Читать книгу Ich zähle jetzt bis drei - Egon Christian Leitner - Страница 23
Intervention 29. Mai 2015
ОглавлениеGroß A) Machiavelli wurde sechsmal hingerichtet. Zum Schein zwar jedes Mal, aber das hat er nie gewusst. Man hat ihn sechsmal erhängt, stieß ihn mit dem Strick um den Hals hinunter, fing ihn dann im letzten Moment auf. Er schrieb sodann nur mehr über Sex and Crime. Über Crime in seinen politischen ratgebenden Schriften an die Eliten. Über Sex in seinen Stücken, für die er einem größeren Publikum, dem Volke eben, bekannt wurde. Manche meinen heutzutage, es sei Verantwortungsethik, was er betrieben habe, und Ideologiekritik; manche, es sei voller Ironie und Spott gegen die skrupellos Mächtigen, für die er arbeitete und die mit ihm machen konnten, was sie wollten. Über sie habe er erzählt, wie sie wirklich sind. Hat sie kennengelernt, die Fürsten, Führer, Kaiser, Könige, Päpste, Bischöfe, persönlich, die Residenzen, die Städte und das Volk. Ohne VIS und DOLUS, ohne Gewalt und Betrug, gehe gar nichts. Jederzeit muss man damit rechnen und dazu bereit sein. Laut Machiavelli. Sein eigener Stadtstaat war für ihn das Wichtigste. Und daher das eigene Militär das Um und Auf. Selbiges baute er auf. Das war sein Stolz. Machiavellis Söhne sollen schwer erziehbar gewesen sein. Des Weiteren pflegte er seine Frau zu betrügen, sie packte ihrem Herrn Gesandten weiterhin die Socken für die Reise ein oder schickte ihm seine Wäsche nach. Machiavelli ist wie gesagt offensichtlich zuvorderst durch mehrmals angedrohten Genickbruch Politologe geworden. Was man von Machiavelli lernen kann, z. B. in den Ausbildungen der Manager aller Art, ist mir ein Rätsel. Legte man Maßstäbe an wie die des Schweizer Psychoanalytikers Arno Gruen, dann wäre der Schlüssel zu Machiavelli und den Seinen der Mechanismus der Identifikation mit dem Aggressor. In Gruens Augen ist dieser Mechanismus heutzutage allgegenwärtig. Und das Problem sind laut Gruen nicht irgendwelche Bösen und irgendein Böses, sondern die Guten, die das, was geschieht, geschehen lassen.
Groß B) Durch das Reden ersparen wir uns das Sterben. Wir lassen da nämlich unsere falschen Sätze an unser statt untergehen. Sind wie Affen, die von Baum zu Baum springen; ist der Satz, den der Affe tut, falsch, dann ist der Affe auf der Stelle tot oder bald. Für Karl Popper ist das die Funktion der Sprache. Diese Ansicht teile ich. Reden erspart Leid. Könnte.
Groß C) Vor einigen Monaten nahm ich nebenbei Folgendes wahr: In einer Kinderecke in einem Lokal hat ein Kind, allein mit sich, gut eine Stunde lang Folgendes gesungen: Jede Zelle meines Körpers ist glücklich. Jede Zelle meines Körpers ist froh. Jede Zelle, jede Stelle. Jede Zelle, jede Stelle ist heute gut drauf. Und dann in einem fort: Ahoi! Das Kind, wohl fünf, sechs, sieben Jahre alt, hat, während es sang, in einem fort etwas repariert. Ein Spielzeug oder etwas ebenso Wichtiges. Ich konnte beim Fortgehen nicht erkennen, was es war. Es kann also gut sein, dass es der Sozialstaat war, Ihrer wie meiner. Ahoi!
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1., 2., 3., 4. und so weiter und so fort 20 Minuten ab jetzt:
1.) Die Wirtschaftswissenschaftlerin Ursula Schneider, Ursula Hendrich-Schneider, vertrat im Frühjahr 1999 – im Frühjahr 1999! – bei einer Grazer Tagung zum Thema Globalisierung und Nationalstaat die Ansicht, dass man zurzeit die meisten Menschen nicht einmal mehr für wert erachte, ausgebeutet zu werden, und das werde immer schlimmer, es werden immer mehr werden. Das sei die Zukunft. Aber gegenwärtig sei es für die meisten immer noch völlig unmöglich, zu verstehen, was um uns herum geschieht; es verlasse uns in den wichtigsten Situationen ständig die Phantasie. Und der Wissenschaft fehle es an empirischem Material; die Wissenschaft könne uns daher nicht sagen, was uns bevorsteht, und schon gar nicht, was dagegen zu tun ist. Und die Gewerkschafter seien zu den Genossen der Bosse geworden, machen für diese die Politik statt für die eigenen Schutzbefohlenen. Und wenn ein Wissenschaftler öffentlich andere wissenschaftliche Meinungen vertrete als die Neokapitalisten, werde er fachlich lächerlich gemacht. Auch medial seien Gegenmeinungen in jeder Hinsicht unerwünscht. Das Ganze sei ein Kulturproblem geworden. Der Neokapitalismus werde in den Grundannahmen von den Leidtragenden selber nicht in Frage gestellt. Sozialdemokratische Politik habe sich verabschiedet, der wirtschaftliche Wettbewerbsdruck sei für alles und jeden das Alibi. Niemand überprüfe mehr öffentlich, was öffentlich geredet wird. Kein Journalist insistiere, nicht einmal nachgefragt werde. Sie sagte, Solidarität habe es, wenn überhaupt, dann vielleicht nach dem Krieg gegeben; jetzt wolle jeder nur seine eigenen guten Geschäfte machen, indem er anderen falsche Hoffnungen mache und sie dann rücksichtslos enttäusche. Und gerade die politischen Eliten werden diesen Zustand nicht ändern, da sie sich am reichlichsten und leichtesten vom Kuchen bedienen können. Es sei keinerlei Bereitschaft zu einem New Deal vorhanden, also werde es keine wirklichen staatlichen Wirtschaftsinterventionen geben, keine wirklichen Eingriffe ins Banken- und Kreditwesen, keine Investitionen in den Sozialstaat. Aber dass eben alles nicht so sein müsse, sagte die Wissenschaftlerin Schneider im Frühling 1999 auch. Aber so werde trotzdem der Gang der Dinge sein. Wir seien nun einmal so, weil die Verhältnisse so seien. Und die seien aber unseretwegen so. Und dann sagte sie aber auch, man dürfe sich von den Unternehmen nicht erpressen lassen, sondern solle es darauf ankommen lassen. In Wirklichkeit würden die wenigsten Unternehmer abwandern. Auch nicht die hiesige Autoindustrie. Die Politik dürfe einfach nicht so schnell klein beigeben. Und man müsse soziale Phantasie entwickeln, die habe jeder Mensch, könne jeder lernen. Die Wissenschaftlerin Schneider sagte, dass Wissenschaftlern Studien über die kleinen Leute nichts einbringen, sondern Zeit verschwenden und der Karriere abträglich seien; das Prestige fördern nur die Arbeiten über die Eliten und über die obere Mittelschicht. Aber Studien über die kleinen Leute würde man gerade jetzt dringend brauchen. Und dass die gigantischen Fusionen, die überall in der Wirtschaft und in der Außenpolitik gerade vor sich gehen, zum größten Teil wieder auseinanderfallen werden, weil sie substanzlos seien, sagte sie. Und es müsse einem, einer einfach egal sein, wenn man ausgelacht wird.
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Zilian stellte öffentlich gerne die Frage: Wie kommt es, dass so viele gute Menschen so viel schlechte Politik machen? So viele gute Menschen und so schlechte Politik, wie gibt es das!? Zilian tat dabei öffentlich folgende Aporien auf:
a) Lobbying helfe in Wirklichkeit nur denen, die es betreiben; also das Engagement nur den Funktionären. Oft auch verringerten just die Helfer den Handlungsspielraum der Klienten, statt ihn zu erweitern.
b) Den in Studien Befragten nutze es in Wirklichkeit nichts, wenn sie sich äußern. Im Fall der Jugendlichen sei das beispielsweise so.
c) Der Widerstand gegen die gegenwärtige Politik sei in Wirklichkeit nicht organisierbar, weil wir Herren und Knechte zugleich seien. Es könne uns zum Beispiel passieren, dass die Firmenaktien, die wir gekauft haben, für uns gewinnbringend in die Höhe schnellen, weil neben anderen auch wir selber von eben dieser Firma gerade eben entlassen wurden. Widerstand leiste man vermutlich überhaupt nur, wenn man es sich leisten könne oder nichts zu verlieren habe. Gemeinsamer Widerstand sei auch deshalb so schwer zu organisieren, weil die Gruppen, die das tun müssten, daran gewöhnt sind, ihre Einzelinteressen anderen konkurrierenden Gruppierungen gegenüber durchzusetzen. Das Konkurrenzprinzip werde nicht und nicht ausgeschaltet. Genauso wenig wie der Einzel- und der Gruppenegoismus.
d) Die rechtsextreme Selbstinszenierung von Jugendlichen sei zuallererst ein Symptom. Die wirkliche Ursache liege darin, dass man Jugendlichen die Geborgenheit verweigere und dadurch der rechtsextremen Szene die Kanäle der Nachwuchsrekrutierung öffne.
e) Es gebe im bestehenden Rechts- und Sozialstaat immer wieder und zunehmend keine andere Möglichkeit, Menschen in Sicherheit zu bringen und ihnen wirklich zu helfen, als sie gleichsam zu adoptieren, also gleichsam die Aufnahme in die eigene, private Familie.
Zilian hat 2002 übrigens darauf gewettet und war davon überzeugt, dass das österreichische Sozialstaatsvolksbegehren weit über eine Million Unterschriften bekommen werde, wahrscheinlich gar eineinhalb Millionen. Denn die Österreicher seien sehr sozial, wenn man sie es nur sein lasse, sie nicht gegeneinander hetze, sie nicht gegeneinander ausspiele und sie nicht ständig falsch informiere. Völlig falsch auch sei es, zu glauben, der Sozialstaat sei nur für die Randgruppen da. Man müsse im Werben für das Sozialstaatsvolksbegehren vielmehr klarmachen, dass der Sozialstaat die Masse der Bevölkerung, die absolute Mehrheit, versorge, darum gehe es, wolle man das Potential an eineinhalb Millionen Unterzeichnenden ausschöpfen. Des Weiteren hat Zilian sich selbst zu verklären pflegende Einrichtungen, sich selbst zu verklären pflegende tagtägliche Einrichtungen, Hilfseinrichtungen, vorm Looping und vorm Unterleben ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewarnt. Die Begriffe Looping und Unterleben stammen bekanntlich von Goffman und bedeuten in etwa Doublebind, Burnout und Absturzexistenz, nämlich dass die Belegschaft, das Personal, unlösbare Aufgaben aufgetragen bekommt und für die Fehler der Vorgesetzten zur Verantwortung gezogen wird. Mit allen Konsequenzen. Infolge von obrigkeitlichem Organisationsversagen. Des Weiteren hat Zilian den Unterschied zwischen Ethik, Etikette und Etikettenschwindel ins allgemeine Bewusstsein zu heben getrachtet.
2.) Im Juni 2005 fand in Graz anlässlich irgendeines Gedenkjahres der hiesigen Soziologie eine Veranstaltung zum Thema Die flexibilisierte Gesellschaft statt. Die Diskussion war lebhaft und voller Missverständnisse. Ursula Schneider und Hans Georg Zilian debattierten miteinander. Ich weiß nicht mehr, worum es ging. Unter anderem um Zahlenmaterial, das Zilian anzweifelte. Warum, weiß ich nicht, zumal ich, konsterniert über die Missverständnisse zwischen dem von mir für seine Umsicht, Sorgfalt, Gewissen- und Muthaftigkeit bewunderten Zilian und der von mir für ihre Umsicht, Sorgfalt, Gewissen- und Muthaftigkeit bewunderten Schneider, die meines Empfindens und Wahrnehmens ja beide dasselbe sagten, harmoniebedürftig das Weite suchte und mich aus dem Publikum entfernte. Wie die Diskussion weitergegangen ist, weiß vielleicht Professor Prisching noch, der damals ja sozusagen auch mit von der Partie war am Podium. Moderat als Moderator. Zilian ist im Juni 2005 verstorben, Hendrich-Schneider 2009. Die flexibilisierte Gesellschaft war wie gesagt das Thema gewesen.
Richard Sennetts Formel Der flexible Mensch wird bekanntlich von Mund zu Ohr, von Ohr zu Mund gereicht. Die Quintessenz aus besagtem Werk bekommt man dabei aber fast nie zu hören. Die Quintessenz ist kurz und bündig gesagt das Lebenswerk des Emmanuel Lévinas, welcher Mitte der 1990er Jahre gestorben ist und den viele Kritiker der Gegenwart bei aller Skepsis Lévinas’ blinden Flecken gegenüber als einen der wichtigsten Ethiker des 20. Jahrhunderts erachten. Von Lévinas stammen die vielleicht befremdlichen, vielleicht gar reflexartig abstoßenden Worte, dass das Gesicht nicht vergewaltigt und nicht getötet werden kann, sondern dass das Gesicht die Misshandlung verhindert. In Der flexible Mensch wie gesagt nennt Richard Sennett en passant und kürzelartig gerade Lévinas’ zwischenmenschliche Verhaltensfundamente als vielleicht wichtigstes Gegenmittel gegen die seelischen Wirkmechanismen des neuen Kapitalismus. Lévinas wäre verrückt geworden, heißt es, freilich nicht bei Sennett, und Lévinas hätte nicht mehr leben können, heißt es, hätte er anders empfunden, wahrgenommen, gedacht, geredet, als er es tat. Er habe empfunden, wahrgenommen, gedacht, geredet wie jemand, der zwar der Zerstörung entkommen sei, der aber innen und außen immer noch inmitten allgegenwärtiger Zerstörung und ständiger Bedrohung lebt, leben muss. Lévinas habe angesichts der Vernichtung, der Qualen, der Unentrinnbarkeit, der völligen Sinnlosigkeit, welcher die Menschen, die er liebte, erbarmungs- und endlos ausgesetzt waren, keinen anderen Sinn mehr fühlen können als den, von dem er berichtet. Es bestehe die Gewissenspflicht eines jeden Menschen, das Leiden eines jeden anderen Menschen auf sich zu nehmen, zu tragen und zu beheben, steht bei Lévinas festgeschrieben. Die jeweiligen Eliten freilich, meinte er, neigen zu einem heuchlerischen Verständnis von Gewissen, Nächstenliebe, Gott. Man mag meinen und zugestehen, Lévinas rede von Extremen, gegen Extreme sei er vielleicht gut. Doch Lévinas redete von jedem Tag, vom Alltag, von Alltagsmenschen, von alltäglichem Leben. Lévinas’ seltsames Denken will Menschen unbeirrt und unnachgiebig vor der Gewalt schützen, die sie einander antun. Für Richard Sennett jedenfalls ist Lévinas vielleicht das wichtigste Gegenmittel gegen die Gegenwart mit ihrer neuen Wirtschaft, neuen Politik, neuen Kultur und ihrem neuen Seelenleben samt neuer Arbeit. Die Unverletzlichkeit des menschlichen Antlitzes und die absolute, rückhaltlose Hingabe an den Anderen, darauf beruht diese seltsame Ethik. Lévinas’ Verständnis von Identität z. B. bedeutet, Zitat Sennett 1998, daß ich verantwortungsvoll handeln muß, selbst wenn ich mir meiner nicht gewiß bin und egal, wie verwirrt oder gar zerstört mein eigenes Identitätsgefühl ist, denn andere müssen sich auf mich verlassen können. Im Gräuel der NS-Zeit und des Lagers habe Lévinas die Aufrechterhaltung des Ich an anderen und durch andere erfahren, nämlich gebraucht zu werden und daher verlässlich sein zu müssen. Für den Soziologen Sennett und seinen Metaphysiker Lévinas ist Solidarität und ist Charakter möglich, weil Solidarität und Charakter möglich sein müssen. Soviel zu Lévinas’ Ethik des menschlichen Antlitzes, zur Moral der Visage als Ausweg. Eine spontane Replik des Humanisten Zilian auf Lévinas’ Humanismus lautete einmal: In die Augen eines Menschen schaut die ganze Welt hinein und aus den Augen eines Menschen schaut die ganze Welt heraus.
3.) Am Anfang war der Wortbruch. Meiner. Scheint es. Ich habe den Wortbruch, scheint’s, bislang durchgezogen. Angekündigt habe ich nämlich einen Vortrag folgenden Titels und Inhalts: Auswege? Ja sicher! Aber wie? Versuch einer philosophischen Provokation angesichts dessen, dass die Menschen gut und klug sind, wenn man sie es sein lässt, und Systeme änderbar, wenn man sich ihrem Verhängnis nicht fügt. Wiedergegeben, mit Bourdieuschen Mitteln analysiert und zur öffentlichen Diskussion gestellt werden Gespräche mit folgenden Ausübenden von helfenden, recherchierenden und wissenschaftlichen Berufen: Werner Vogt, Friedrich Orter, Markus Marterbauer. Wie sehen sie die anomische Wirklichkeit und ihre Arbeit in selbiger? Das also habe ich angekündigt. So also habe ich mich in die Veranstaltung eingeschlichen. [...]
Auswege? Ja sicher, aber wie? Normalarbeit – Vergangenheit oder Zukunft? 20 Jahre Denkwerkstätte Graz in Gedenken an Hans Georg Zilian, Fachhochschule Joanneum