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Intervention 26. Juni 2019

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Sofort springen Frösche, wenn man sie ins kochende Wasser wirft, wieder heraus aus dem Wasser. Aber wenn man ihnen, heißt’s, das Wasser peu à peu erhitzt und die Grade auf der Skala langsam, langsam nur, langsam ansteigen lässt, lassen die Frösche sich allesamt problem- und widerstandslos kochen. Dabei steigen die Frösche die Froschleiter immer höher hinauf und zum Schluss eben sind sie gar. (Mehr war nicht, mehr ist nicht.) Inhalt und Handlung von Bourdieus Die feinen Unterschiede sind einmal so ausgelegt worden. Österreichisch. Als Analyse des langsamen Eingekochtwerdens. Sohin als Beschreibung und Erklärung dessen, was dazu bringt, die Leiter hinaufzuwollen und -zukommen, sozusagen sich hinaufzuretten, anstatt dem Kesseltreiben schnell und ohne Zögern zu entfleuchen. Also sich herauszuretten.

Ebenfalls auf Österreichisch wurden Bourdieus Überlegungen zu Herrschaft, Macht und Gegenmacht allesamt einmal wie folgt kommentiert: Es gehe unter Erwachsenen durchaus zu wie in Schulklassen. Mitunter hole da dann eben der Lehrer den störendsten Störenfried oder die aufrührerischste Aufrührerin zu sich heraus oder herauf und sage zum Störenfried oder zur Aufrührerin, er, sie soll die Klasse übernehmen. Jetzt. Die Verantwortung also oder was auch immer. Die Macht halt. Und da dann steht oder sitzt der Störenfried oder die Aufrührerin der Klasse, der Masse perplex gegenüber und wisse preisgegeben, isoliert und ausgeliefert nicht, was tun. Die gegenwärtige linke Parteipolitik und die gegenwärtigen linken Protestbewegungen seien so: Wenn ein kleiner frecher Empörer, eine kleine muntere Empörerin von unten und draußen in eine gewisse Machtposition komme, wisse er oder sie eben nicht, was tun, und tue dort dann alles in allem dasselbe wie alle anderen dort sonst auch. Und Bourdieus Kunstsoziologie, die, die wurde auf Österreichisch einmal mit der simplen Frage quittiert, ob Bourdieu die Dirigenten als unnötig abschaffen wolle.

Der stets provokante, zuvorderst an Karl Kraus, Till Eulenspiegel, Joseph Hellers Militär-, Wirtschafts- und Gesellschaftssatire Catch 22, an Erving Goffman, Robert Merton, am common sense, Pragmatismus und an Kohorten von Paradoxien, Aporien und Anomien geschulte und gewitzte Sozialwissenschaftler, der die Frage nach der Abschaffung des Dirigenten gestellt hat und von dem auch der Vergleich mit den Fröschen stammt sowie der mit den reüssierenden Klassenkasperln, zuerst kecken, dann schockierten, dann braven, hieß Hans Georg Zilian. Verstorben 2005. Grazer. Bekanntlich spezialisiert auf die Arbeitswelt. Auch auf die von Hilfseinrichtungen. Diese hat er vorm Looping und Unterleben ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewarnt. Die Begriffe Looping und Unterleben stammen von Goffman und bedeuten in etwa Doublebind, Burnout und Absturzexistenz, nämlich dass die Belegschaft, das Personal, der Einzelne, die Jeweilige unlösbare Aufgaben aufgetragen bekommt und dann für die Fehler der Vorgesetzten zur Verantwortung gezogen wird. Mit allen Konsequenzen und infolge von obrigkeitlichem Organisationsversagen. Für die Ausbildung der steirischen Sozialarbeiterschaft war Zilian übrigens auch mitzuständig.

Als Franz Schultheis, der Herausgeber der deutschen Fassung von La Misère du Monde und damals Vizepräsident von Bourdieus Raisons d’agir, im Frühherbst 2000 durchaus auch in Vorbereitung von Bourdieus späterem Auftritt in Wien nach Graz kam, wurde er in der Diskussion vom Moderator Zilian gleich eingangs gefragt, wie das Bourdieusche Vorhaben einer europaweiten sozialen Sammelbewegung in Österreich denn überhaupt gelingen können solle. Denn: 1. träfen die französischen BourdieuanerInnen in Österreich ja auf alternativ-soziale Gruppen, die ihre Einzelinteressen massiv und egoistisch anderen, konkurrierenden Gruppierungen gegenüber durchzusetzen gewohnt und willens seien. 2. träfen die französischen BourdieuanerInnen ja lediglich aufs andere Österreich, aufs andere Wien, aufs andere Graz, also auf ohnehin alternativ gesinnte Minderheiten, die mit der Mehrheit nur schwer kommunizieren können, keine breite Öffentlichkeit finden und sich nicht bei der Mehrheit durchzusetzen vermögen. 3. Widerstand müsse sich immer irgendwie rentieren, sonst komme er nicht wirklich zustande. Wirklich Widerstand leisten können nur diejenigen, die es sich leisten können – oder nichts zu verlieren haben.

Zilians prophylaktische Grazer Fragen trafen in der Tat die Grundanliegen Bourdieus und stellten massiv in Frage, dass Bourdieus unerlässliche, unverzichtbare, unaufschiebbare Grundanliegen wirklich realisierbar seien, nämlich 1. Kooperieren, Vertrauen und Verständnis statt Konkurrenz und Destruktion, 2. Auswege kreierende gegenseitige Hilfestellung von unabhängigen WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen einerseits, NGOs, Hilfseinrichtungen, Menschen in helfenden Berufen andererseits, 3. eine europäische Sozialcharta, europäische Sozialbewegung samt etwaigem europäischem Volksbegehren, etwaiger europäischer Volksabstimmung zu Wege bringen.

Zilians Aporien benannten den üblichen, banalen, läppischen, alltäglichen Konkurrenzkampf. Innen wie außen. Den materiellen; personellen. Zwischenmenschlichen sowieso. Positionellen. Systematischen und strukturellen auch sowieso. Finanziellen z. B. Was denn sonst!

Zilian schockierte die sogenannte Zivilgesellschaft gewohnheitsmäßig und man kam auch bourdieuanerseits nicht wirklich zurande mit ihm. Nichtsdestoweniger war er vom österreichischen Sozialstaatsvolksbegehren des Jahres 2002 beeindruckt und insbesondere auch von der Wahlverwandtschaft des Sozialstaatsvolksbegehrens mit Bourdieus Vorhaben. Just der ansonsten stets skeptische, desillusionierende Beobachter Zilian hat 2002 öffentlich darauf gewettet, das unter anderem vom Arzt Werner Vogt, dem Ökonomen Stephan Schulmeister und der legendären Frauenministerin Johanna Dohnal initiierte Sozialstaatsvolksbegehren werde 1½ Millionen Unterschriften bekommen. Denn die Österreicher seien sehr sozial, wenn man sie es nur sein lasse; sie nicht gegeneinander hetze, sie nicht gegeneinander ausspiele und sie nicht ständig halb und falsch informiere. Völlig falsch auch sei es zu glauben, der Sozialstaat sei nur für die Randgruppen da. Vielmehr müsse man im Werben für das Sozialstaatsvolksbegehren klarmachen, dass der Sozialstaat die Masse der Bevölkerung, die absolute Mehrheit, versorge. Darum gehe es, wolle man das Potential von 1½ Millionen Unterzeichnenden ausschöpfen. Um die verlässliche, schützende, rettende, bewahrende Hilfe in und vor belastenden, bedrückenden, bedrohlichen, vernichtenden Lebenssituationen gehe es. Die Menschen verstehen allesamt sehr wohl, worum es geht, meinte Zilian. Um Leib und Leben gehe es. Um sie selber gehe es, um ihr Leben und um das ihrer Lieben. Jeder Mensch verstehe das. Jeder.

Was Zilian, der ja stets in den verschiedensten sich ihm bietenden öffentlichen Situationen den Unterschied – sozusagen den jeweils feinen Unterschied – zwischen Ethik, Etikette und Etikettenschwindel ins öffentliche Bewusstsein zu heben getrachtet hat, am Bourdieuanum neben dessen Affinität zum österreichischen Sozialstaatsvolksbegehren dermaßen gefallen hat, war der Rat Pierre Bourdieus für den Umgang mit jedweden machthabenden Eliten. Besagter Bourdieusche Rat lautet bekanntlich, dass man unbefangen, uneingeschüchtert und wahrheitsgemäß doch ja stets aufschreien solle wie das Kind in Andersens Märchen vom dummen, narzisstischen Machthaber mit den neuen Kleidern.

In seiner Jugend hat Zilian übrigens an einem Roman über das Fußballspielen geschrieben und auch noch kurz vor seinem unerwarteten Tod hatte er ein Forschungsprojekt im Sinne übers Fußballspielen da hier. Von wem alles und wodurch alles der österreichische Fußball ganz offensichtlich kaputt gemacht wird. Und vor allem was dagegen getan werden kann. Für diese Studie zum Zwecke des Gedeihens, Aufblühens, des österreichischen Fußballs suchte Zilian sowohl nach interessierten Geldgebern als auch unter anderem nach Leuten, die sich in Bourdieus soziologischem Werkzeugkasten ausreichend auskennen. Mit all den Feldanalysen Bourdieus also. Wie man diese gebrauchen könnte für die hiesigen Fußballfelder. Der Zustand des österreichischen Fußballs als Folge, Symptom, Spiegelbild der österreichischen Gegenwartsgesellschaft. Das war in etwa das Vorhaben.

Übrigens auch fand da hier in der Arbeiterkammer Wien wenige Tage vor Bourdieus Tod eine Veranstaltung zu den neuen Technologien und Arbeitsformen in der zunehmend durchdigitalisierten Welt statt. Zilian wetterte da, Jänner 2002 wie gesagt, erschrocken gegen die Zulassung der bis dahin in Deutschland (und ich glaube, auch in Österreich) verbotenen Hedgefonds. Erschrocken auch gegen das sozialhalluzinatorische ewige Du der Handys samt Internet. Und gegen die werbepsychologische, in den politischen und ökonomischen Auseinandersetzungen und gerade auch bei den Zukunfts- und Trendforschern übliche, plötzlich allgegenwärtige, ständige Praxis des polyperversen, vorgeblich freien und vorgeblich befreienden Denkens, nämlich des in einem fort umgekehrt Denkens, Wegwerfdenkens, dessen weltweit wirkmächtiger Erfinder just ein Österreicher war. Berühmter Psychologe. Politikerberater. Der Begriff der Wegwerfgesellschaft wurde einstens geprägt, um besagtem österreichischem Psychologen das Handwerk zu legen. Vergeblich, versteht sich. Auch Bourdieu hat in Den feinen Unterschieden gegen besagten Österreicher Stellung bezogen. Auch vergeblich. Besagter Psychologe hatte auch die Idee, im Weltraum Altersheime, Altenstationen zu bauen. Die Alten sozusagen auf den Mond zu schießen. Allen Ernstes. Zilian war entsetzt. Zutiefst erschrocken des Weiteren wetterte Zilian – ebenso wie sattsam bekannt Pierre Bourdieu das in seinen Gegenfeuern tat – gegen die neoliberale mit etlichen Nobelpreisen ausgezeichnete Ökonomie der Chicagoboys, die juristisch und de facto das Verursacherprinzip außer Kraft setzen, nämlich absurderweise die Geschädigten sowohl für den tatsächlich bereits erlittenen Schaden als auch für die künftige Schadensprävention aufkommen lassen wollen. Gerade so, wie’s bei der Mafia zugeht. Schutzgeldartig.

Wie auch immer, ich getraue mich jedenfalls zu wetten, sehr verehrte Damen und Herren, dass es österreichweit am Anfang dieses Jahrtausends nicht sonderlich viele Veranstaltungen gab, die annähernd so umsichtig, vorausschauend, lebhaft und vehement waren. Nicht zuletzt dank des forschen Sozialforschers Hans Georg Zilian. Sie werden ihn namentlich, sehr verehrte Damen und Herren, jedoch weder im Bourdieu-Handbuch noch im jüngsten Resümee der Bourdieustiftung genannt finden. Verständlicherweise. Denn er hat sich nicht zugesellt. War selber schnell von Begriff und selber Jemand. Im rechtzeitigen Sozialstaatsvolksbegehren freilich, österreichischen, bourdieuartigen, sah der distanzierte permanente Desillusionierer Zilian wie gesagt das realistischste, handhabbarste, rechtzeitigste, wirksamste Gegenmittel gegen all das, was da kommen werde an Mafia und Halluzination.

Ich gestatte mir, Ihnen, geschätzte Damen und Herren, auch in dem folgenden noch verbleibenden bisschen Überrest an Zeit weiter von ein paar österreichischen Menschenkindern mehr zu berichten, die allesamt nicht im Handbuch stehen. Ich tue das, damit Sie, werte Damen und Herren, sehen, dass Sie das Rad vielleicht gar nicht neu erfinden müssten. Heute und morgen z. B. Sie bräuchten es nur in Gang zu setzen. Es wäre, kommt mir halt vor, alles da, was Sie hier und jetzt brauchen, anno 2019 folgende. Bloß es endlich wirklich in Gebrauch zu nehmen, wäre vonnöten. Sollten Sie allerdings verärgert meinen, ich verfehle die Themen Ihrer Tagung und vergeude unverschämterweise Ihre kostbare Zeit mit Brimborium, Dekoration und Antiquitäten, darf ich Sie, verehrte Damen und Herren, beruhigen. Mit Bourdieu hat das, wovon ich Ihnen auch im Folgenden Bericht geben werde, sehr wohl wesentlich zu tun; substanziell sozusagen; desgleichen mit der Tätigkeit von Bourdieus Raisons d’agir in Österreich vom Jahr 2000 an bis dato. Mit den Reaktionen und Resonanzen auf diese Tätigkeit.

Beispiel 1: Der Pannwitzblick, der Blick des Dr. Pannwitz: Primo Levi, der diesen Blick Überlebende, hat davon Bericht gegeben: Wie der Dr. Pannwitz sich immer die Menschen anschaut. Ob der da oder der da oder ob die da oder die da etwas wert ist und jetzt dann im Betrieb des Direktor Dr. Pannwitz arbeiten wird oder nicht. Dr. Pannwitz entscheidet rational und sachlich, sowohl nämlich als Arzt als auch als Ökonom und als Techniker. Ganz schnell fällt Dr. Pannwitz diese Entscheidung. Routiniert, professionell. Mit einem Blick alles. Bis auf Weiteres Arbeit und Leben sodann oder alles aus und vorbei. Entweder Hilfe und Rettung jetzt oder jetzt, feststehend, der Tod. – Auschwitz, Auschwitz natürlich. Wo sonst? Antwort: überall. Der deutsche Sozialpsychiater Dörner, in seiner Kindheit und Jugend selber naziartig, hat den Pannwitzblick als Schlüssel für das weitergehende Alltagsgeschehen in den Demokratien nach 1945 bis heute hier und jetzt begriffen und benannt. Wie man z. B. Jugendliche sich anschaut und die Kinder bereits schon und die Minderheiten sowieso immer. All die Minderwertigkeit eben überall, auf die richtet sich der Blick des Dr. Pannwitz. Auf all die vermeintlich Minderwertigen überall. Der entscheidende Blick. Hier und jetzt. In der Politik und in der Verwaltung. Und in der Wirtschaft. Und in der Ausbildung. Und beim Helfen eben auch. In den helfenden Berufen. Der Blick des Dr. Pannwitz. Als Gegenmittel gegen besagten ganz selbstverständlichen Dr.-Pannwitz-Blick hat besagter Sozialpsychiater Dörner eine Ethik der Visage, des Gesichts, des Antlitzes sich erarbeitet und zu eigen gemacht und unter die Leute zu bringen versucht. Therapeutisch und politisch. Das Gesicht könne nicht geschändet und nicht zerstört werden. Dem Gesicht könne keine Gewalt angetan werden, das Wichtigste gegen die Gewalt sei immer das Gesicht. Besagte therapeutische und politische Ethik, die der Sozialpsychiater Dörner permanent zu praktizieren sich bemüht hat, ist nicht leicht zu verstehen. Eigentlich gar nicht. Wirkt völlig absurd. Kommt freilich und bekanntlich von jemandem her, der den Faschismus überlebt hat, seine gesamte Herkunftsfamilie verloren hat durch die Nazis. Von Emmanuel Lévinas, für viele der bedeutendste Ethiker des 20. Jahrhunderts. Von diesem hat Dörner gelernt, was los ist und was dagegen zu tun.

Der Österreicher Rolf Schwendter nun wiederum, der Devianzforscher Schwendter, selber durch und durch deviant, immer gerettet durch Zufall, drei Doktorate und eine Professur, Freundschaften, Glück, Frau, Kind, Enkelkind, hat mit dem Sozialpsychiater Dörner viel zusammengearbeitet. Für Schwendter nun waren Die feinen Unterschiede Bourdieus die Auseinandersetzung Bourdieus mit dem Blick des Dr. Pannwitz. Die Analyse nämlich der allgegenwärtigen Blicke zwischen Menschen, sowohl von oben nach unten als auch untereinander. Wie das ist, wenn die Menschen ganz automatisch so schauen wie dieser jener Pannwitz. Täglich, davon handle besagtes Bourdieu-Werk, meinte Schwendter, tun die das und ganz selbstverständlich, z. B. der jeweiligen Rentabilität wegen. Als Kind hat er oft von Flugzeugangriffen geträumt aus dem Nebel heraus auf Brücken in der Nacht im Krieg. Das Lesen hat er sich mit drei, vier Jahren selber beigebracht, indem er Litfaßsäulen entzifferte. Seine Eltern waren sehr einfache, zerbrechliche Leute. 1968 wäre er fast zugrunde gegangen. Es war eines der anstrengendsten und bedrohlichsten Jahre seines Lebens, er hatte kein Geld, keine Unterkunft, nichts zu essen, keinerlei Schutz oder Sicherheit, war schwer abhängig und sich gewiss, verloren zu sein. Aber dann hat er, auf Anregung Rudi Dutschkes hin, die Gegengesellschaften erforscht, die Gegenmilieus, sozusagen die Gegenökonomien, die Gegenuniversitäten, die Gegenkulturen, die Gegeneliten, die Gegenöffentlichkeit und ihre Gegenmedien. Hat immer alles gesammelt, was es gab und sich tat. Die Subkulturen und ihre Hoffnungen. Zeit seines Lebens ist Schwendter stets schutzlos im Regen gegangen, als junger Mensch stundenlang darin gelegen. Z. B. dafür ist er bekannt gewesen, für sein Gehen im Regen. Schutzlos und stoisch zugleich. Stoisch schutzlos. Übrigens kommen die Begriffe Vernetzen, Netzwerke im Deutschen von Rolf Schwendter her und der Dichter Erich Fried, der Gewaltforscher Galtung, der Zukunftsforscher Robert Jungk, der Sexualforscher Borneman waren wirkliche Freunde von Schwendter, Joseph Beuys und Schwendter waren auch wirklich befreundet. Auch war just der seltsame Schwendter oft Vertrauens- und Verbindungsmann in und zwischen Gruppen. Die Sozialbewegungen würden sich alle viel leichter tun und viel mehr zustande bringen, würden die Leute darin einander mehr mögen, pflegte er unter die jeweiligen Leute zu bringen. Das wäre die Lösung. Das Konkurrenzprinzip müsse wo nur irgend möglich außer Kraft gesetzt werden. Wenn sich jemand über diese Ansicht lustig machte, nämlich wie das gehen solle, sagte Schwendter: Jeder sollte sich 15 Minuten lang alleine überlegen, wen er warum nicht mag, und dann soll offen und gemeinsam darüber geredet werden. Immer gemeinsam darüber reden jeweils sei das Wichtigste. Dass Pierre Bourdieu das Konkurrenzprinzip wie und wo nur möglich außer Kraft zu setzen riet und sich mühte, genauso wie eben auch Schwendter das sagte, gefiel Letzterem außerordentlich. Theatermensch, Dichter und Sänger war er bekanntermaßen auch. Seine Kindertrommel freilich nur konnte er spielen. Die reichte aber bekanntlich vollauf. Als Anfang 2000 Bourdieu für Wien angesagt war, nicht kam, in Abwesenheit die Halle dennoch füllte und damals in einer berühmt gewordenen kurzen Rede Österreich per Video zum Vorreiter im europa- und weltweiten Kampf gegen den Neofaschismus und den Neoliberalismus erklärte, war Schwendter einer der vortragenden Redner auf der österreichischen Seite. Übrigens: Wie wichtig für Bourdieus Ökonomie- und Ethnologieverständnis der – jüngst hier in Wien in der AK wiederentdeckte – österreichische Ökonom Karl Polanyi von Anfang an und immer war, hat Rolf Schwendter damals, anno 2000, sei es gewusst, sei es trefflich erraten. Gestimmt hat es jedenfalls. Und später dann einmal überlegte er sich, was Bourdieu mit Galtung, mit Gramsci, Ivan Illich, Erich Fromm und Adorno zu tun haben könnte, mit Paul Feyerabend, mit Bloch, mit Paulo Freire, mit Foucault sowieso, mit Frantz Fanon, mit Rosa Luxemburg und so weiter und so fort. Schwendter arbeitete im Geiste erklärtermaßen an einer Art einfachem Alternativlehrbuch voll der Alternativdenker und Alternativdenkerinnen. Denn die werden ja in den Mittelschulen allesamt nicht unterrichtet, in keinem Fach stehen die auf dem Lehrplan, an den Unis ja auch nicht wirklich. Und die Alternativdenker und Alternativdenkerinnen des 20. Jahrhunderts irgendwie verbinden auch mit Bourdieu wollte er. Die Alternativdenkerinnen und die Alternativdenker verbinden mit Ideen und Praxeologien von Bourdieu. Und die mit dem Alternativnobelpreis Ausgezeichneten auch. So etwas also hatte er vor, der Rolf Schwendter. Ein einfaches AlternativdenkerInnenlehrbuch für Schulen aller Art und zwar just gegen das, was Bourdieu Klassenrassismus und Rassismus der Intelligenz genannt hat, hatte Schwendter da vor. Koch war er bekanntlich auch, ein sehr guter, denn er mischte und verband gerne Überreste und Übrigbleibsel aller Art, nach armer Leute Art tat er das: Alles ist nutzbar. Aus allem, was da ist, was machen. Ja nichts wegwerfen! Niemanden wegwerfen! Keinen Menschen. Alles hat Wert, jeder.

Beispiel 2: Von Befreiungstheologen – die gibt’s wirklich noch und wieder und die werden auch, sagt man, zusehends mehr an Zahl und Rang – ist Pierre Bourdieu soeben jüngst auch entdeckt und in Verwendung genommen worden. Und zwar um eine Befreiungstheologie für Europa aufzubauen. Eine europäische Befreiungstheologie! Ein, vor Jahrzehnten zuerst und zuvorderst von Arbeiter- und Armenpriestern ausgesprochenes, Grundprinzip jeglicher Befreiungstheologie lautet ja bekanntlich: Sehen, Urteilen, Handeln! Dieses Sehen, Urteilen, Handeln!, in gewissem Sinne das Gewissen, wird nun jetzt von den Befreiungstheologen mit Bourdieus Elend der Welt und mit den Feinen Unterschieden in Kombination gebracht, insbesondere mit dem Habitusbegriff. Denn der Habitus – das sind ja eben die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, also just Sehen, Urteilen und Handeln (und zugleich aber deren Beschränktheit, Unfreiheit; das Eingesperrtsein im Körper, im Gehirn, in der Lebenswelt). Ein Grundwerk der Befreiungstheologie in der Dritten Welt stammt bekanntlich von einem Österreicher. Von Adolf Holl. Jesus in schlechter Gesellschaft. Ein anderes Werk Holls, Die linke Hand Gottes. Biographie des Heiligen Geistes, gehört, habe ich mir sagen lassen, zu den Lieblingsbüchern des österreichischen Jungbischofs Glettler. Bruno Kreiskys Lieblingsbuch, nebstbei bemerkt, soll Holls Kinder- und Jugendbuch Wo Gott wohnt gewesen sein. Wie auch immer, der seiner sakralen Befugnisse enthobene Priester Holl hat vor 20 Jahren eine Mischung aus Burleske, Krimi, Liebes- und Religionsgeschichte verfasst, die sogar im Vatikan Freunde gefunden haben soll, nämlich Falls ich Papst werden sollte. Als der neue Papst Franziskus eingesetzt wurde, ging sogar das Gerücht, Hollywood wolle auf der Stelle Holls Papstbuch verfilmen. In besagtem amüsanten kleinen, kompakten Werk jedenfalls nimmt sich Papst Holl Pierre Bourdieu zum Berater. Der Feinen Unterschiede wegen. Sozusagen weil Religion Geschmackssache ist. Und auch, weil für Bourdieu Gott irgendwie die Gesellschaft ist.

Beispiel 3: Elisabeth List, die Energische, stets Streitbare, die Grazer feministische Philosophin, im ersten erlernten Beruf Volksschullehrerin, seit langem nun mit schwerer Krankheit zu kämpfen habend und den Rollstuhl oft als Freiheit erlebend, als Befreiung vom Krankenlager nämlich, betrachtete Anfang dieses unseres 3. Jahrtausends da hier Bourdieus Einmischungsbuch in die Feminismen dieser Welt -– Die männliche Herrschaft – mit beträchtlicher Mentalreservation. Das sei so alles nichts Neues unter der Sonne. Und stimmen tue es so auch nicht wirklich. Das gelte sowohl für Bourdieus Verständnisse von Liebe als auch für seine Resümees der Frauenbewegung. Alles nichts Neues von Bourdieu. Und auch nicht wirklich hilfreich. Die Frauenleben in Bourdieus Elend der Welt freilich interessierten List sehr wohl und weit mehr, also die junge Polizistin dort zum Beispiel oder die kleine Geschäftsfrau im rabiaten Problemviertel oder die entlassene Sekretärin oder die müde Postangestellte oder die pensionierte Sozialarbeiterin im Altersheim, verzweifelte, oder die Psychologievokabeln studierende, sich davon endlich Hilfe erhoffende Schullehrerin oder die junge Migrantin und ihre Mutter oder die abservierte Frauenhausleiterin oder die Putzfrau mit Schulden und schwer krankem Mann – und so weiter und so fort. Die Lebenskonstellationen, Bewältigungsversuche dieser Frauen solle man doch aus Bourdieus Elend der Welt gleichsam herauslösen und mithineinpublizieren in Bourdieus Die männliche Herrschaft, meinte List dazumal. Letztgenannte Schrift gewänne dadurch beträchtlich an Nutzen und Verständlichkeit. Wäre nicht mehr so umständlich. Und wäre auch realpolitisch weit relevanter. Und einmal dazumal meinte List, dass man vielleicht wirklich, um die Gegenwart und das, was bevorstehe, zu verstehen, Bourdieus Herrschaftsanalysen insgesamt gedanklich flugs den Masken der Niedertracht assoziieren sollte, also dem weltweiten Bestund inzwischen Longseller der französischen Viktimologin Hirigoyen. Diese vertritt ja die Überzeugung, dass gegenwärtig die Politik, die Unternehmen, die Betriebe, die Familien, die Mafia und unsere Gesellschaft als ganze zunehmend ident funktionieren. Nämlich derart, dass sie Menschen in ihrem Alltag dazu bringen, zu belügen, zu quälen, zu demütigen. Die narzisstisch Perversen, die malignen Narzisse, die im jeweiligen großen oder kleinen System Machthabenden eben, lösen eine Katastrophe aus, die sie dann, sich selber als Retter aufspielend, den erschöpften Opfern anlasten. Und während eben die Peiniger sich selber als Retter aus der Not geltend machen, müssen die Opfer den Peinigern allein schon dafür dankbar sein, dass diese die Tortur endlich beenden. Oder wenigstens zwischendurch unterbrechen. Die Widerstandsfähigkeit eines Menschen ist nun einmal nicht unbegrenzt, sondern erschöpft sich. Und der maligne Narziss andererseits, der perverse Aggressor, der jeweilige große und kleine Machthaber, gibt seinen permanenten Kampf nur dann auf, wenn das Opfer ihm zeigt, dass es sich von nun an nichts mehr gefallen lassen wird. Das sei das Einzige, was hilft – öffentlich und wahrheitsgemäß und so schnell wie möglich zu sagen, was gerade geschieht; was angetan wird. Den Blick, die Gesten und die Wörter des Peinigers, die das Opfer verinnerlicht hat, muss das Opfer so schnell wie möglich wieder losbekommen. Das sei die erste und wichtigste aller Revolten. – Bei Bourdieu nun findet sich tatsächlich genau dasselbe als Grundwahrheit festgeschrieben, nämlich dass man sich selber ja nie mit den Augen der Herrschenden sehen dürfe. Ja nicht sich selber mit den Augen der Herrschenden sehen! Und ja nicht über dasselbe reden wie die Herrschenden und ja nicht auf dieselbe Weise reden wie diese! Sondern immer gerade das reden, worüber nicht geredet wird; das sagen, was gerade nicht gesagt wird.

Was List bei ihren für sie existenziellen Arbeiten über das Selbstverständliche und über das Lebendige immer interessiert hat, in Besonderheit an Bourdieu, ist der Habitus-Begriff. Dass Habitus so viel bedeutet wie die Hirngrenzen eines jeweiligen Menschen, aus denen er nicht herauskann; seine Denk-, Wahrnehmungs-, Empfindungs-, Gefühls-, Werte- und Handlungsschemata, in denen er eingesperrt ist. Worden ist. Was List einmal, im Jahr 2000 war das, zirka halb spaßig, halb ernstlich gleichsam in Auftrag gegeben hat, ist eine Art handliches kleines Habitus-Wörterbuch à la Fremdsprachen-Langenscheidt; eine jederzeit greifbare verlässliche Übersetzungshilfe, ein Bestimmungsbuch, Menschenbestimmungsbuch. In dieser Handreichung, Verständigungshilfe von Mensch zu Mensch, von Menschengruppe zu Menschengruppe solle gleichsam drinnen stehen, was ein Mensch denkt, empfindet und so weiter und aber eben auch das, was er nun einmal nicht kann, und aber eben auch das, was er sich wünschen würde. Das einem Menschen Zumutbare also und das ihn Überfordernde sollen drinnen stehen. Mit diesem Menschenbestimmungsbuch könnte man ansonsten Schicksalhaftes wirkungslos und unschädlich machen. Die sozialen Bestimmungen eben mit all den Folgen, Situationen, Abläufen, Zwängen, Gewalttätigkeiten, erlernter Hilflosigkeit. Besagtes Habituswörterbuch solle aber ja elementar und klein gearbeitet sein, sozusagen für kleine Leute, und z. B. sowohl für Zugewanderte als auch Hiergeborene. Und eben ja ganz konkret gegen die konkreten Missverständnisse, Probleme und Konflikte zwischen den verschiedenen Schichten, Milieus, Klassen gut soll es sein, das Wörterbuch. Interkulturell wie gesagt sowieso. Aber eben innerhalb der eigenen Kultur solle es auch interkulturell sein, weil ja z. B. jede Schicht, jedes Milieu eine eigene Kultur hat und ist. Die feinen Unterschiede und Das Elend der Welt hat List somit in eine Art kleine Fibel für den Elementarunterricht und als Art österreichisches Wörterbuch, Schulwörterbuch, für den alltäglichen zwischenmenschlichen Gebrauch gezielt umzubauen vorgeschlagen. Anfang unseres Jahrtausends wie gesagt hatte sie das im Sinn. Als Handreichung eben gegen zwischenmenschlichen Schmerz und Stress. Ein Wörterbuch der gegenseitigen Hirngrenzen wie gesagt. Was List da an Bourdieu dazumal wirklich interessierte, an den Feinen Unterschieden genauso wie am Elend der Welt, ist eben das Selbstverständliche, Lebendige, Existenzielle, Lebensweltliche, Übersetzbare. Die Grundforderung des Norbert Elias ist das bekanntlich, nämlich: Wir haben nur eine Aufgabe: Mit Menschen freundlich zu leben. Das Wichtigste, meinte List, sei jetzt eben die Psychologie, Sozialpsychologie, die Psychologie der Solidarität. Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen, jede nach ihren Fähigkeiten, jeder nach ihren Bedürfnissen. Jede Sozialbewegung, die das nicht vermag, gehe und sei verloren. So einfach sei das: Entweder gemeinsam oder kaputt. Unter Garantie habe Bourdieu das auch so gesehen, sonst wäre er ja blöd gewesen.

Das von List in Auftrag gegebene österreichische Hirngrenzenwörterbuch für den Schul- und Alltagsgebrauch ist meines Wahrnehmens bislang nicht realisiert worden, ebenso wenig Schwendters AlternativdenkerInnenlehrbuch für jedweden österreichischen Schultyp. Auch nicht Zilians Studie über den kaputten österreichischen Fußball. Einzig das österreichische Sozialstaatsvolksbegehren wurde realisiert. Jedoch ignorierten die schwarzblaue Regierung und de facto auch die rote Parlamentsopposition repräsentativdemokratisch die mehr als 717.000 Unterschriften aus dem Jahr 2002. Seither hat zuvorderst Werner Vogt, eine Zeitlang auch Wiener Pflegeombudsmann, erster überhaupt in Österreich, sich beharrlich bemüht, dass das Sozialstaatsvolksbegehren schnellstens wiederholt wird. Stephan Schulmeister hat es genauso versucht, gar europaweit, insbesondere unmittelbar in der Weltwirtschaftskrise. Doch wollen, scheint’s, z. B. die Gewerkschaften gar nicht, dass der Sozialstaat in die Verfassung kommt. Weder in die österreichische noch in die europäische. Als ob die Roten allerorten andere Sorgen hätten als den Sozialstaat. Die Grünen und die APO detto. Wie auch immer, das kommunikationsfreudige Sozialstaatsvolksbegehren da hier war jedenfalls seit inzwischen groteskerweise fast Jahrzehnten stets auch als rechtzeitiger, gemeinsamer, präventiver Lern- und Sammelprozess gedacht. Gerade auch, damit die Wahlkämpfe endlich anders geführt werden. Nämlich endlich aufs wirklich Lebenswichtige sich zentrierend. Des Juristen Oliver Scheiber jüngster Letzter Aufruf an die Sozialdemokratie hat offensichtlich sehr Ähnliches bis dasselbe im Sinne – und erging daher nicht alleine nur an die SPÖ und Wien. Aus Vogts Berufsbericht, Arztroman, der zugleich eine Sozial-, APO- und Elitengeschichte der Zweiten Republik ist und eine Historiographie des Sozialstaates da hier, könnte hier und jetzt jedenfalls gelernt werden, was alles hier und jetzt trotz der allgegenwärtigen Ohnmachtsgefühle sehr wohl real möglich ist, nämlich reales Unglück in reales Glück zu drehen. Ins Leben eben, wie bei einer Geburt, wenn die Lage zuerst falsch ist.

Mit den meisten, sehr verehrte Damen und Herren, der in meinem Referat bislang Genannten habe ich einmal in irgendeiner Form zusammengearbeitet oder Gespräche geführt, welche bereits publiziert sind oder es noch werden. Auswege lautet der Reihetitel. Mein Teil bei diesen vertratschten, aber sehr wohl existenziellen Gesprächen war in heuristischer Absicht bisweilen gleichsam die eines Agent provocateur, nämlich, soweit meiner Wenigkeit möglich, Bourdieusches samt Raisons d’agir bald en passant, bald konfrontativ, immer jedoch in Sympathie miteinzubringen. Die findigen Reaktionen darauf seitens der von mir Genannten habe ich in meinem Referat heute hier bislang wiedergegeben. Fritz Orter z. B. fehlt freilich noch, Kriegsberichterstatter in 14 Kriegen. In diesen hat er die Mörder, Schänder und Quäler immer und immer wieder dasselbe sagen hören, in etwa nämlich: Wer zu uns gehört, braucht keine Angst zu haben! Den bringen wir nicht um. Wir bringen nur die um, die uns umbringen. Wir machen mit ihnen nur, was sie mit uns machen. Denen ist egal, wenn wir verrecken, deswegen ist es uns egal, dass die verrecken. Mit Verlaub, wenn das nicht der Zweckmechanismus der Distinktion ist, den Bourdieu sozioanalytisch immer beschrieben hat, nämlich der Entscheidungskampf letztlich auf Leben und Tod, die möglichst endgültige Unterwerfung, Vernichtung, Auslöschung des Feindes, was dann ist Distinktion? Was denn dann, sehr verehrte Damen und Herren, mit Verlaub als das? Bourdieu hat bekanntlich mit großer Wucht eine andere Art von politischem Fernsehjournalismus gefordert, der so beschaffen ist, dass er die Fernsehzuschauer nicht apathisch macht, sondern empathisch und handlungsfähig. Fritz Orter hätte tatsächlich just solche Journalistinnen, Journalisten im Sinne, nämlich die rechtzeitig und konsequent recherchieren und berichten, was getan werden kann. Und ein fixes Friedensformat im ORF, ein Friedensprogramm. Und in der Schule da hier ein Fach, das Helfen heißt. Für all das also könnte Bourdieu in Österreich gut sein: Vom Sozialstaat endlich in der Verfassung bis zu den Erfreulichkeiten des Fußballs; vom Helfen als Unterrichtsfach und von endlich einmal wirklich alternativen Schulbüchern bis zum öffentlich rechtlichen Friedensfernsehen; von Christen fernab von Lug und Gewalt bis zur Sozialdemokratie als Sozialstaatspartei, die endlich einen Sozialstaatswahlkampf führt. Ich habe Ihnen, sehr verehrte Damen und Herren, von all dem erzählt, damit weder Sie noch ich eine Ausrede haben. (Ah ja: Sowie Hitler Kanzler war, wurde er von einem hellwachen französischen Journalisten zu Mein Kampf befragt, zu den darin angekündigten Kriegen. Hitler antwortete: Ich habe mich geändert. Er habe das alles in Verzweiflung und Wut von sich gegeben, mitten in den furchtbaren Folgen des schrecklichen Weltkrieges. Jetzt aber eben sei vieles anders und er eben auch. Krieg sei sowieso nie eine Lösung, sondern alle Probleme würden nur noch entsetzlicher. Ich habe mich geändert, hat man bekanntlich aus österreichischem FPÖler-Mund in den letzten Jahren oft gehört da hier. Geglaubt auch sichtlich zunehmend, bis Ibiza und weiter. Bourdieus Elend der Welt, in dem steht, ein quälendes Grundgefühl der Menschen sei die Austauschbarkeit, wird seit bald 30 Jahren beständig als Gegenmittel gegen die Neue Rechte allerorten in Verwendung genommen. Z. B. wegen des berühmten Bourdieu-Grundsatzes Nicht bemitleiden, nicht auslachen, nicht verabscheuen, sondern verstehen! Worauf man aber hier bei uns da bei all dem Reden seit jeher davon, dass man endlich miteinander reden müsse, um all die realen Probleme all der rechtswählenden Menschen zu verstehen, oft vergisst, ist, 1. dass z. B. der junge Rechtsextreme im Elend der Welt jemand ist, dem man nicht wirklich glauben kann, was er redet; das steht dort so über ihn; 2. hat der Sozialpsychologe Klaus Ottomeyer das FPÖ-Seelenleben vor fast Jahrzehnten bereits, damals angesichts Haiders samt Buberlpartie, gewiss treffender kenntlich gemacht als wahrscheinlich je irgendwer sonst öffentlich in Europa. So weit wie beispielsweise Ottomeyer ist Bourdieu niemals gekommen in Österreich. Doch! Doch! Ist er! Nämlich durch eine von Flecker & Kirschenhofer bewerkstelligte, sehr wohl bahnbrechende Arbeitsweltstudie, Rechtswählerstudie vor über 10 Jahren. Flugschriftartig ergangen ans politische Establishment. Selbstverständlich war die vergeblich. Aber jetzt gibt es ja zum Glück beispielsweise Sie, sehr verehrte Damen und Herren! Danke!)

Bourdieu für ÖsterreicherInnen und den Rest der Welt, Tagung: Klasse, Milieu, Soziale Reproduktion: Was bleibt von Pierre Bourdieu?, AK Wien

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