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Intervention 4. April 2013

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So Sie, sehr geehrte Damen und Herren, gestatten, möchte ich Ihnen in der verbleibenden Zeit Ihres heutigen langen Arbeitstages kurz und bündig die Welt erklären, nebstbei die österreichische, die steirische sowieso. Also den Globus mittels Graz. – Wenn man den Österreichern den Sozialstaat [weg]nimmt, dann müsste jeder [zum Ersatz] das Vierfache von dem verdienen, was er jetzt verdient. Diese Schätzung stammt erstens nicht von mir und zweitens aus dem Jahr 2002; Sie können also davon ausgehen, dass Sie hier und jetzt anno 2013 inmitten der Weltwirtschaftskrise mit einem vierfachen Verdienst längst nicht mehr das Auslangen finden würden, lebten Sie nicht in einem Sozialstaat. Die eben genannte Schätzung ist nicht auf der Nudelsuppe dahergeschwommen, sondern hat ihre Urheber unter anderem in Stephan Schulmeister, seines Zeichens WIFO-Wirtschaftsforscher, und in Werner Vogt.

Pierre Bourdieu hat, wie Sie wissen, in den letzten Jahren seines Lebens vehement und konsequent daran gearbeitet, dass es EU-weit, in den einzelnen Staaten und insgesamt, mit Hilfe der Sozialbewegungen möglichst bald zu so etwas Ähnlichem wie zu einem Volksbegehren oder einer Volksabstimmung für respektive über ein soziales, also sozialstaatliches Europa kommt.

Was Bourdieu da im Sinne hatte, hat der Arzt Werner Vogt zeitgleich und völlig unabhängig von Bourdieu für Österreich zu realisieren versucht. Und zwar von 1996 an. Bis es im Frühjahr 2002 – Bourdieu war gerade gestorben – vor allem auf Initiative von Werner Vogt wirklich zum Volksbegehren Sozialstaat Österreich kommen konnte, vergingen nicht weniger als 5½ Jahre vorbereitende Überzeugungsarbeit an Rot, Grün und Gewerkschaftern. Der Caritas war es damals, wenn ich mich richtig erinnere, politisch nicht möglich, als kirchliche Organisation das Volksbegehren offiziell zu unterstützen. Das Ziel des Volksbegehrens war jedenfalls, wie Sie wissen, dass der Sozialstaat Verfassungsrang erhält, also die sogenannte Staatszweckdefinition, und daraus resultierend verbindliche, automatische Sozialverträglichkeitsprüfungen aller künftigen Gesetze. Das Volksbegehren 2002 erhielt immerhin 717.000 Unterschriften. Jedoch konnte es unter anderem deshalb keine Wirkung entfalten, weil sich Jörg Haiders wegen das Parlament zum Zwecke von Neuwahlen auflöste.

Sie fragen sich vielleicht, wozu ich Ihnen all das und noch einiges mehr zeitraubend erzähle. Nun: Als vor einigen Monaten der Österreicher, sportliche Steirer Baumgartner heldenhaft und übermenschlich aus dem Himmel auf die Erde sprang, 39 km lang, war ein paar Tage zuvor ein renommierter, vielfach ausgezeichneter österreichischer Werbefachmann gefragt worden, ob der waghalsige Sprung auf die Erde denn nicht auch für den Sponsor Red Bull (verleiht Flügel) gefährlich werden und gar zum finanziellen Fiasko, ja Ruin führen könnte, falls Baumgartner zu Schaden oder zu Tode käme. Der Werbefachmann verneinte entschieden, denn sollte Baumgartner zu Tode kommen, werde das von der Öffentlichkeit binnen einer Woche vergessen werden. – Bourdieu, gestorben wie gesagt 2002, redete davon, dass in Staat und Gesellschaft infolge der Medien und des Neoliberalismus gegenwärtig der Gedächtnisverlust, der Gedächtnisschwund grassiere, strukturelle Amnesie. Des Weiteren warnte Bourdieu davor, sich von Jörg Haider täuschen zu lassen. All das nicht endende Faschistoide lenke nämlich ab. Worum es der österreichischen Regierung samt Haider hingegen zuvorderst gehe, sei, die neoliberale Wirtschaftspolitik mit Zuckerbrot und Peitsche durchzusetzen. Dass Bourdieu im Jahr 2000 mit seiner Sicht Österreichs keineswegs unrecht hatte, zeigen m. E. unter anderem folgende Begebenheiten: ÖVP-Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel hat zwar gegen Ende seiner Regierungszeit behauptet, niemand in seiner Partei halte den Neoliberalismus hoch, doch hat sein Klubchef Andreas Khol, bald dann Nationalratspräsident und heute nun oberster Pensionistenvertreter, anno 2000 am Tag nach dem Bekanntwerden der Aufhebung der EU-Sanktionen wortwörtlich proklamiert: Wir regieren neoliberal. Und daran fügte er freudestrahlend den Begriff neoliberale ökosoziale Marktwirtschaft. Der damalige Finanzminister und Volksliebling Karl-Heinz Grasser erklärte ebenfalls in der Woche der Aufhebung der EU-Sanktionen: Ich baue an einem Staat mit New-Economy-Strukturen. John Naisbitt, der Zukunfts- und Trendforscher schlechthin, verkündete derweilen in Graz, dass es in den kommenden Jahrzehnten zu keinen nennenswerten Klimaschäden und zu keinerlei ernstlicher Ressourcenknappheit kommen werde und dass hingegen ein künftiges soziales Europa Europa, nämlich den Unternehmen und der Wirtschaft, massiv schaden würde. Und als später dann, 2002, das Hedgefondsverbot in Deutschland aufgehoben wurde und in Österreich die Hedgefonds ab da massiv beworben wurden, konnte man unmittelbar vor den Hauptnachrichten um 19.30 Uhr zur besten Sendezeit im Reklameblock österreichische Lieblingssportler in Volksschulklassen kleinen Kindern erklären sehen, wie einfach, sicher und billig Hedgefonds seien. Überhaupt eilte in Werbespots, namentlich für die Erste Bank, die ja jetzt inzwischen ohne staatliche Hilfe bekanntlich pleitegegangen wäre, damals eine Dame mehrmals täglich von Orgasmus zu Orgasmus, wenn sie das Wort Fonds hörte. So also war das damals, als Werner Vogt, Stephan Schulmeister, Emmerich Tálos und die inzwischen verstorbene, politisch jedoch nach wie vor nicht umzubringende Frauenministerin Johanna Dohnal (und wie sie alle heißen) sich darum mühten, das Sozialstaatsvolksbegehren möglich zu machen und endlich Realität werden zu lassen. Bourdieu hat übrigens in diesem jenem anderen Österreich Europas Avantgarde, Europas Vorhut gesehen.

Ein Wort noch zum allgemeinen Gedächtnisschwund: Ein österreichisch-amerikanischer Philosoph, Paul Feyerabend, hat – zwar in einem etwas anderen Zusammenhang, dennoch grundsätzlich – konstatiert, dass fast niemand mehr wisse, was alles möglich gewesen und daher wieder oder noch immer möglich sei. Es sei gerade wie in einer verbauten, zerstörten Landschaft; nach kurzer Zeit wisse niemand mehr, wie es hier bis vor kurzem ausgesehen habe und wie schön es war und was alles möglich. Im Schlechten wie im Guten.

Den Sozialstaatsschuber habe ich geschrieben aus Furcht, dass alles wieder so wird, wie es gewesen ist und ich es erlebt habe und wie ich es nicht haben will: Dass der sogenannte Staat und die sogenannte Gesellschaft, die Menschen sohin, plötzlich zum Beispiel wieder so sind, wie als ich aufgewachsen bin. Und dass Hilfseinrichtungen, deren jeder Mensch im Laufe seines Lebens bedarf, wenn nicht er selber, dann jemand ihm Nahestehendes, wieder so sind, wie ich weiß, dass sie für Menschen gewesen sind und ihnen nicht gutgetan haben.

Der 1. Teil des Schubers heißt Lebend kriegt Ihr mich nie, ich habe ihn nach Jahrzehnten in wieder entschlüsselter Form von neuem aufgeschrieben, unter anderem damit die Selbsttötungen, insbesondere die von Kindern und Jugendlichen, wahrheitsnäher wahrgenommen werden. Und die gegenwärtigen Familientragödien. Und die gegenwärtig unterlassene Hilfeleistung. Und die gegenwärtigen Formen der Misshandlung. Die gegenwärtigen Deprivationen. Und die gegenwärtigen Sabotagen, insbesondere diejenigen an der Jugendarbeit, diejenigen an der Familienarbeit und diejenigen an der Suizidprävention. Die Unterversorgung inmitten des Überflusses. Der 1. Teil des Sozialstaatsromans handelt jedenfalls von dem, was man den Morbus Austriacus genannt hat, die österreichische Krankheit.

Der 2. Teil heißt Furchtlose Inventur. Das ist eine Vorgehensweise, eine unaufdringliche Fehler- und Unfallkultur der Anonymen Alkoholiker, da schauen sie, was sie selber falsch gemacht und wem sie Schaden zugefügt haben und wie sie das wieder in Ordnung bringen können. Dieser 2. Teil handelt wie gesagt von den Hilfseinrichtungen, die jeder Mensch im Laufe seines Lebens braucht, wenn nicht er selber, dann jemand, den er liebt.

Der 3. Teil, die Tagebücher 2004–2011 erzählen von den Alternativbewegungen und deren NGOs und so weiter und so fort und warum sie immer wieder scheitern und wie das anders auch ginge.

Alle Triptychonteile des Sozialstaatsromans handeln von Menschen wie Du und ich, die aber von Institutionen oder Hilfseinrichtungen oder ihren Mitmenschen wie Du und ich in schwieriger Situation aufgegeben, im Stich gelassen, verloren worden sind und die jedoch wider Erwarten nicht zugrunde gegangen sind. Und davon, wie sie das gemacht haben, besser gesagt: warum sie Glück hatten.

Der sogenannte Held des Sozialstaatsromans jedenfalls, der hilfsbereite, hilfsbedürftige, m. E. lebensfrohe Uwe, Uwe wie Auweh, erlebt am laufenden Band Pataphysisches, Anomien, Ausgeliefertsein, Ausweglosigkeiten, groteske Katastrophen, organisierte Verantwortungslosigkeiten, ein Milgram- und ein Dörnerexperiment nach dem anderen.

Held heißt übrigens von der Etymologie her freier Mensch, mehr nicht. Der freie Mensch des Romans wird (ich erzähle Ihnen jetzt bloß von ein paar losen Steinen), als Kleinkind, Säugling – und vorher natürlich auch schon – fast umgebracht, besser gesagt: zufällig doch nicht umgebracht, versucht sich ab seinem 11. Lebensjahr selber umzubringen, weil er endlich leben will, nicht gequält werden will, nicht gedemütigt werden will, völlig erschöpft ist, so erschöpft, dass es endlos weh tut, und weil das da eben kein Leben ist. Er wächst von klein auf unter Gewerkschaftern, Beamten und Militärs auf, wird der Freund eines verzweifelten Schulkollegen aus gutem, katholischem, sozialdemokratischem Haus, der im Begriffe ist, zugrunde zu gehen, und dessen Vater in Auschwitz Wärter gewesen war, SSler. Einmal steht Uwe plötzlich vor-unter einem Erhängten; dessen Freundin aus bestem Haus erzählt ihm, wie alles war und warum ihr Freund und sie keine Chance hatten. Uwe jedenfalls ist immer froh, dass er lebt, will immer nur leben und Menschen lieb haben können und dass die Menschen ein Leben haben, und er muss aber zugleich mit dem fertigwerden, was er erlebt hat, es gelingt ihm, als er die Frau seines Lebens kennen lernt.

Sie haben beide gute Aussichten im schönen Leben. Aber die beiden erleben plötzlich in einem fort und ohne Ende unnötige Not und Pein von Menschen mit, und er will dann einmal sein Eigentum einer hochanständigen Hilfseinrichtung zur Verfügung stellen und wird anständig betrogen; und einmal wird ihnen über einen anderen Menschen gesagt, er werde nicht überleben und wenn doch, dann ohne jede höhere geistige Fähigkeit, und dann, dass dieser Mensch einfach nicht therapierbar, nicht rehabilitierbar sei. Aber es ist dann zum Glück alles nicht wahr, aber es ist ein sehr anstrengender Kampf, damit das alles nicht wahr ist. Um dieses Leben eben ein Kampf; und einmal erleben sie mit, wie ein anderer Mensch ständig falsch behandelt wird, weil dauernd falsche Diagnosen gestellt werden, es ist dann aber Krebs und zu spät. Aber zwischendurch kann ein gutes Leben sein, weil darum gekämpft wird.

Und einmal erleben sie mit, wie ein anderer Mensch in ein berüchtigtes Heim verschleppt wird, in das er nie und nimmer gehört, niemand gehört dorthin, und sie holen ihn da raus, und das riesige Heim wird später wegen der Grausamkeiten darin geschlossen. Bruchstücke habe ich Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, da bislang nur erzählt.

Der freie Mensch des Romans erzählt immer schnell das, wovon er Kenntnis erlangt, weiter, aber es ist den meisten Leuten egal oder zu viel. Und viele Leute – Leute hängt übrigens zusammen mit dem griechischen, altgriechischen Wort eleutheros, frei, hoi eleutheroi, die Freien –, viele Leute wissen nicht, was tun, oder glauben ihm einfach nicht, meinen, er übertreibe oder kenne sich nicht aus. Es müsse an ihm liegen oder an denen, von denen er erzählt, wie schlecht es ihnen ergehe. Zum Beispiel auch wissen seine Zuhörer nichts mit ihm anzufangen, als er im Jänner 2002 die Sache mit den Hedgefonds weitererzählt und dass man die Hedgefonds ja nicht zulassen dürfe oder sofort wieder verbieten müsse. Und im Herbst 2004 auch nicht, als er sagt, dass die normale Arbeitslosigkeitsrate bestenfalls 10 % betragen werde und dass es jetzt dann sowieso zum Platzen der Immobilienblase kommen werde. Er ist eben zu unwichtig. Im Frühjahr 2000 auch schon, als er den Pflegenotstand weitererzählt. Manchmal kann er aber jemandem wirklich helfen. Flüchtlingen zum Beispiel. Oder einer Hilfseinrichtung. Oder eben, wenn jemand aufgegeben worden ist. Und einmal hat er eine Zeit lang bei den Leuten sogar viel Erfolg und er wird gemocht, was ihn freut. Und die Konkurrenz fürchtet, er wolle eine konkurrierende Partei gründen, was er aber nie und nimmer will. Er versteht, da er selber nicht konkurriert, nicht einmal, dass er mitten unter Konkurrenten ist. Aber eine Bewegung gründet er mit. Und das ist auch sehr absurd. Und daran zerbricht er fast. Als Mensch, wie man so sagt.

Und einmal erzählt ihm ein Gewerkschafter, sagen wir einmal, im Frühjahr 2001, dass die Gewerkschaft gar nicht streiken könne, denn die Streikkassen seien in Wahrheit leer und die Gewerkschaft müsse, wenn sie wirklich streiken wolle, zuvor ihre Bank verkaufen. Und so weiter und so fort. Falls Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, all diese Dinge nicht nur als langweilig und ermüdend, sondern auch als an den Haaren herbeigezogen und als viel zu dick aufgetragen erscheinen, als peinlich, weil egoman und megaloman, dann muss ich Sie, sehr geehrte Damen und Herren, enttäuschen: Sie sind, wie soll ich sagen – wahr. Romanwahr.

Zurück zu Werner Vogt, Baujahr 1938, aufgewachsen im Krieg, aber daheim in Sicherheit, da, so sagt er, in einer klassenlosen Frauen- und Kindergesellschaft und behütet von einem verlässlichen Großvater. Vogt hat in seinem Leben von seinen Dienstgebern oft Rede- und Schreibverbot bekommen. Hat sich natürlich nie daran gehalten. Wollte auch, dass der Sozialstaat zentrales Wahlkampfthema werden soll; und wenn die etablierten Parteien dazu nicht imstande seien, dann müsse man eben eine Sozialstaatspartei gründen, und zwar auch, um dadurch auf die anderen Parteien einzuwirken. Die Idee des Sozialstaates sei, so Vogt anno 2002, die Idee der Menschen-Achtung, der Chancengleichheit, der staatlich garantierten Absicherung bei den großen Lebenskrisen, die Gefahrengemeinschaft. / Nicht jeder gegen jeden, sondern: Alle zahlen und wer braucht, bekommt. Der Staat müsse, so Vogt 2002, die Finanzierung des Sozialstaates sichern, indem er alle Gewinne der Finanzindustrie radikal besteuere. Eine Idee von Vogt war es auch, wenn ich richtig verstanden habe, das Gesundheitswesen und das Sozialwesen in Ausbildung und Verwaltung zusammenzulegen; es müsse jedem Helfer klar sein, dass er einen Sozialberuf erlerne, und es müsse eben eine gemeinsame erste Ausbildungszeit geben, in der ein solider Überblick über die Möglichkeiten von Institutionen gewonnen werden kann. Und die Schutzbefohlenen müssen am eigenen Leib erfahren können, wie wertvoll und gut die Arbeit ist, die für sie getan wird. Dass also Qualität möglich ist. Und dass man ein unverzichtbares Recht darauf habe. Vogt ist überzeugt, dass wirkliche Qualität in den Folgewirkungen billig ist, schlechte Hilfe hingegen Folgekosten noch und noch verursache.

Er arbeitete in der Kreiskyzeit mit an einer Aufsehen erregenden und auch verfilmten Studie über das österreichische Gesundheitsssicherungssystem; war Mitbegründer der Arbeitsgemeinschaft Kritische Medizin, kämpfte für die gefolterten und vergessenen Spiegelgrund-Kinder, für den Spiegelgrund-Erwachsenen Friedrich Zawrel und gegen den Herrn Zawrel verfolgenden hochgeehrten sozialdemokratischen Nazipsychiater, Gutachter, mörderischen Primarius Gross. Vogt war Oberarzt der AUVA, arbeitete als Unfallchirurg auch in Nicaragua und in Rumänien, war Mitglied der Fact-Finding-Missionen im Kosovo. Pflegeombudsmann der Stadt Wien war er bekanntlich auch und später dann im Sozialministerium tätig. Aus diesen beiden Funktionen wurde er entfernt. Von Sozialdemokraten. Die Begründung war meines Wahrnehmens, dass er kein Pflegewissenschaftler sei. Eine solche Begründung ist selbstverständlich absurd, denn was wäre die österreichische Pflege samt dazugehöriger Wissenschaft ohne die Verdienste Werner Vogts.

Zitate Vogt: Alles, was es »draußen« gibt, existiert auch »drinnen«. [Anstalten, Spitäler, Altersheime] sind nicht die heile Gegenwelt zur schrecklichen Außenwelt. / Die Eingesperrten betreuen die Ausgesperrten. Und der Gesetzgeber ist zugleich der Gesetzesbrecher. – Arm pflegt Arm, beide sind desintegriert, isoliert, stigmatisiert, nagen häufig – physisch wie psychisch – am Existenzminimum. Worauf Vogt immer gesetzt hat, war die Mobilisierung der Öffentlichkeit, die Mobilisierung des Rechtsstaates. / Öffnung, Herstellen von Öffentlichkeit. / Gegenöffentlichkeit. Allen erzählen, was wirklich war. / Das Schlimmste ist, dass sich alle Beteiligten an das gewöhnen, was ist. / Eines von Vogts Lebensprinzipien stammt von Elias Canetti, nämlich: Sag dich von allen los, die den Tod hinnehmen. Vogts beharrliche Gegenmaßnahme: Es gehört Normalität hergestellt. Zu diesem Zweck rief er etwas ins Leben, das er Aktion unschuldiger Blick nannte.

Dass ich Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, die Sie der Sozialarbeiterschaft oder deren Wissenschaft oder Politik angehören, einmal mehr Werner Vogt in Erinnerung rufe, hat den Grund darin, dass ich von Ihnen als Ausübende von helfenden Berufen auf diesem Kongress, bitte, erfahren möchte, ob das, was der Berufshelfer Vogt sich gemeinschaftlich ausdenkt, Ihnen wertvoll, sinnvoll, verwendbar, machbar, hilfreich erscheint. Oder eben nicht. Jedenfalls hat Bourdieus Sozioanalyse, die Menschen ja ausdrücklich ein zweites Leben ermöglichen will, mit Vogts Aktion unschuldiger Blick m. E. sehr viel gemeinsam.

Wie Ihnen vermutlich weit besser als mir bekannt ist, gibt es in Graz die beharrliche Vinzenzgemeinschaft und den unbeirrbaren Pfarrer Pucher. Was mir – Kirche hin, Kirche her – daran für Berufshelfer und Berufshelferinnen existenziell wichtig erscheint, ist, dass sich Pucher und die Vinzigemeinschaft offensichtlich durch nichts und niemanden von ihren Schutzbefohlenen trennen lassen. Ich glaube nicht, dass das alle Berufshelfer von sich sagen können. Und schon gar nicht angesichts der üblichen Arbeitsteilungen in der sogenannten arbeitsteiligen Gesellschaft. Und während manch andere Helfer ob der Grauzonen und beruflichen Abhängigkeiten in gewissem Sinne gar Angst haben, immer, wie man so sagt, mit einem Fuß im Kittchen zu stehen, kann Puchers schnelle Eingreiftruppe auf den Schutz durch die Gesetze und den Rechtsstaat vertrauen. Auch das Modell Pucher & Co hat, wie das Modell Vogt, m. E. Wesentliches mit Bourdieu gemeinsam, nämlich das Verständnis von Autonomie und Beruf.

In Graz findet sich des Weiteren seit neuestem ein vorbildliches Modell für ganz selbstverständliche Fehlerkultur. Eine deutsche Pflegewissenschaftlerin hat ein inzwischen mit einem Preis ausgezeichnetes Konzept zur Sturzvermeidung in steirischen Spitälern entwickelt. Die Stürze pflegen nämlich für die Patientenschaft folgenschwer zu sein. Alle durch das Krankenhaus und das Personal verursachten Fallen werden jetzt aber ab sofort konsequent unschädlich gemacht. Bis dato war das unverständlicherweise alles andere als selbstverständlich. Auch diese konsequente Fehlersuche und Fehlerbehebung erscheint mir mit Bourdieus Sichtweisen wesensverwandt. Ob ein solches pflegewissenschaftliches Modell der Fehlerkultur auch für die Sozialarbeit wünschenswert ist, interessiert mich von Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, im Laufe des Kongresses zu erfahren.

Bourdieu (geboren 1930, gestorben wie gesagt 2002) meinte, gegenwärtig sei eine rechte Revolution nach der anderen im Gange – eine permanente neoliberale Revolution, durch die der Staat mittels des Staates außer Kraft gesetzt werde; und die Linken und Alternativen seien aber immer 2, 3, 4 Revolutionen hintennach; können gar nicht so schnell begreifen, geschweige denn dazwischengehen, geschweige denn wirklich, rechtzeitig und gemeinsam; sie seien auch nicht in der Lage und nicht imstande, untereinander, untereinander das Konkurrenzprinzip Jeder gegen jeden und Jeder muss selber schauen, wo er bleibt wo nur irgend möglich außer Kraft zu setzen. Aber dass sie das zustande bringen werden, sozusagen die kleinen Wunder und Kostbarkeiten, darauf setzte er und arbeitete er hin. Unter anderem auf autonomie- und verantwortungsbewusste Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler, Künstlerinnen, Künstler und auf illusionslos aufbegehrende Jugendliche hoffte er, desgleichen auf Arbeitnehmer, die schon lange in den Unternehmen sind und – da altgedient – wissen, wie die Dinge laufen. Vor allem aber auch auf die Ausübenden der helfenden Berufe; und zwar auf diejenigen Berufshelferinnen und Berufshelfer, die in Ausübung ihrer Berufspflicht von Rechts wegen sich durch nichts und niemanden von ihren Schutzbefohlenen trennen lassen und in der Folge Politikern und Wirtschaftsherren rechtzeitig, wirklich und gemeinsam Paroli bieten. Statt Paroli bieten hat er Gegenfeuer gesagt. Und statt helfende Berufe in etwa die linke Hand des Staates. Und wirklich, rechtzeitig und gemeinsam waren seine Lieblingsadverbien. Statt Sozialstaat sagte er auch mitfühlender Staat.

Bourdieu war überzeugt, dass der Neoliberalismus blühende europäische Regionen und Länder in Ghettos und in Gebiete nahezu wie nach einem Krieg verwandeln werde. Zeitbombenartig. Und der vom neoliberalen Nobelpreisträger Becker stammende Begriff Humankapital war Bourdieu genauso ein Gräuel, wie ihm George Soros suspekt war, George Soros, der weltweite Wohltäter und Humanist, geniale Hedgefondsbetreiber und Demokratiebringer, der sich in der Realität stets gegen eine Finanztransaktionssteuer ausgesprochen hat und der zuvorderst jegliche kontrollierende, regulierende oder gar verbietende Maßnahme gegen Hedgefonds vehement abgelehnt und bekämpft hat.

Bourdieus Demokratiemethode, Solidaritätsmethode ist folgendermaßen beschaffen: In, besser gesagt: durch Bourdieus Elend der Welt erzählen angeblich banale alltägliche Menschen wie – Pardon – Du und ich einander ihre angeblich unwichtigen Leben, Wegwerfleben, und was sie fürchten, was sie sich wünschen, was ihnen wehe tut. Und zwar Menschen vom Bauern bis zum Untersuchungsrichter, von der Polizistin bis zur Postangestellten, vom Weinhändler bis zum jungen baldigen Neonazi, vom Migrantenbuben und dessen Hausmeister bis zur kleinen Geschäftsfrau oder bis zum Sozialarbeiter oder bis zur Lehrerin oder zum Schuldirektor oder zum Versicherungsvertreter oder zur Leiterin eines Frauenhauses; es erzählen also Menschen, die einander ansonsten unbekannt oder gleichgültig oder gar widerwärtig sind, einander ihr Leben. Indem sie einander angeblich Banales erzählen, das in Wahrheit basal, lebenswichtig ist, entmachten sie Stück für Stück die Wirtschaftsherren und politischen Machthaber, von denen sie beruflich und alltäglich in ihre jeweiligen Lebenssituationen, Konflikte und Kämpfe, ins Ohneeinander und Gegeneinander gezwungen werden. So viel zu Sinn und Zweck von Bourdieus Elend der Welt, erstveröffentlicht auf Französisch 1993, also vor 20 Jahren. Staatsbürgerinnen, Staatsbürger, Menschen eben, sollten, so war Bourdieus Vorstellung, rechtzeitig gerade über all das zu reden anfangen, worüber öffentlich ansonsten und üblicherweise nicht geredet wird. Und immer mehr, immer mehr Menschen sollten das so machen. Und immer mehr reden. Die Leute – Leute hängt wie gesagt zusammen mit dem griechischen, altgriechischen eleutheros, frei –, die Leute sollten das Recht wirklich wahrnehmen können, über ihre wirklichen Probleme zu reden, ohne dass jemand zu ihnen sagt, sie haben überhaupt keinen Grund und kein Recht herumzujammern und außerdem ändere es sowieso nichts. Dieses offene, freie, rechtzeitige Reden waren – ich wiederhole mich absichtlich – der Sinn und Zweck von Bourdieus Monumentalwerk. Er versuchte unter anderem damit, der Ausweglosigkeit akut und prophylaktisch entgegenzuarbeiten. Dem angeblich unvermeidbaren oder angeblich zumutbaren Alltags- und Arbeitsleid, den alltäglichen, selbstverständlichen Zumutungen eben, die plötzlich zu den sogenannten Einzelschicksalen und schicksalhaften Verläufen, zu den Extremsituationen und Katastrophen führen.

Vielleicht werden Sie sich besser erinnern können als ich: Kanzler Wolfgang Schüssel hat in seiner Regierungszeit volkserzieherisch sogenannte Nichtraunzerzonen propagiert und installiert. Die kamen, medial bestens beworben, gut an in der Bevölkerung. Auch bei der damaligen Opposition, will mir scheinen. Die Roten und Grünen richteten sich in ihren Wahlkämpfen danach. Die Werke aus der Bourdieuschule wie Das Elend der Welt oder Gesellschaft mit begrenzter Haftung oder Ein halbes Leben sind jedenfalls keine Zonen zum Zwecke des Goschenhaltens. Die Leute in Bourdieus Elend der Welt erzählen außerdem sehr wohl auch, was ihnen hilft und das Leben leichter macht. Was das ist und wäre. Immer geht es in Bourdieus Gesamtlebenswerk um Menschen in Zwangssituationen, unten, oben, mitten drinnen.

In Bourdieus Augen ist übrigens das Berufsgeheimnis das größte Problem. Denn dadurch ändere sich nie etwas. Für die Ausübenden der helfenden Berufe zum Beispiel. Bourdieu: Die Lähmung der Gesellschaft funktioniert über das Berufsgeheimnis. Dass man sich weder ein- noch aussperren lassen darf, sagte er auch, und dass das das Gegenteil von Mittäterschaft sei. Ein Berufshelfer meinte einmal, in Fortführung von Bourdieu, die Supervisoren supervidieren den Sozialstaat; aber durch ihre Schweigepflicht sei alles nutzlos.

Der Sozialstaatsschuber Des Menschen Herz ist, soweit es nach mir geht, ein pataphysisches Unterfangen. Manche Pataphysiker lesen bei Veranstaltungen Telefonbücher vor. Und manche Leser meines Sozialstaatsromans halten diesen, wie ich weiß, für so unliterarisch wie ein Telefonbuch. Das freut mich durchaus. Ich verstehe Pataphysik als die Lehre von den Absurditäten, Zwangslagen und Ausweglosigkeiten und davon, wie man da rauskommt. Die sogenannten Situationisten etwa der 1968er-Zeit haben versucht, auch mittels Auseinandersetzung mit den Pataphysikern, aus der systematischen Zerstörungskraft von politischen, ökonomischen, zwischenmenschlichen Maschinerien herauszufinden. Pataphysiker sollen z. B. John Cage gewesen sein oder die Marx Brothers. Und der inzwischen uralte Sponti-Spruch Unter dem Pflaster liegt der Strand kommt von den pataphysischen Situationisten von anno dazumal her.

Wie auch immer, es gab einen mit Üblichkeiten und Unheimlichkeiten befassten Gesellschaftswissenschaftswissenschaftler, der, aus kleinsten Verhältnissen stammend, eigentlich Zauberer werden und dem Entfesselungskünstler Houdini nachkommen hat wollen und sich zuerst nach dem Zauberhelden der Tafelrunde des König Artus in King Merlin umbenannte. Sein späterer Name lautet Robert King Merton. Die Welt verdankt ihm unter anderem das solide Wissen um die selbsterfüllenden Prophezeiungen, um das sogenannte Thomastheorem, das da lautet: Wird eine Situation als real definiert, so sind ihre Folgen real. Merton hat seine Theorien in der Zeit der großen Weltwirtschaftskrise zu entwickeln begonnen. Mertons bahnbrechende Arbeiten zur Anomie, also zu den großen und kleinen gesellschaftlichen Zusammenbrüchen, durch die es in einem Gemeinwesen zum ganz alltäglichen Krieg aller gegen alle und jedes gegen jeden kommt, stammen aus dem Jahr 1938. Der Anomie-begriff selber stammt bekanntlich vor allem vom Franzosen Durkheim, der vor dem 1. Weltkrieg durch seine Forschungen die Solidarität zwischen Menschen ermöglichen wollte. Und dabei auch die Selbstmorde zu erklären und die Selbstmordepidemien zu lindern versuchte.

Die anomischen Gegenwärtigkeiten, die unter anderem zum Beispiel dadurch entstehen, dass jeder Mensch, jeder Arbeitnehmer, jede Arbeitnehmerin wissen muss, dass sie, dass er nicht gebraucht wird, sondern jederzeit durch einen anderen, durch eine andere ersetzt werden kann, beschrieben, so will mir scheinen – egal nun, ob der Begriff der Anomie dabei wortwörtlich verwendet wurde oder nicht –, z. B. der sozusagen frühe Martin Seligman, also Seligman I, in Erlernte Hilflosigkeit, Pierre Bourdieu im Elend der Welt, Richard Sennett in Der flexible Mensch, Baudrillard in Die Agonie des Realen. Der viel verworfene Jean Baudrillard, vormals Übersetzer von Bert Brecht und Peter Weiss und seines Zeichens eine Art Sozialphilosoph, der sich selber den Pataphysikern zurechnete, hat ab Ende der 1970er Jahre den völligen Realitätsverlust der Gegenwartsgesellschaft, nämlich den digitalen, internetlerischen, supervirtuellen Neokapitalismus als medialen Exzess, als obszöne, jedes Geheimnis zerstörende, hyperreale, permanente Simulation analysiert. Als Betrugsvorgang in Höchstgeschwindigkeit und ohne Ende. Als Lüge, die sich wahrlügt.

Im 5. Jahrhundert vor Christus und im 1. Jahrhundert vor Christus haben Thukydides und Sallust in Athen und in Rom, also in einer Art von Demokratie und in einer Art von Republik, solche verkehrte Welten, solche anomische Zustände, in denen die Worte und Werte plötzlich ihr eigenes Gegenteil bedeuten, solche demolierende, beschädigende Vorgänge und Pervertierungen für alle Ewigkeiten festgehalten. Sozialpsychologisch. Staatstheoretisch. Anfang des 20. Jahrhunderts tat dasselbe der sprachlich am Latein des verbannten Dichters Ovid geschulte Österreicher Karl Kraus. Der von Bourdieu hochgeschätzte Karl Kraus, der immer das Gefühl gehabt haben soll, das alles schon einmal erlebt zu haben und es deshalb so schnell begreifen und benennen zu können, beschrieb wie Thukydides und Sallust Korruption, Ausgeliefertsein, Ruin, Krieg, den Krieg im Inneren wie den Krieg nach außen. Vom Kriegstheoretiker Clausewitz, gestorben 1831, stammt bekanntlich der in den Militärakademien, in der Unternehmensführung und im Marketing unsterblich gewordene Satz: Der Krieg ist ein Chamäleon. Ich persönlich meine, dass das so ist; das Problem beginnt bei der Kindesmisshandlung und endet in der Weltwirtschaftskrise. Dazwischen Hilfseinrichtungen, die nicht viel mehr sind als Lazarette. Es ist immer dasselbe. Der Krieg ist ein Chamäleon.

Der pataphysische Sozialstaatsschuber handelt wie gesagt von den Anomien, Simulationen, Exzessen, all den Milgram- und Dörnerexperimenten, von denen der freie Mensch alias Auweh Kenntnis hat, insbesondere davon, wie Hilfseinrichtungen samt Helfern zu Milgramexperimenten und zu Dörnerexperimenten werden und wie man bewerkstelligt, dass sie nicht dazu werden. Seit Jahrzehnten hat der Kognitionspsychologe und Experte im Fehlermachen Dörner Unfälle und Katastrophen simuliert, politische, technische, ökonomische, z. B. in Städten, Staaten, AKWs. Und zwar, um die Desaster zu verhindern. Er schult seine Versuchspersonen zu diesem guten Zwecke nach. Sein legendäres Erstversuchsland hieß übrigens Tanaland, man könnte heutzutage meinen, es sei Griechenland. Seine Erstversuchsstadt hieß Lohhausen, man könnte heutzutage in der Realität meinen, es seien die bankrotten Gemeinden und Regionen. Und aus Tschernobyl, das Dörner genau rekonstruiert hat, wurde in der jetzigen Realität eben Fukushima. Lassen Sie es mich ganz simpel so sagen: Immer wenn man als Helfer, Verantwortungsträger, Entscheidungen Treffender Es geht nicht anders oder Es geht nicht anders: Es ist das kleinere Übel zu jemandem sagt oder selber gesagt bekommt und es gar auch noch selber glaubt, befindet man sich wahrscheinlich gerade als Versuchsperson in einem grausigen Milgramoder Dörnerexperiment. Und zu glauben, man könne es sich für sich selber oder für die Seinen trotz allem schon irgendwie richten, gehört zum Verlauf des Experiments.

Infolge des Sozialstaatsschubers – das viele Freundliche und Ermutigende, für das ich dankbar bin, lasse ich im Moment beiseite, insbesondere die schriftlichen Rezensionen im Falter, in den Salzburger Nachrichten, in der Presse, im Wiener Literaturhaus – ist spontan in Gesprächen allerlei geargwöhnt, ja befürchtet worden. Zum Beispiel sei ich maßlos, übertreibe das Leid, wolle auf diese Weise moralisch erpressen, Privilegien lukrieren, mich gegen Kritik immunisieren. Und ich beschriebe fast nur Verhängnisse und Finsternis. Überfordere auch dadurch. Sei hermetisch. Zwischendurch unglaubwürdig. Redundant sowieso. Und was die Kindergeschichten anlange, so seien diese oft weder alters- noch kindadäquat. Kinder seien nicht so, denken nicht so. Auch das Kind nicht, von dem ich vor allem erzählte. Des Weiteren sei der Sozialstaatsschuber ein Schlüsselroman. Und Schlüsselromane seien ganz einfach keine Literatur, sondern eine Gemeinheit. Und wie ich gewisse verantwortliche Entscheidungsträger darstelle und wie bestimmte staatliche Institutionen oder gemeinnützige Hilfseinrichtungen schildere, sei ungerecht und entspreche so gewiss nicht der Realität. Ich wolle mich offensichtlich rächen. Und ich verlöre kein Wort über all den Idealismus, den Heroismus, die Bescheidenheit, die Selbstlosigkeit trotz Arbeitsleides und Geldmangels.

Sollten auch Sie, verehrte Damen und Herren, den Eindruck haben, ich sei respektlos, irren Sie sich – wie man so sagt – gewaltig. Ich habe nämlich sehr wohl Hochachtung vor den Menschen, die so, wie gerade berichtet, auf den Sozialstaatsschuber reagiert haben und in Beruf und Alltag aus allem, auch aus dem Schlimmsten, das Beste zu machen gewohnt sind und sich bemühen. Es sind Menschen oft in Zwangs-, Not- und Extremsituationen. Auch diejenigen unter ihnen, die im System sehr gut positioniert sind. Was Letztere wissen, macht ihnen, meine ich, selber Angst. Auch wenn sie öffentlich ganz anders reden. Zum Beispiel mannhaft. Oder wie große Kommunikatoren oder Organisatoren oder Macher. Das Insgesamt ist unterm Strich dennoch eine Form von Helferhilflosigkeit.

Ich habe jedenfalls kein einziges Leid erfunden. Leid und Leidende zu erfinden ist mir unmöglich. Kein einziges Leid im Sozialstaatsroman ist erfunden und kein einziger leidender Mensch. Das Leid habe ich auch nicht übertrieben. Es ist in der Realität zu viel. Das kommt daher, wenn den Hilfsbedürftigen nicht geholfen wird. Dann nimmt das Leid kein Ende, wiederholt sich dauernd. Für den Hilfsbedürftigen ist das im Gegensatz zum Leser keine langweilige Angelegenheit, sondern eine Qual. Und jede, jede Situation ist von neuem und auf andere Weise bedrohlich. Der Leser kann ein Buch weglegen, ein Hilfsbedürftiger hingegen entkommt der Realität nicht. Die Notsituation nimmt in der Realität kein Ende, solange keiner in der Realität Abhilfe schafft.

Der Sozialstaatsroman ist kein Schlüsselroman, aber wenn man sich als Mensch darin wiederfindet oder einen Menschen, den man liebt, ist der Sozialstaatsroman gelungen. Den Sozialstaatsroman als Schlüsselroman zu lesen, würde ihn nicht verständlicher machen, sondern ihn verschließen und zerstören. Denn man würde irgendwelche XYZs lautstark beschuldigen und verteufeln, anstatt die Systemfehler zu benennen und zu beheben, die potentiell jeder der heute hier Anwesenden, mit Verlaub, jeder von uns, begehen kann. Als Schlüsselroman wäre der Sozialstaatsschuber wirkungslos und bloß eine Art Ablenkungsmanöver. Was im Schuber, wenn es nach mir geht, beschrieben wird, sind vielmehr Menschen in Milgramexperimenten, sprich: in Hilfseinrichtungen. Die Experimentatoren dabei sind die Politiker und die Wirtschaftsherren. Die malträtierten Versuchspersonen sind die Ausübenden der helfenden Berufe und die Hilfesuchenden.

Ein Kulturmanager war mir übrigens einmal kurz gram, auch das eine Folge des Schubers, weil ich treuherzig gesagt hatte, das Problem sei, dass es keine Fehlerkultur gebe, und ein Ausweg wäre, wenn es endlich eine Fehlerkultur gäbe. Man nahm das als unfairen Vorwurf an den gegenwärtigen Kulturbetrieb, insbesondere gerade auch an den sich sozial engagierenden. Ich hatte das gar nicht so gemeint und war sehr erstaunt über die heftige Reaktion. Sie gab mir zu denken. Ich bleibe daher dabei: Dass eine Fehlerkultur nicht selbstverständlich ist, ist ein großer Teil des Problems.

Was die Vorhaltung anlangt, ich beschreibe nur Verhängnis – nun: Ich behaupte, Sie werden im Sozialstaatsroman auf keinen einzigen Menschen stoßen, egal, ob er Ihnen sympathisch ist oder widerwärtig, der nicht versucht, aus irgendeinem Verhängnis herauszukommen. Die meisten dieser Versuche wären m. E. tatsächliche Auswege gewesen und sie sind das m. E. immer noch. Und, mit Verlaub, es waren und sind oft einfache Auswege. Der Sozialstaatsroman will, soweit es nach mir geht, in jeder seiner Geschichten sichtbar machen, was alles im Guten ohne sonderlich großen Aufwand und ohne sonderlich große Anstrengung möglich gewesen wäre. Alle angeblichen Tragödien im Sozialstaatsschuber handeln davon, dass die Hilfe so leicht wäre und trotzdem unterbleibt. Jeder Ausweg ist, behaupte ich, im Sozialstaatsroman ablesbar; gerade in der jeweiligen scheinbaren Ausweglosigkeit. Man kann diese scheinbare Ausweglosigkeit als Leser versuchsweise von neuem durchspielen und man würde, hoffe ich, erkennen, was man alles tun hätte können, tun könnte – und wie leicht.

Apropos schwer und leicht: Von Leuten, die in den Sozialstaatsroman hineingelesen haben, wurde mir im Gespräch des Öfteren gesagt, dass es im Schuber ja doch offensichtlich um Salutogenese und Resilienz gehe. Und dass die Salutogenese und die Resilienz eben so wichtig und faszinierend seien und einem das Leben leichter und schöner machen, wurde mir gesagt. Was mir jedoch am 08/15-Alltagsgerede über die sogenannte Resilienz- und Ressourcenforschung und auch über die Positive Psychologie heutzutage gar so unheimlich ist: Man interessiert sich zwar vernünftigerweise und lebhaft dafür, wodurch Menschen überleben und sich des Lebens freuen können. Durch welche Fertigkeiten, Fähigkeiten, Werte, mitmenschlichen Konstellationen. Aber man schaut, so will mir aufgrund des 08/15-Alltagsgeredes scheinen, nicht nach, wie viele Menschen nicht überleben oder sich des Lebens nicht freuen können, weil ihr Überlebenskampf, ihre Fertigkeiten, Fähigkeiten und Werte, ihre Schönheiten und ihr Einfallsreichtum nicht wahrgehabt werden, weil also all das, was diese Menschen alles versucht haben und gekonnt haben, ignoriert oder für wertlos erachtet wurde. Gerade davon handelt der Sozialstaatsschuber. Und auch von Leuten, Funktionären, feinen Maxln, die liebend gerne von Resilienz und Ähnlichem reden, aber sich von ihren Mitarbeitern, besser gesagt Untergebenen, hinten und vorn bedienen lassen. Und dabei gar nicht auf die Idee kommen zu fragen, was ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter alles können würden oder was diese selber an Hilfe brauchen. Das übliche 08/15-Gerede von Resilienz kaschiert da nur, dass Hilfe verweigert wird und dass ein Konkurrenzkampf herrscht.

Mit dem, was ich soeben über Resilienz und Ähnliches vorgebracht habe, will ich kein Wort gegen Martin Seligmans Positive Psychologie gesagt haben, ich verstehe bloß Seligmans gute Beziehungen zur Wallstreet und zur US-Army nicht; und mit dem vielumjubelten sogenannten Flow ist das auch so eine Sache. Jörg Haider, als er rauschig in den Tod raste, war nämlich gewiss auch im Flow. Jeder Suchtkranke will dorthin. Und jede Neonazihorde, die einen Migranten hetzt, ist im Flow. Sei dem, wie es sei, selbstverständlich handelt der Sozialstaatsschuber von Resilienz, Salutogenese, Flow, Flourish, Kreativität und so weiter. Aber auf der anderen Seite genauso davon, dass z. B. der Gebrauch des Wortes Resilienz auch eine Unverschämtheit und eine Brutalität sein kann und eine sehr ungesunde Sache.

Ein Journalist sagte freundlich lächelnd zu mir, für meinen Sozialstaatsschuber brauche man einen Waffenschein. Und jemand anderer, einer, der Menschen dabei hilft, gesund zu werden und zu bleiben, scherzte neckisch, man könne durch die Lektüre meines Sozialstaatsromans krank werden. Kritisiert wurde freilich auch, ich sei zu weit oben in den Wolken; die Menschen seien nicht so, wie ich meine; ich überschätze sie. Man sei nur in beschränktem Ausmaß lernfähig. Und zu verächtlich und vorurteilsbeladen Politikern gegenüber sei ich auch. Und mein Kriegsvorwurf an die Gesellschaft, die Politik und die Wirtschaft sei unsinnig, ja hetzerisch. Auch kämen die redlichen Bemühungen der Unternehmer, der sogenannten sozialen Kapitalisten, von denen manche sogar für das bedingungslose, voraussetzungslose, allgemeine Grundeinkommen sich stark machen, im Sozialstaatsroman gar nicht vor.

Dem ist meiner Meinung nach nicht so. Denn zum Beispiel die sozialen Unternehmer Hans Pestalozzi und Daniel Goeudevert kommen im Sozialstaatsroman ausgiebig zu Wort. Die sind vor gar nicht so langer Zeit an ihrer sozialen Gesinnung fast respektive tatsächlich zugrunde gegangen. Goeudevert, jahrzehntelang Spitzenmanager und Vorstandschef verschiedener Konzerne der Autoindustrie, hat sich öffentlich Gedanken gemacht über Lebens-, Wirtschafts-, Energie- und Automobilalternativen und hat derlei Forschungen finanziell massiv gefördert. Von VW-Piëch wurde er daher ein für alle Male abserviert. Und Pestalozzi, den viele mit Jean Ziegler verglichen haben, war Spitzenmanager des Schweizer Migros-Konzerns, welcher später dann, nach Pestalozzis Hinauswurf, den pleitegegangenen roten Konsum Österreich hätte retten sollen, aber nicht wollte. Der in St. Gallen ausgebildete Wirtschaftswissenschaftler Pestalozzi war die rechte Hand seines Ziehvaters Duttweiler, dessen Genossenschaftskonzern Migros eigentlich den Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Staatssozialismus hätte gehen sollen und dies bis zum Tod Duttweilers und dem Hinauswurf Pestalozzis auch tat. Für Duttweiler war das Ziel nicht Wirtschaftswachstum gewesen, sondern die Demokratisierung der Schweizer Wirtschaft und das Lösen elementarer gesellschaftlicher Probleme, nämlich die faire Grundversorgung. Pestalozzi veranstaltete in diesem Duttweilerschen Sinne und in Analogie zum Prager Frühling einen M-Frühling. Und unterlag damit endgültig seinen konzerninternen Konkurrenten. Ein Schweizer Spitzenmanager einer Bank sagte einmal zu ihm, würde seine Bank bei ihren Geschäften ethische Verantwortung übernehmen, hätte das für die Schweiz Massenarbeitslosigkeit zur Folge. Und der in der BRD dazumal wichtigste Headhunter sagte zu Pestalozzi, damit die Wirtschaft weiterflorieren könne, brauche es endlich wieder einen Krieg. Besagter Headhunter bezeichnete sich selber als Psychotherapeuten, da ohne ihn so viele Spitzenmanager den modernen wirtschaftlichen Realitäten nie und nimmer gewachsen wären. Von Managern, die allen Ernstes und stolz sagen, ihrem Unternehmen und ihnen selber gehe es exzellent, der Beweis dafür sei, dass sie selber schon den ersten Herzinfarkt gehabt haben, erzählte Pestalozzi auch. Und von machiavellistischen Managerkursen im schönen Florenz. Tagungsthema: Wie treibe ich meinen Kontrahenten in der Firma in den Herzinfarkt. Also: Wie bringe ich ihn um? Antwort: Ein Anfang ist, dass ich in sein Privatleben eindringe und sukzessive seine Ehe und damit seine Familie kaputt mache. Von Pestalozzi und Goeudevert berichte ich Ihnen, geschätzte Damen und Herren, der schönen neuen Welt hier und jetzt wegen und zum Zwecke der Illusionslosigkeit den heutigen sozialen Kapitalisten gegenüber, die Goeudevert und Pestalozzi in der Realität, so fürchte ich, nicht das Wasser reichen können. Von Höhn hätte ich andererseits auch erzählen können. Von ihm stammt der Begriff Delegieren. Höhn hat in den Jahrzehnten seines Tätigseins an der Deutschen Akademie für Führungskräfte zwischen einer viertel und einer halben Million Manager ausgebildet. Die Arbeitgebervertreter haben ihn dafür sehr geschätzt und ihn einen Humanisten genannt. Allerdings war er SSler und Geheimdienstler gewesen, im Stabe Heydrichs. So viel davon, dass der Krieg ein Chamäleon ist.

Ein paar Worte noch, was aus den Sozialstaatsromanmenschen geworden ist, zu einigen von ihnen; und zu den Auswegen; und worum es überhaupt geht. Der persische Flüchtling ist, sagen wir einmal, vor ein paar Monaten gestorben. Ich würde den freien Menschen des Romans Uwe alias Auweh Folgendes erzählen lassen: Zu dem Tages- und Monatsdatum, als der Iraner vor 20 Jahren hierher ins Land gekommen war, ist er gestorben. Ich weiß nicht, ob von eigener oder von fremder Hand oder ob er in der letzten Zeit wirklich so schwer krank gewesen war, jedenfalls war er am Ende. Wir hatten, meine ich, alles versucht, dass er ein Leben haben kann, 20 Jahre zuvor war das gewesen und wir waren Freunde gewesen. Die Männer, die seinen Sarg trugen, beteten und ihn eingruben, erschienen mir jetzt zwischendurch, als kämpfen sie beim Begräbnis vergeblich mit aller Kraft um sein Leben. Sein ganzes Leben hier, soweit ich sein Leben kenne, erschien mir genauso anstrengend und chancenlos wie der Kampf der Männer mit dem schweren Sarg und der harten Erde. Die Gäste bekamen süße Datteln. Ich wusste nicht, was damit tun; nach ein paar Stunden spuckte ich den Kern versehentlich in einen Mistkübel an einem Straßenrand. Meine Frau wird mit ihrem Dattelkern einen Baum zu setzen versuchen. Und natürlich werden wir einmal erfahren, was wirklich geschehen ist. Die ganze schiefe Bahn. Und aus der Familie des Auschwitzwärters hat sich ein junger Mann umgebracht. Ein Enkelkind des Auschwitzwärters. Und der erfolgreiche Ermittler, der beliebte Polizist, der Sonnyboy, hat seinen Dienst quittiert, nachdem bei einer Bewerbung andere ihm vorgezogen und vorgesetzt worden sind; er hat einfach seine Arbeit aufgegeben, ohne jeden Anspruch gekündigt, für seine Frau und seine Kinder ist das eine Katastrophe, für ihn selber sowieso. So also würde ich den Sozialstaatsroman weiterführen. So würde ich es meinen freien Menschen Auweh erzählen lassen. Und noch einiges dazu.

Sie fragen sich vielleicht, verehrte Damen und Herren, was das alles denn mit dem Sozialstaat zu tun haben soll und wie der Sozialstaat bei solchen einzelnen Lebensgeschichten und Lebensereignissen überhaupt zuständig sein soll, das sei doch nicht einzusehen. Mit Verlaub, wenn der iranische Flüchtling viel früher, Jahre früher, hier hätte legal arbeiten können, hätte er hier seinen Platz im Leben gefunden und sein Leben wäre völlig anders verlaufen und er wäre noch am Leben. Darauf wette ich meines. Und der Polizist stand stets unter gewaltigem Leistungsdruck und hatte niemanden außerhalb seiner Familie, an den er sich um Hilfe wenden konnte. Es gab keine Hilfseinrichtung, keinen Helfer, an den, an die er sich vertrauensvoll mit seinen Problemen, zumal als Geheimnisträger, wenden konnte. Mit Verlaub, die Polizei ist, die PolizeibeamtInnen sind Teil des Sozialstaates. Die Suizidanten sind das auch. Der erwähnte junge Mann, das Enkelkind eines Auschwitzwärters, stammte aus einer Familie, deren Mitglieder nahezu alle in helfenden Berufen arbeiten, selber auch hilfsbereit sind und zwischendurch auch sehr katholisch. Oft hatten sie das Problem, sie, die Helfer, dass sie nicht wussten, an wen sie sich um Hilfe wenden können. Sie kannten nämlich ihresgleichen. Helfer, die selber nicht wissen, was sie tun sollen. Oder Helfer, die eben keine Schwächen zeigen wollen. Oder die ihren eigenen Kindern nicht helfen können. Oder die damit aufgewachsen sind, dass jeder selber schauen muss, wo er bleibt, inmitten all der Hilflosigkeit. Und inmitten all dessen, worüber man nicht reden darf. Die Probleme von Menschen in helfenden Berufen gehören m. E. zum Sozialstaat. Auch die sogenannten privaten Probleme. Bourdieu, wie Sie wissen, riet, über all die Dinge anders zu reden. Und über andere Dinge zu reden als üblich.

Bourdieu für Österreicher / Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, SUPI-Konferenz zum Thema Social Vulnerability, FH Joanneum, Graz

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