Frau gestorben war. Ich tat es nicht. Ich überlegte mir auch, ob ich ihn anrufen soll. Tat ich auch nicht. Heute, Jahre später, in diesem Augenblick erst fällt mir ein, dass das vielleicht ein Unrecht war, dass ich ihm nicht erzählt habe, wie seine Frau gestorben war. Aber ich wollte ihm etwas ersparen. Auch später dann. Es war ein Unfall, ein Unglück. Es war ein sanfter Tod, schien mir, einer wie im Schlaf. Das hätte ich dem Mann sagen können. Das hätte es ihm vielleicht leichter gemacht. Aber es war nicht die Wahrheit. Gewiss, die Frau starb sehr leicht, und jedem Menschen wohl ist ein solcher Tod zu wünschen, sanft war der und nicht grausam. Aber es ist nur die halbe Wahrheit. Und wie ruhig seine Frau gestorben war, das hätte ich ihm damals, weil ich dabei gewesen und gerannt war, gar nicht so sagen können, ihrem lieben Mann, obwohl es wahr war. Die Frau starb sanft und schnell, aber was sie brauchte, war nicht da. Die Rettungswerkzeuge nicht und die rettenden Menschen auch nicht. So war das nun einmal. Sie ist sanft entschlafen. Aber was nötig war an Menschen und Material, stand für sie nicht zur Verfügung. Es ging zu schnell. Das Notwendige war nicht da. Es hätte aber da sein müssen. Was der Frau geschah, war aber ein Unglücksfall. Aber unvermeidbar war der Unfall nicht. Es wäre möglich und Vorschrift gewesen. Die Frau auf der Dialyse war, bin ich mir sicher, selber überrascht. Sie sackte schneller ab, als dass sie etwas sagen konnte. Sie meldete sich meistens rechtzeitig. Sie sackte oft ab, aber selten von sich selber unbemerkt. Das Selberum-Hilfe-rufen-Müssen war der grundlegende Fehler auf der Station. Es gab keinen Alarmknopf. Aber ich weiß auch nicht, ob sie am letzten Tag ihres Lebens schnell genug gewesen wäre, einen Alarmknopf zu drücken. Aber es gab gar keinen für sie. Aber es hätte einer da sein müssen. Für alle, für jeden ein eigener. Ich war da. In der anderen Dialysestation, in der neuen, in der des besten Arztes, den ich kannte, auf Bleiblers Station, gab es das alles, die Sicherheitsvorkehrungen, die Menschen, das Material. Die von jeder Stelle aus einsehbaren Behandlungsräume. Und dass nicht in jedem Dialyseraum eine Schwester ständig zugegen war, war ja auch falsch gewesen in der alten Dialysestation im alten großen Spital. Ich war da, rannte. An dem Tag damals hatte die Frau sich beim Dozenten Meier beklagt, dass sie in letzter Zeit während der Dialysen fast jedes Mal Krämpfe im Unterleib bekomme. Ich weiß nicht, ob der Dozent ihr daraufhin etwas geben ließ. Ich glaube, er sagte, sie werde etwas dagegen bekommen. Vielleicht auch genierte sie sich, weil ich im Raum war. Aber das glaube ich nicht. Denn im anderen Raum, wo sie sonst immer gewesen war, hatte sie meines Wahrnehmens nie von solchen Krämpfen berichtet. Hier getraute sie es sich. Ich war, glaube ich, stets dezent und diskret, sonst hätte ich meinen Ort dort auf der Station verloren; ich war, bilde ich mir ein, hilfsbereit, zuvorkommend, unaufdringlich und so unauffällig wie nur möglich. Ja, doch, war ich. War unsichtbar genug. Und immer da eben. Die Schwestern, Pfleger, die Ärzte gaben die Glocken nicht her, und das war falsch. Und ich, ich bin mir sicher, dass ich es sofort wahrgenommen habe, als die Frau kollabierte. Sie schaute in den Fernseher. Lächelte. Wirkte müde. Ich ging ein paar Schritte näher zu meiner Mutter hin. Mehr noch weg aus der Raummitte. Schaute ein paar Augenblicke in den Fernsehapparat die paar Schritte lang und die paar Augenblicke auf die Mutter zu, dann auf die Anzeigen auf der Dialysemaschine meiner Mutter. Dann schaute ich wieder zur Frau hin, automatisch. Eine halbe Minute vielleicht, aber gewiss keine Minute war vergangen, seit ich das letzte Mal zu der Frau hingeschaut hatte. Ich redete die Frau an, sie reagierte nicht, ich lief zur Schwester. Die kam gelaufen, schaute die Frau an, schickte mich weiter. Die Schwester war selber gerade vorher noch im Raum gewesen, durch den gegangen, hatte zu den Patientinnen geschaut. Die Frau hatte hier im mittleren Raum mit dem Gesicht zum Fernsehapparat liegen wollen, weil sie in den hineinschauen wollte. Das war, weiß ich jetzt, gefährlich, weil man dadurch nicht sofort in ihr Gesicht schauen konnte. Die Schwestern und Pfleger konnten das nicht, wenn sie durch den Raum schauten. Ich konnte das damals. Schaute ins Gesicht. Keine Minute war vergangen. Drei, vier Schritte und ein paar Augenblicke, mehr nicht. Die Frau hat keine Hilfe bekommen. Doch. Die Hilfe hat sie aber nicht mehr erreicht. Weg war die Frau, die war einfach weg. Die Leute waren nicht da, weg waren die, der Notfallkoffer nicht da und auch kein Arzt da. Ich lief, lief. Die Frau, ich weiß nicht mehr, ob sie die Augen offen oder geschlossen hatte, als sie nicht mehr ansprechbar war. Ich bilde mir ein, sie waren offen. Ja, sie waren offen. Ich sagte etwas zu ihr, fragte, sie reagierte nicht. Die Augen waren offen. Die Frau starb am Tod, das war es einfach. Es ist nicht einmal gewiss, ob man noch Tage hätte gewinnen können. Und doch ging es ihr meines Wissens sehr gut bis damals. Sie war, soviel ich immer mitgehört hatte, in einem guten Allgemeinzustand und hatte meines Wissens zusätzlich zur Grunderkrankung an keiner anderen schweren Erkrankung zu leiden. Ich glaube, ihre Augen waren offen und leer. Die Frau und der Dozent hatten zufällig denselben Namen. Meier bloß. {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, II 14ff.}
Das Großkapitel aus dem Band Furchtlose Inventur, zu dem diese Stelle gehört, trägt die Überschrift: Von einer Dialysestation, auf der ein Pfleger gewissenhaft arbeitete, aber eineinhalb Jahrzehnte nach der berichteten Zeit schuldig gesprochen wurde, weil 2005 ein Patient während der Dialyse gestorben war. Die Richterin bedauerte, das Urteil fällen zu müssen, denn statt des Pflegers sollten sich die Ärzte, die Verwaltung und die Politik vor dem Gericht verantworten müssen. Doch so weit reichten die Gesetze nicht, sagte die Richterin.
Als in der Stadt auf dem [großen P]latz die Demonstrationen stattfanden, damit das [...] Kraftwerk nicht gebaut wird, fand sich, wenn einer gegen die Demonstranten redete, sofort jemand, der sie in Schutz nahm und die Beleidigungen und die Handgreiflichkeiten abwehrte. Die Leute nahmen einander damals wirklich in Schutz. Das beeindruckte mich. Ein Esel stand am [...P]latzbrunnen und Stroh lag herum. Ein älterer Mann mit schneeweißem Haar packt ein junges Mädchen von hinten, drückt die junge Frau in die Richtung des Esels, als sie gegen das Kraftwerk reden will. Ein Esel bist du! Zum Esel gehörst du!, schreit er und stößt sie. Sie sagt: Sie sehen doch die Bilder in der Zeitung, was die Polizisten mit uns machen. In dem Moment packt sie der Mann nochmals. Ein Mann sagt zu dem Mann mit dem schneeweißen Haar, der solle sich schämen, fragt, was der tun würde, wenn seine Tochter von jemandem so behandelt und so beleidigt würde. So angegriffen, sagt er. Das solle der sich einmal überlegen. Eine Frau antwortet an dessen Stelle, es sei schon möglich, dass die Umweltschützer recht haben, aber der Mann mit den schneeweißen Haaren könne viel besser reden. Die jungen Leute da hier können nichts!! Gar nichts!!, sagt sie. Aus einer Pensionistengruppe, alte Gewerkschafter, ruft ein kleiner dicker Mann einer Frau etwas zu, als sie sagt, dass die jungen Leute hier sehr wohl sehr viel zustande bringen. Aufgetakelte Schlampe, schreit der dicke kleine Mann der Frau zu, grinst sie an. Die Frau zuckt zusammen. Halt deinen Schlampenmund, setzt der dicke kleine Mann nach, grinst dreckig. Die Frau kann sich nicht mehr aufrichten. Ein dicker Mann kommt ihr zu Hilfe, sagt etwas ihr zum Schutz und dann etwas gegen das Kraftwerk. Von den Gewerkschaftern schreit ihn einer an: Schäm dich, wie fett du bist. Ich würd’ mich schämen, hier was zu reden, wenn ich so fett wär’ wie du. Wenn’s euch Ausgfressnen wirklich ernst wär’, würdet’s nicht da sein demonstrieren, sondern wäret’s draußen in der Au bei denen und würdet’s mit denen z’sammen die Au vollscheißen. Der Gewerkschafter neben ihm schreit: Die Au wollen’s schützen. Vollscheißen tun sie’s in Wahrheit. Ein anderer Gewerkschafter schreit: Dort kommt nie wer hin. Die wollen, dass dort nicht gebaut wird, obwohl dort nie ein Mensch hinkommt. Jetzt sind die dort und scheißen alles voll. Ein kleiner zierlicher Mann stellt sich dagegen, sagt: Ich bin Bauingenieur und gegen das Kraftwerk. Der Gewerkschafter, der die Idee mit dem Vollscheißen gehabt hat, schreit dagegen, das halbe Gesicht nur Zähne: Ingenieur bist du? Eine Schande bist du! So was ist Ingenieur. Schaut’s euch den an! So was ist Ingenieur! Der Ingenieur knickt ein. Die Gewerkschafter lachen alle. Ein alter Mann sagt, die Demonstranten müssen auf sich aufpassen, hier sei es wie 1934, es sei ihnen damals genauso gegangen. Er bekomme Angst. Ein junger Mann versteht den alten Mann falsch, sagt aufgebracht: Wir schreiben 1984. Lassen Sie uns endlich mit der Nazizeit in Ruhe. Der alte Mann entschuldigt sich, das sei ein Missverständnis, der junge Mann entschuldigt sich nicht. Nazischweine, sagt der junge Mann [...] Ein paar Wochen später dann war ich mit Trixi beim Vortrag des Außenministers. Damals war er bloß Parteivorsitzender und er verspottete, dass der rote Parteivorsitzende, der damals der Kanzler war, Die Partei ist mein Leben. Ohne Partei bin ich nichts gesagt hatte. Der schwarze Parteichef erklärte im Hörsaal, wie es in Zukunft weitergehen werde; ich verstand nicht viel, weil seine Sätze am Satzende nicht mehr zum Satzanfang passten. Das ging unentwegt so. Ihm gefiel das aber, kam mir vor. Vor mir in den zwei Reihen saßen Burschen, drei und zwei. Bei irgendetwas von dem, was der schwarze Parteivorsitzende redete, bildete der eine von den zwei Burschen mit dem Daumen und dem Zeigefinger der rechten Hand eine Pistole, setzte sie einem Burschen vor sich ins Genick, drückte ab und sagte: Bumm, und der vor ihm schüttelte sich und stürzte im Sitzen nach vorne. Sein Kopf lag auf der Schreibbank, seine Arme hingen darüber. Der Mund stand offen. Die vier feschen Burschen lachten und der fünfte mit dem offenen Mund auch. Es war ein lehrreicher Vortrag. Burschenschafter die Burschen. Ich weiß nicht, wen und was sie gemeint haben. Auch kann man nicht immer etwas für seine Zuhörer. {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, I 234ff.}
Die zitierte Stelle gibt Ereignisse aus den Jahren 1984/85 wieder und stammt aus dem Band Lebend kriegt ihr mich nie. Daraus auch wie folgt:
Einmal, ich war sieben Jahre alt [– 1968 war das –], wollte ich nicht mit meinem Vater in die Kurstadt des Kaisers mitmüssen, ich war nur mehr Angst, reine Angst, so lange würde ich dort allein sein müssen mit ihm, niemand mit. Und da habe ich ihm, damit er nicht fahren kann und damit wir daheim bleiben, das Abführmittel, das ich fand, die ganze Packung in sein Mineralwasser gegeben. Sind trotzdem gefahren, blieben nur dauernd stehen [...] In der Kurstadt des Kaisers und der Künstler war ich mit dem Vater [dann] allein [...] und krank. Der Vater verbot mir zu husten. Ich brach gegen meinen Willen vor der Komponistenvilla zusammen. Ich hatte nicht mit hinfahren wollen ins Touristenparadies. Ich durfte im Offiziersheim niemanden stören mit meinem Husten [...] Wenn ich hustete, tat er das Übliche mit mir. Es war nicht lustig. Er riss an mir, warf mich, ich musste beim Husten meinen Mund auf die Matratze pressen und, wenn ich auf dem Rücken lag, das Kissen fest an meinen Mund. Als Kind hatte ich oft viel Husten. Gegen das Husten musste ich eine geschickte Art des Atmens finden und besonnen sein. Das war nicht ohne Strapazen möglich, dann schaffte ich es doch nicht, musste loshusten, weil ich innerlich etwas überschritten hatte und auch zu viel von draußen da war. Das ist so, wenn man nicht husten darf. Da darf man auch nicht alles atmen. Man muss innen alles absuchen, da ist aber nichts. Wenn mein Vater anwesend war, durfte ich nie husten. Ganz einfach war das geregelt. Die Selbstbeherrschung war so [...] Blödes Herumgerenne, Monarchievillen. Die blöden Führungen drinnen. Ein bisschen auf einem Hügel oben brach ich dann zusammen, purzelte und [...] blieb unten ohnmächtig liegen. Die Wirtin im Offiziersheim, [die Pensionsleiterin] oder wie sie hieß, sagte neben mir zum Vater, als ich wieder bei Besinnung war und wir gerade wieder zurückgekommen waren und ich gerade Ruhe vor dem Vater hatte, weil er über meinen Zusammenbruch und das Aufsehen erschrocken war: Der Bub ist so laut im Zimmer. Das darf nicht sein. Er macht zu viel Lärm. Sie schaute mich an und sagte zu meinem Vater, dass ich solchen Lärm mache im Zimmer. Ich hatte eindringliche Schmerzen und Husten hatte ich zum Ersticken, hustete in ihrer Küche die ganze Zeit über aber keinen einzigen Laut. Der Bub muss endlich still sein, sagte die Wirtin im Offiziersheim trotzdem zu meinem Vater. Die Frau hatte weißes Haar, war schlank und sehr gerade, trug Beinkleider. Sie bewegte sich sehr schnell und schaute jedes Mal an mir vorbei, wenn wir einander begegneten. Der Vater und ich und sie gingen aus ihrer Küche. Das muss klar sein, sagte sie im Gehen. {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, I 40ff.}
Aus den Tagebüchern 2004–2011:
Tag, Monat, Jahr
Bin zufällig in einer Gruppe Anonymer Alkoholiker. Bin zutiefst beeindruckt. Von den Leuten da. Diese Unaufdringlichkeit, Bescheidenheit, Hilfsbereitschaft, Verlässlichkeit! Die AAs erzählen einander ihre Leben und wer wofür gut war. Sie sind nicht zerstört worden. Von den Zufällen, den Augenblicken erzählen sie. Vom Glück statt vom Schicksal. Menschen, die schon alles verloren oder zerstört haben, plötzlich einen lieben Menschen nicht verlieren wollen, die Frau, das Kind. Oder die plötzlich nicht dermaßen entstellt aufgefunden werden wollen. Oder irgendjemand fällt ihnen plötzlich noch ein, ein Gesicht. Ein geliebter Mensch. Zwischendurch ist das Ganze religiös. Aber das ist gut so, nur so ist Religion gut. Die AAs helfen einander, sind da, wenn sie gebraucht werden. Da ist jemand, ganz sicher, immer, egal, was geschieht. Man ist nicht allein, nützt niemanden aus, bringt einander nicht um. Die anderen und der lebendige Gott und die Gewissenserforschung geben den Halt und alle Sicherheit. Die ersetzt, ersetzen die Sucht. Die[se] AAs [da] finden diese Art Gott wirklich plötzlich, die Erlösung, das Leben. Was mich besonders beeindruckt, ist das, was die AAs furchtlose Inventur nennen. Da erforschen sie, was sie selber anderen angetan haben. Antun, in der Sucht, durch die Sucht. Überlegen sich, wie sie das abstellen und wiedergutmachen können. Tun das dann auch. Aber unaufdringlich. Quälen niemanden mit ihrer Suchtvergangenheit, ihren Schäbigkeiten, wenn es den anderen, den früheren Opfern der Suchtkranken, von neuem Schmerzen bereiten würde; wollen niemandem neue Probleme machen. Sagen die volle Wahrheit denen, die sie hören wollen und denen sie vielleicht hilft. Jedenfalls haben mich die Anonymen Alkoholiker im tiefsten Herzen getroffen. Eine junge Frau, die nicht zugrunde gegangen ist, wird jetzt Jugendarbeiterin, ist überglücklich darüber. Glaubt, sie werde wirklich helfen können. Ich glaube ihr das auch. Sie wird von der Stadt angestellt. [...] Eine Frau, die ihr Kind durch Suizid verloren hat, arbeitssüchtig gewesen war, hat die Anonymen Alkoholiker in die Veranstaltung eingeladen, bei der ich zugehört habe. Wirklich gelungen, weil durchdacht, weil durchlebt, war das Ganze. Das Beste, was ich je wahrgenommen habe. [...] Die AAs sind eine wirkliche Hilfe. [...] Der Anstand, der Charakter der AAs, der hilft. Jedem Menschen, glaube ich. Zu wissen, dass es das doch gibt! Dass es möglich ist! [...A]lles ein Können! Alles Sicherheit. Hilfe. Man muss nicht sterben. Will leben, kann es. {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, III 453f.}
Tag, Monat, Jahr
Wenn Kinder erzählen, fangen sie damit eben an und hören auf, wo es ihnen passt. Reden dann etwas ganz anderes. Und dann irgendwann einmal fangen sie wieder beim Schlimmen, Betrüblichen an, hören aber wieder auf und reden vom Guten, jauchzend, himmelhoch, und dann sind sie wieder betrübt oder vorsichtig und schweigen. Je nachdem, wie der Mensch ist, dem sie erzählen, erzählen sie selber. Zum Beispiel, wie schlimm die Sache ist. Sie schauen zwischendurch immer, ob sie dem, dem sie berichten, vertrauen können oder ob sie ihn in Schwierigkeiten bringen oder Schmerzen oder Schaden zufügen. Da hören sie dann sofort auf [...] {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, III 366}
Tag, Monat, Jahr
Das Schönste, was ich je gehört habe in einer sozialen Bewegung, war: Wir haben gelernt, aufeinander aufzupassen. Wir sind eine soziale Bewegung. Die haben das so gemacht, gekonnt, das weiß ich. Die hatten auch nie Angst, sich lächerlich zu machen oder alleine dazustehen. Aber hier in der Stadt [...] war das nicht so. Meiner Meinung nach. Die NGOs und die Bewegungen waren nicht wirklich so.[Die GFs.] {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, III 31}
Tag, Monat, Jahr
Man soll fauchen wie ein Löwe. Brummen wie ein Bär. Meckern wie eine Ziege. Oder man soll sich freundlich zuwinken. Lachyoga. Lachen und dabei in die Hände klatschen macht munter; die Lachlaute sind je verschieden gut: Hihi weckt einen auf, das Hirn. Haha labt das Herz, Hehe den Hals und die Gefühle und macht immun. Hoho ist gut gegen den Groll, gegen die Wut. HihihiHeheheHahahaHohoho soll man der Reihe nach lachen, weil das heilsam ist. Und mit den Armen schwingen wie ein Vogel und dabei eben lachen soll man. Oder sich auf den Rücken werfen wie ein lachender Käfer. Letzteres verstehe ich nicht. Ich habe immer geglaubt, ein auf dem Rücken liegender strampelnder Käfer kämpft um sein Leben. Wie kann dem zum Lachen sein. Lachen kann jedenfalls jeder. In jeder Lebenslage. Und man muss immer tun, was man kann. [Huhuhu ist fürs Gedärm in jeder Hinsicht...] {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, III 23}
Tag, Monat, Jahr
Seit den 1970er Jahren experimentiert der Computer-, IT- und KI-freundliche Katastrophenpsychologe Dietrich Dörner intensiv und konsequent, um Menschen wie Dich und mich, aber vor allem um die jeweiligen politischen, technischen, ökonomischen Entscheidungseliten durch Computersimulationen zu schulen und vorstellungsfähiger und dadurch wirklichkeitstauglicher zu machen. Auf dass politische, technische, ökonomische Unfälle, Debakel und Desaster verhindert werden: Das Dörnerexperiment 2 betrifft ein fiktives Entwicklungsland namens Tanaland, das Dörnerexperiment 1 die fiktive kleine deutsche Stadt Lohhausen, das Dörnerexperiment 3 ist das reale Tschernobyl. Den Versuchspersonen wird jedwedes Know-how und Machtinstrumentarium, sogar das der Diktatur, zur Verfügung gestellt. Aber fast alle Versuchspersonen sind den Situationen, Strukturen, Zwängen, Zusammenhängen, Geschwindigkeiten und Abläufen nicht gewachsen und zerstören unerbittlich das, was sie aufbauen oder retten sollen. In den 30, 40, bald 50 Jahren der Dörnerexperimente hat sich daran nicht viel geändert. Und Dörners Experimente sind vielleicht sogar gruseliger als die Milgrams, denn die jeweilige Versuchsperson handelt frei und ungezwungen, keine beigestellte Autorität zwingt sie weiterzumachen, egal, wie es den überantworteten Menschen dabei ergeht. Die für die Entwicklungslandbewohner lebensbedrohlichen und quälenden Interventionsfolgen wurden vom fiktiven Entwicklungshelfer, vom Computertäter, als notwendige Durchgangsphase deklariert. Die Versuchspersonen agierten ziemlich brutal, egal, ob sie männlichen oder weiblichen Geschlechts waren: Die Hungernden beispielsweise müssen eben, hieß es seitens der Versuchspersonen, für ihre Enkel leiden. Es sterben, meinte man auch, ja wohl hauptsächlich die Alten und Schwachen, was gut sei für die Bevölkerungsstruktur. Je gefährlicher die Situation beispielsweise für die Entwicklungslandmenschen wurde und je mehr warnende Informationen, negative Rückmeldungen die es gut meinenden, immer nervöser werdenden Computertäter bekamen, umso gleichgültiger und rücksichtsloser agierten sie und fanden gute Gründe für ihr eklatant falsches, großen Schaden stiftendes Vorgehen. {Paraphrasiert, vgl. Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, III 412ff.}
Tag, Monat, Jahr
[...] Triage. Eigentlich heißt das bloß Ausschuss, z. B. beim Kaffee. Aber es sind Menschenleben. Triage: Man hilft in Katastrophensituationen, bei akutem Ressourcenmangel der Helfer denen, die noch am ehesten eine Chance haben. Triage: Zuerst die, die nicht mehr schreien, dann die, die schreien, dann der Rest. Diese Regel gibt es auch. Aber die ist sehr schnell für Arsch und Friedrich. Der Sozialstaat ist dafür da, dass es in Notsituationen nicht dazu kommt, dass den einen geholfen wird und den anderen nicht. Der Sozialstaat ist also das Gegenteil von Triage und Selektion. Die Regel Leben gegen Leben muss nicht angewendet werden. {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, III 523}
Tag, Monat, Jahr
Wäre ich Kulturstadtrat, würde ich sofort jeglichen Alkoholkonsum bei Kulturveranstaltungen unterbinden. Und zwar bloß, weil ich wissen möchte, was dann geschieht. Also, was von der Kunst und vom geistigen Leben übrig bleibt. {Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, III 428}
Schlussworte wie folgt: Dem Sozialstaatsschuber, meinem, wurde im jahrelang behinderten Entstehen und natürlich erst recht nach Erscheinen wiederholt vorgeworfen, er sei voller Wiederholungen; end- und ausweglosem Leid; Leuten, die man sich weder merken kann noch merken mag, allein ihrer Anzahl wegen, und schon gar nicht aufgrund ihrer Charaktereigenschaften. Und ein Schlüsselroman sei das Ganze auch noch dazu. Für so etwas wie meinen Sozialstaatsroman brauche man sohin einen Waffenschein. Der Sozialstaatsroman, meiner wie gesagt, sei irgendwie gemein, denunziatorisch, hinterhältig, verleumderisch, sogar irgendwie erpresserisch. Was darin wahr sei, sei überdies überhaupt ungewiss, weil nicht auszumachen. Und er und ich seien auch nicht zitabel. Ein furchtbares Buch, trist, verhängnisvoll, entbehre jeglicher Utopie und des Trosts. Vor allem: Was im Sozialstaatsroman berichtet werde, sei überhaupt nichts Neues, sondern kenne und wisse man ohnedies. Er sei also eigentlich uninteressant. Zumal eigentlich auch schlecht geschrieben; für ihn gebe es also weder Markt noch Publikum noch sonst woher Geld. Unerträglich, unleserlich und gewiss unverkäuflich sei er. Und bewirken und ändern könne er sowieso nichts und man selber tue im Leben und Beruf außerdem sowieso, was man nur könne, seit jeher und jeweils immer. Ich übertreibe nicht, sondern ziemlich so in etwa 1:1 wurde zu mir geredet verschiedensterseits. Mit Verlaub, ich habe Glück gehabt. Und der Sozialstaatsroman handelt eben von Menschen, die Glück gehabt haben. Von im Stich Gelassenen, die plötzlich doch ein Leben hatten, da Menschen, die ihnen halfen, wirklich halfen, verlässlich. Und andererseits berichte ich von denen, die zugrunde gegangen sind, weil niemand da war in wichtigstem Augenblick und wichtigster Zeit.
Worum ich Sie, sehr geehrte Damen und Herren, bitte, falls und sofern das von mir Ihnen Vorgelesene Ihrem Innenleben oder Ihrer Denkungsart irgendwie konveniert, ist: im Sozialstaatsschuber, im Register, unter Seppi und Günther nachzuschauen und sodann an den dort genannten Stellen. Seppi war mein Volksschulfreund und man hat ihm sukzessive und fälschlich Intelligenz und Lebensfähigkeit abgesprochen und ihn mit knapp über 20 Jahren in ein Altersheim, Pflegeheim gegeben. Und sein ihn liebender Bruder, herzensgut, fleißig, hilfsbereit und erschöpft, hat sich mit knapp über 50 Jahren in der Mur ertränkt. In der Folge. Vom Leben der beiden z. B., von dem, was sie versucht und worauf sie sich gefreut hatten, berichte ich. Auf Günthers Grab sitzt im Übrigen ein halbhandkleiner kitschiger weißer Engel, aus einem weißen Buch vorlesend. Kann leicht sein, der liest ihm vor, was die vorgeblichen Bildungs- und Hilfseinrichtungen samt exekutierendem Personal den beiden Brüdern verwehrt und unterschlagen haben. Der Sozialstaatsroman erzählt tatsächlich von tatsächlichen Menschen, denen de facto die Lebensfähigkeit samt Leben abgesprochen wurde und das Bewusstsamt dem Menschsein. Einer Frau z. B., von der es hieß, sie werde nicht überleben und wenn, dann ohne jegliche höhere geistige Funktion und Fähigkeit. Nichts davon war dann wahr. Zum Glück. Von diesem Glück z. B. erzähle ich. Wie darum gekämpft wurde. Von Menschen. Und wie es dann wirklich da war. Und so weiter und so fort. Der Sozialstaatsroman hat, nebstbei gesagt, vielleicht deshalb seine 1.200 Seiten, weil er von vielleicht 1.200 Menschen Bericht gibt. Solchen und solchen. Das Zweite jedenfalls, worum ich Sie, sehr verehrte Damen und Herren, bitte, ist: Wiederholen Sie jetzt endlich das österreichische Sozialstaatsvolksbegehren! So schnell wie Ihnen jetzt nur irgend möglich! Der Zweiten Republik ist, kommt mir vor, nicht viel eingefallen, das dermaßen vernünftig war wie das Sozialstaatsvolksbegehren. Im Jahr 2002 war das und wesentlich im Bemühen verbunden unter anderen mit dem Arzt und Pflegeanwalt Werner Vogt, dem Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister, der Frauenministerin Johanna Dohnal. Und, was die Wenigsten wissen, mit dem Menschen- und Wirklichkeitswissenschaftler Pierre Bourdieu. Für ganz Europa hatte der so etwas vor. Sozusagen Österreich statt Katastrophe. (Wie auch immer.) Tun Sie es einfach! Bitte! Wiederholen Sie’s! Ah ja, und wenn Sie gerade dabei sind: Warum gibt es da hier kein Schulunterrichtsfach, das Helfen heißt? Installieren Sie es einfach. Bitte! Und im ORF ein fixes Friedensforschungsformat, Friedensprogramm, z. B. jede Woche 2 Stunden.
Mein Sozialstaatsroman, das sei noch gesagt, ist kein Schlüsselroman; der Schlüssel lautet vielmehr einzig wie folgt, nämlich: Menschen sind gut und klug, wenn man sie es sein lässt, und Systeme sind änderbar, wenn man sich ihrem Verhängnis nicht fügt. Sie würden, sehr geehrte Damen und Herren, würden Sie in den Sozialstaatsschuber schauen, keinen einzigen Menschen finden, niemanden, nicht unter den Opfern, nicht unter den Tätern, der nicht Entkommen und wirklichen Ausweg selber sich wünscht und selber benennt und selber versucht.
Wenn wir sprechen, sehr geehrte Damen und Herren, sind wir, kommt mir vor, wie Affen, die von Baum zu Baum springen. Sind unsere Sätze falsch, unser Satzen eben, sind wir auf der Stelle tot oder bald. Durchs Reden also, Sie und z. B. ich, lassen wir unsere Fehler, falschen Sätze eben, an unserer Stelle sterben. Ersparen uns so Leid und Tod. Könnten. Den anderen Leuten auch. Der Sozialstaatsroman jedenfalls besteht aus solchen Sätzen. Aus Situationen und Menschen besteht der und was die tun mit welchen Folgen. Schicksalhaften. Und eben diese werden durchbrochen. Fehler sind wiedergutmachbar. Jeder hat eine 2. Chance, ein 2. Leben. Mindestens.
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