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Interview 14. Juni 2020

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Wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Die Tage gehen im Moment jedes Mal gut aus. Ich hoffe, das hat kein Ablaufdatum.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Die Wiederholung des Sozialstaatsvolksbegehrens aus dem Jahr 2002. Es war präventiv und verbunden z. B. mit der Frauenministerin Dohnal, dem WIFO-Ökonomen Schulmeister und dem Arzt und ersten Wiener Pflegeombudsmann Werner Vogt. Wäre es parlamentarisch realisiert worden statt nicht einmal auf eine Tagesordnung gesetzt (über 700.000 Stimmen hatte es unter schwierigen Umständen erreicht), wären uns da hier die Katastrophen jetzt erspart geblieben, auch die wirtschaftlichen. Das Sozialstaatsvolksbegehren zu wiederholen ist des Öfteren versucht worden, z. B. zwischen 2008 und 2010, angesichts der Weltwirtschaftskrise infolge der Bankencrashs. Die Kooperation mit wichtigen Interessenverbänden kam jedoch nicht zustande, die waren nicht interessiert. Z. B. die roten. Europaweit die Roten nicht.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst zu?

Das Sozialstaatsvolksbegehren halte ich tatsächlich für dringlich, unverzichtbar und für den jetzt einzigen tatsächlich realisierbaren Ausweg. Und Gedichte. Mit Verlaub! Die sind eine wirkliche Hilfe. Habe ich von einem Kriegsberichterstatter gelernt.

Was liest Du derzeit?

Ich kann nichts dafür: mein eigenes Buch. Weil ich das gerade fertigstelle. Ein Friedens- und Dolmetscher*innenbuch, den letzten Teil meines Sozialstaatsromans. Da kommen zwar Bücherquellen drinnen vor en masse, aber welche, ist noch Werkgeheimnis. Aber vor ein paar Tagen habe ich wieder einmal in Paul Feyerabends Schriften geblättert. Das war ein österreichisch-amerikanischer Philosoph, schwer kriegsversehrt und ein menschenfreundlicher, sehr liebevoller Anarchist. Der hat vor Jahrzehnten konstatiert, dass fast niemand mehr wisse, was alles möglich gewesen und daher wieder oder immer noch möglich sei. Es sei gerade und werde immer mehr so sein wie in einer verbauten, zerstörten Landschaft: Nach kurzer Zeit wisse niemand mehr, wie es bis vor kurzem ausgesehen habe und wie schön es war. Und was alles möglich, im Schlechten wie im Guten. Und ein Buch, das ich empfehlen würde, ist Werner Vogts Lebensbericht, sein Arztroman aus dem Jahr 2013. Da steht alles drinnen, kommt mir vor, was jetzt getan werden kann. In Überreichtum von Martin Schürz blättere ich auch oft. Der ist einer der mutigsten Reichtumsforscher*innen nicht allein in Österreich. Zitiert lustigerweise viele amerikanische, englische und französische Schriftsteller*innen. Klassiker gewissermaßen. Die sind für ihn genauso Argumente wie die Ziffern. Adolf Holls Kinder- und Jugendbuch Wo Gott wohnt hielt ich gestern auch für ein paar Augenblicke in Händen, fällt mir gerade ein; das war das Lieblingsbuch Bruno Kreiskys, heißt’s. Holl war ein frommer Mensch meines Empfindens und zugleich einer der redlichsten Ideologiekritiker in Österreich. Um den unbefangenen Jesus beim Erwachsenwerden geht’s zirka in dem Buch. Eine Reminiszenz ist’s wohl auch irgendwie an den Gott in den Katakomben, welcher dort, sagt man, ja nicht als gekreuzigt dargestellt wurde, sondern als durch und durch lebendig und als behutsam und fürsorglich. Ein kleiner, lieber Gott und Menschen ohne Größenwahn, darum geht’s, glaube ich, beim lieben Adolf Holl. Ging’s. Heuer gestorben. Das Lieblingsbuch von seiner lieben Lebensgefährtin Inge Santner ist Holls Wo Gott wohnt auch seit jeher. Sozusagen von der ersten Zeile an. Feyerabend, Schürz, Holl, Vogt ... so, womit kann ich Ihnen noch dienen, der Sie mich ja so freundlich in Ihr enzyklopädisches Unterfangen da hier eingeladen haben?

Welches Zitat möchtest Du uns mitgeben?

Semper patet alia via. Das ist von Erasmus aus Rotterdam. Immer stehe ein zweiter Weg offen. Der Ausweg eben. Der Spruch erinnert mich an Werfels Jakobowsky und der Oberst. An den Film mit Danny Kaye. Der sagt auch in den schwersten, gefährlichsten Situationen immer, dass man immer 2 Möglichkeiten habe im Leben. Jede dieser Möglichkeiten berge in sich wieder 2 neue Möglichkeiten. Und Jakobowsky eben imaginiert und wählt sich inmitten von Not und Übel nach Möglichkeit die jeweils bessere. Am Ende geht’s gut aus. Ist offensichtlich eine gute Methode.

Zum Bachmannwettbewerb und wieso die Teilnahme meinerseits, dazu soll ich auch was sagen, sagten Sie mir am Telefon zirka, und was ich bislang so getrieben und geschrieben habe oder was oder wie, oder?

Ich wette 1. mit Ihnen, die heurige Veranstaltung wird lebhaft, einfalls- und hilfreich, vehement, umsichtig, spontan und menschenfreundlich sein. Alle Teilnehmenden werden dafür sorgen, die sind sich mit Gewissheit ihrer Verantwortung bewusst. (I eh ah.) Es kann ja sein, dass der Bachmannbewerb von Anfang an und durch all die Jahrzehnte nahezu nie im Sinne von Frau Bachmann war. Die vielen Schlachtungen nämlich und das Plastik und die Automaten aller Sorten hätten sie immer schon abgestoßen. Die Gewalt, die Grausamkeit, das Zerstörerische, Sinnlose. Weg damit! Heuer, just, wird das, wette ich, wirklich geschehen. Die Bachmann wird’s freuen.

2. Was ich am Bachmannwettbewerb gerade jetzt für die heutige Zukunft, Gesellschaft, Politik für höchst wichtig und für hochinteressant finde, ist seine Art von Transparenz und von Demokratie. Da wird nämlich, anders als sonst oft bis meistens, in Gegenwart und unter Mitwirkung großer Öffentlichkeit demokratisch gewählt, wer was kriegt, wer nicht. Mich erinnert das Ganze auch an das antike Theater, die antike Tragödie und Komödie in Athen. Die waren Erfindungen und Ausdruck der Athenischen Demokratie, und zwar nahezu von Anfang an. Zwar hat es in Athen bekanntlich auch bloße Zufallsentscheidungen durchs Los gegeben, was bestimmte Ämter und Funktionen betrifft. Was ja irgendwie erschreckend und lustig zugleich ist, aber zwischendurch durchaus auch Sinn und Zweck hatte, zumindest auf den ersten Blick, nämlich dass potentiell jeder drankommen kann hinein in ein Amt und dies sicherheitshalber schadensbegrenzt auf kurze Zeit. Die Wettkämpfe unter den Dramatikern waren freilich anderer Art. Eben irgendwie in Richtung heute und Bachmannwettbewerb, kommt mir halt vor. Nicht bloß per Zufall und per Los oder per Hierarchie. Wie diskutiert wird seitens der Kritiker*innen über die Lesungen und über die Preiszuteilungen, scheint mir demokratisch lehrreich. Gerade heute könnte man vom Bachmannwettbewerb viel lernen, die ganze Gesellschaft. Sozusagen irgendwie athenisch eben. Voraussetzt das alles, wie soll ich’s sagen, beim Wettbewerb seitens der Obrigkeiten wirklich moralisches und intellektuelles Niveau, auf gut Deutsch: menschliches Niveau. Erasmus aus Rotterdam, 15. Jahrhundert, der Humanist, nach dem ja so viel benannt ist heutzutage, hat übrigens viel Wichtiges zu dem gesagt, wie {kulturelle und} geistige Auseinandersetzungen sinnvoll sind und wann hingegen ein Graus und Grauen. Der Sozial-, Menschen- und Wirklichkeitswissenschaftler Pierre Bourdieu, 20. Jahrhundert, hat das Ganze freilich ganz genau analysiert und es gibt ja auch, soweit ich weiß, eine genaue Studie des Bachmannwettbewerbs, in der dieser ausdrücklich mit Bourdieuschen Mitteln analysiert wird. Wenn ich mich richtig erinnere, heißt die Autorin Moser, eine Kärntner Germanistin. Ich weiß nicht, wie diese kritische Studie aufgenommen wurde, und auch nicht mehr das Erscheinungsjahr. Wann auch immer, mir erscheint der Bachmannwettbewerb, jedes Mal, wenn etwas dabei gelingt, als vorbildliche Übung in Transparenz, Demokratie und Mitmenschlichkeit. Weil das, meines Erachtens, so ist, darf man ihn nicht abschaffen, sondern ist er gewissenhaft so zu gestalten, dass Demokratie und Redlichkeit gelingen. Schaufensterpuppen wie heuer als Publikumsersatz, wenn ich das Vorhaben richtig wahrgenommen habe, halte ich für eine fürchterliche Verdinglichung und für abstoßend und entfremdet. Für schrecklich. Habjan, wenn man ihn gebeten hätte, dass er seine wundervollen Puppen herleiht, das z. B. wäre, kommt mir vor, eine schöne Idee gewesen. Oder dass Habjan mit seinen Puppen das Publikum spielt. Gebrauchte Kinderstofftiere en masse wären auch eine gute Idee zusätzlich, kommt mir vor. Aber die Publikumspuppen heuer, kopflos und irgendwie mit und ohne Geschlecht oder doch bekleidet, furchtbar sind die meines Empfindens. Potentiell ist der Bachmannwettbewerb jedoch nach wie vor Ausdruck und Vorbild unserer Demokratie im besten Sinne und dass normalerweise Schulen, Klassen, nämlich engagierte Lehrer*innen mit ihren Schüler*innen dorthin gehen zuhören, das beeindruckt mich wirklich und ist meines Empfindens eben alles andere als 08/15. Mir kommt vor, Lebensfreude schaut so aus. Und Verantwortungsgefühl.

3. Für mich erhoffe ich durch die Teilnahme die Möglichkeit, Gedichte zu realisieren. Nichts eben ist heutzutage hilfreicher als Gedichte. Hab ich, wie gesagt, vom Kriegsberichterstatter Fritz Orter gelernt.

4. Unter anderem, neben einer Auswegereihe, habe ich einen Sozialstaatsschuber fabriziert, Sozialstaatsroman, Des Menschen Herz. Genutzt wurde der, die ersten 3 Bände, bislang nicht, wie ich es mir wünschte: nämlich z. B. dass jede*r – und sei es im mich demontierenden Streit – ihre und seine Geschichte dazuerzählt, ihre und seine Not. Dadurch Abhilfe schafft anderen und sich. Rauskommt, raushilft aus den etlichen Zwangssituationen, Ausweglosigkeiten, Schädigungen. Selbige habe ich in Familien, Hilfseinrichtungen und sozialen Bewegungen benannt. Menschenleben dort. Dass der Sozialstaatsroman aus Liebesgeschichten besteht, hat auch kaum wer bemerkt. Wie das ist, wenn die Liebe stärker ist als der Tod. Und wie, wenn nicht. Entscheidungen und deren Folgen.

5. Erich Fromm bedeutet mir viel; der hat Objektivität als die Bereitschaft, Fähigkeit, Fertigkeit kenntlich gemacht, Menschen nicht zu entstellen, Menschen nicht und Sachverhalte nicht. Darum geht’s mir. Bei Max Weber war’s detto mit der Objektivität, kommt mir vor. Der bedeutet mir auch viel. Der Linksweberianer Pierre Bourdieu auch. Der hat Menschen aus Zwangssituationen heraushelfen wollen und vor Gewalt und Betrug bewahren. Der Unterschied zwischen (guter) Literatur und (redlicher) Soziologie war für Bourdieu minimal. Um die Auswege geht’s immer. Die zu finden. Mit anderen zusammen. Und dass Menschen nicht Menschen entstellen. Der 1. Teil meines Sozialstaatsromans Lebend kriegt ihr mich nie handelt von Menschen in ihren Familien, der 2. Furchtlose Inventur von den Hilfseinrichtungen, die jeder Mensch oder jedes Menschen Liebste irgendwann brauchen in Leben und Not, der 3. Teil Tagebücher 2004–2011 von den Sozialbewegungen, den NGOs, der Zivilgesellschaft, der APO. Vom Kaputtmachen und vom Unkaputtbaren.

6. Im Oktober 1979 habe ich mit dem Schreiben begonnen. Mit 18 Jahren. Gertrude Steins Zarte Knöpfe und Bastos’ Menschensohn waren damals verstandes- und lebenswichtig für mich. Ebenso Gorkis Mutterbuch und das Handkes. Sallust sehr. Tacitus ein bisserl. Altlateinische Literatur auch. Dann später Erasmus. Wirklich geholfen hat mir jedoch immer einzig die Wirklichkeit. Gutgetan, wirklich wahr, Schmäh ohne, haben mir zwischendurch aber doch des Öfteren, sozusagen durchs Leben mich begleitet ... zwei Fügungen von Frau Bachmann, nach ihr haben Sie mich ja auch gefragt telefonisch, nämlich Ich seh den Salamander durch jedes Feuer gehen. Wie ein jähes Gebet ist das, kommt mir vor. Das habe ich in schwierigen Situationen manchmal gebetet. Genau gesagt, wenn die immer mehr bevorstanden oder plötzlich da waren. Gemurmelt hab ich da ab und zu das Salamandrische. Hat irgendwie geholfen. Und die zweite Fügung, wichtig mir immer wie nur was ... die ... Tapferkeit vor dem Freund. Hat auch geholfen, ja.

7. Von der Literatur und den Literaturbetrieben wünsche ich mir, dass sie so beschaffen sind, dass die Bachmann nicht verbrennt und Franz Innerhofer sich nicht aufhängt. Sie sehen: So einfach ist alles für mich; mache ich mir alles. In gewissem Sinn folge ich, auf meine Art halt, egal ob’s schief geht oder nicht, immer meinem Gewissen. Immer, mit Verlaub. Deshalb habe ich vor ein paar Wochen, na: Monaten inzwischen, öffentlich ein paar Fragen an den Herrn Bundeskanzler gestellt. Bekam keine Antwort. Aber das habe ich nicht falsch verstanden. Denn der Herr Bundeskanzler Kurz hatte keine Zeit, er musste ja Millionen »Österreichern und Österreicherinnen« das Leben retten. Mir auch. Und jetzt rettet er uns allen die wirtschaftliche Existenz. Auch die meiner Familie. Vorige Woche hat neben mir jemand lautstark satiriert: Händchen falten, Köpfchen senken, innig an den Kurz jetzt denken, der uns Arbeit bringt und Brot, der uns hilft aus jeder Not. Habe zu dem sofort Pfui gesagt und dass dieser Spott völlig inakzeptabel sei. Gewissen, das Wort kommt übrigens, soweit ich weiß und was mich sehr interessiert, von Demokrit her, also von einem Materialisten und Atheisten, dem das Lindern von Leid und dem die Freundschaft unter den Menschen das Wichtigste war und der immer so viel gelacht hat. Gegen die Angst wohl und aus Lebensfreude. Inspiration, Enthusiasmus, diese Begriffe hat auch Demokrit früher ausgesprochen als all die berühmten abendländischen Dichter und Denker mit den großen Namen und aber nicht gar so großem Herzen.

8. Ich halte wie gesagt die Wiederholung des österreichischen Sozialstaatsvolksbegehrens aus dem Jahr 2002 für den dringlichsten, unverzichtbaren, wirklichen Ausweg aus der jetzigen, sich verschlimmernden Situation. Das Sozialstaatsvolksbegehren war wie gesagt verbunden z. B. mit Frauenministerin Johanna Dohnal, dem WIFO-Ökonomen Schulmeister und primär dem Arzt, Menschenrechtskämpfer, Antifaschisten und ersten Wiener Pflegeombudsmann Werner Vogt. Vogts Arztroman, Lebensbericht, ist, ich sag’s sicherheitshalber noch einmal, eine Geschichtsschreibung und präventive Problemanalyse des österreichischen Sozialstaates, der Zivilgesellschaft, Institutionen und Bewegungen, des Gesundheitswesens und der Pflegeeinrichtungen. Da steht gewissermaßen schon ewig alles drinnen, was jetzt katastrophal geschehen ist. Und was man dagegen hätte tun können, kann. Mir ist unvorstellbar, dass vor dem Lockdown Berater von Fach die schwarzgrüne Regierung auf Vogts Analysen nicht hingewiesen haben, und ich bin mir auch sicher, dass unabhängig von Vogt Supervisoren, Therapeuten, Pflegewissenschaftler, Ärzte und Verbände die Regierung auf die Qualen, Unfallgefahren und Todesfolgen hingewiesen haben, die entstehen, wenn man z. B. Pflegeheime und Gesundheitseinrichtungen zu geschlossenen Anstalten macht, so der Kontrolle und Hilfe von außen entzieht und mit ihren Notständen an Personal, Material und Know-how im Stich lässt. Wie auch immer, das Sozialstaatsvolksbegehren 2002 war präventiv in jeglicher Hinsicht. Hätte man an ihm festgehalten, wären uns allen die Katastrophen da hier erspart geblieben. Gerade auch die ökonomischen. Wie auch immer, jetzt, jetzt ist das österreichische Klimaschutzvolksbegehren vorbildlich und beherzt. Die Eintragungswoche beginnt gleich nach dem Bachmannwettbewerb. Die Bachmann hätte sicher unterschrieben.

Interview für Literatur outdoors – Worte sind Wege, https://literaturoutdoors.com

Ich zähle jetzt bis drei

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