Читать книгу Ich zähle jetzt bis drei - Egon Christian Leitner - Страница 7

Intervention 19. Juni 2020

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Tag, Monat, Jahr

Je dümmer ein Mensch ist, umso weniger bringt er. Bei uns da hier wird der wirtschaftliche Lebensertrag, Arbeitslebensertrag, eines Menschen mit einer Million Euro angesetzt von den Ökonomen. Ein IQ-Punkt weniger da hier entspricht 2 % weniger Ertrag durch diesen Menschen. 1 % von 100 ist 1, also ein IQ-Punkt eben, und 1 % von einer Million sind 10.000 €, 2 % sind 20.000. Ich kann das nicht einfach so schnell ausrechnen, wie im Gegenteil jetzt der da hier ist. Der bekommt jedenfalls für eine halbe Stunde seiner Lebenszeit jetzt da hier 30.000 Euro. Ein Seminar für Führungskräfte ist das, sowohl aus der öffentlichen Verwaltung als auch aus der Privatwirtschaft kommen die. Kann vielleicht sein, dass er heute weniger bekommt, weil eben viel mehr aus der öffentlichen Verwaltung da sind als aus der Privatwirtschaft und eben am Anfang noch ein paar interessierte kurze unwichtige nicht zahlende Personen im Publikum, die, ich eben auch, nach ein paar Minuten gleich wieder gehen müssen. Sein üblicher Tarif ist jedenfalls 60.000 die Stunde. Warum sollte der Tarif heute wirklich anders sein? Der IQ ändert sich ja nicht. Der Intelligenztest vor kurzem z. B., von dem ich Kenntnis habe: Das Kind war, kommt welchen vor, falsch kategorisiert worden. Die angebliche Behinderung, der Schwachsinn, war weiterzugeteilt und fortabnotiert worden von Behörde zu Behörde im Aktenlauf. Das Kind ist jetzt erwachsen, war aber eben, meinen jetzt eben welche, immer an den falschen Schulen. Im falschen System eben. Man testete jetzt daher von neuem seine Intelligenz, um Schadensansprüche zu prüfen. Sagte, die Intelligenz ändere sich ja nie. Wenn also der junge Mann jetzt nicht schwachsinnig sei, könne er es auch dazumal nicht gewesen sein. Dass sich die Intelligenz ändere, sei einfach wirklich ausgeschlossen. Das sei Expertenkonsens. Die das sagten, meinen es gut mit dem jungen Mann, 20 ist der, und die Testerin ist eine Frau. Die sagt, ihr Test jetzt sei garantiert fair und objektiv, um ja den sprachlich-kulturellen Handicaps und Verzerrungen entgegenzuwirken, zumal die Eltern ja von unten und draußen kamen. Der junge Mann freilich redet ja so gut und so gern und ist immer freundlich und fröhlich und hellwach. Das nützte ihm jetzt aber nichts bei dem Test. Er ist auch jetzt erwiesenermaßen dumm, schwachsinnig halt, wie dazumal eh und je. Imbezil, debil, so irgendwas dazwischen. Und dass er jetzt aber so stabil ist und sozial, spreche für das System von Schulen, Einrichtungen und Werkstätten, die er falloptimal durchwandert hat. Ihm sei offensichtlich bestmöglich geholfen worden und das Leben stehe ihm daher jetzt offen. Und der merkt das aber nicht. Er ist jetzt auch nicht mehr so ruhig und glücklich wie vor dem Test, sondern plötzlich weiß er nimmer, was aus ihm wird. So ist das jetzt und der. Arbeit sucht er halt und freundliche Menschen. Der da hier jedenfalls bekommt 30.000 für eine halbe Stunde Arbeit. Und ich kann nicht ausrechnen, wie intelligent der also sein muss. Geniere mich daher sehr. Ah ja, doch, doch, eh ganz einfach, 30.000 sind 1,5 IQ-Punkte. Der muss also einen IQ von mindestens über ein paar Millionen haben.

Tag, Monat, Jahr

Einen Jesus hat es gegeben, der war ein Bauer und ist jahrelang bei Tag und Nacht durch die Hauptstadt gelaufen und hat geschrien, dass sie augenblicklich untergehen werde. Die örtliche fromme Obrigkeit hat ihn dafür jedes Mal zusammenschlagen lassen. Am Ende dann wurde er vom Stein einer Wurfmaschine der andrängenden Besatzer erschlagen. Und einen Jesus hat es gegeben, der war der Anführer der Aufständischen am See. Dieser Jesus floh damals mit den Seinen aus der Stadt am See und der Gegend rundherum, deren Bewohner sich alle ergeben und die Aufrührer den Besatzern ausliefern wollten, auf Booten über den See, und sie wurden von den Soldaten eingeholt und entweder auf der Stelle umgebracht oder zum Kanalbau verwendet. Und einen Jesus gab es, der war Hohepriester, und noch einen Jesus gab es, der war auch Hohepriester, und die beiden waren miteinander dermaßen verfeindet, dass ihre Anhänger einander in Tötungsabsicht mit Steinen bewarfen. Als dann einmal die Revolutionäre, Rebellen den Tempel des verhassten Königs besetzten und statt des einen Hohepriesters namens Jesus den anderen Hohepriester namens Jesus tatsächlich ins höchste Amt einsetzten, kam infolge der Eskalationen einer der beiden Hohepriester namens Jesus ums Leben. Zuvor redete er von dem Berg und der Mauer herab.

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Die vergoldeten Platten in den Sonden, die seit 40 Jahren im Weltraum unterwegs sind und nach Lebewesen und Zivilisationen suchen. Auf den vergoldeten Platten befinden sich folgende Botschaften der Menschheit: das hohe F, Musik von Pygmäen, Navajo-Indianern und aus Aserbaidschan und von Bach und Louis Armstrong und die Arie der Königin der Nacht aus Mozarts Zauberflöte, Grußworte in 55 Sprachen, Herzschlaggeräusche, Stimmen von Erdbewohnern, Spatzen und Walen, Brandungsgeräusche, Presslufthammergeräusche, das Knistern von Feuer, ein Donner, ein Kuss. Zu sehen sind: eine Gebärmutter, ein Fötus, DNA, kleine und große Städte, Landschaften, Gebäude, stillende Frauen und jagende Männer und ein paar die Erdkugel betrachtende Kinder, ein nacktes Menschenpaar, die Erde im Sonnensystem und die Sonne in der Milchstraße und ein paar Telefonnummern. Kann man so sagen. Ist so. Mich bitte nicht anrufen, ich hebe nie ab bei so was.

Tag, Monat, Jahr

In der Schulung die Lacheinheiten. Das Lachen da beim Begrüßen. Und zwischendurch auch. Die sogenannte Presslufthammertechnik. Angst und bang wird’s mir, was die Leut’ alles können. Die Frau, die mir heut das Training, in dem sie für ihre Firma war, erklärt hat, findet’s zwar nicht lustig, aber es funktioniere eben so. Das hierarchische Lachen eben funktioniert von oben nach unten und die, die unten sind, dürfen aber ja nicht tief lachen, sondern mit hoher Stimme müssen die lachen. Harmlos eben wie harmlose Frauen und harmlose Kinder sein muss man da beim Lachen. Das Lachen, vor dem man keine Angst haben muss, wenn man’s hört, ist eben hoch. Hoch! Wenn man ein solches hochfrequentes zu hören bekommt, ist man dem Menschen, der so lacht, unter Garantie sympathisch. Die Weiblichkeit z. B. lacht so, wenn sie einen mag. Es gibt also ein Lachen, das andere unterwirft, und eines, mit dem man sich gut fügt und das Beste aus allem macht; ein aufbegehrendes gibt’s auch. Aber darum geht’s im Prinzip nicht, sondern immer sicherheitshalber ums Ungefährlichmachen. Egal was, egal wen. Und man soll prinzipiell beim Lachen dem anderen Menschen, egal, ob männlich oder weiblichen Geschlechts, ja nicht sofort in die Augen schauen oder gar den oder die fixieren, während man lacht, sondern erst, wenn fertiggelacht ist, kann man irgend so was probieren. Im Guten. Immer eben muss alles ungefährlich sein oder werden. Zusammen weinen ist auch wichtig, muss man auch lernen. Ist auch gut für die Firmen. Wird auch trainiert. Das stärke den Zusammenhalt. Weinen ist eine empathische Übung gegen Egozentrik und Narzissmus, sagt die Kollegin. Ja eh, sag ich und frage die Kollegin, wie viel ich denn jetzt allein weinen soll jeden Tag. Eine halbe Stunde.

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Will mit dem Vietnamesen wieder mehr Deutsch lernen. Damit er so bleibt, wie er ist. Sage, er soll mir bitte aus der Zeitung vorlesen. Er erwidert: Nein, geht nicht! Ich ärgere mich, schimpfe: Was soll da nicht gehen? Er nickt, liest, laut vor, die Schlagzeilen eines jeden Artikels. Es geht wirklich nicht. Was da steht, kann man nicht lesen. Ist eine Zumutung. Das Gratisblatt von der Haltestelle heut. Nur böse Nachrichten, nichts sonst. So etwas habe ich noch nie erlebt. Was hat die Zeitung von diesem Blödsinn? Nur Bedrohungen stehen da heute drinnen. Der Vietnamese ist auf der Flucht von seiner Familie getrennt worden und fast im Meer ertrunken. Ist aus Südvietnam. Die Gegend dort gilt als die, auf die am meisten Napalm und Agent Orange abgeworfen wurden. Nirgendwo sollen mehr Menschen gestorben sein als dort. Amerikanischer Militärstützpunkt und zugleich das Zentrum der Vietcong. Grausamstes Kampfgebiet. Ich weiß das nur aus Zufall und erst seit ein paar Monaten, ich war früher oft ungeduldig, obwohl ja eh nie etwas wirklich schwer war mit ihm. Aber hilflos eben ist er so schnell. So schnell hilflos! Und so allein und stumm. Ein immer freundliches uraltes Kind. Überhaupt nichts Böses hat er an sich. Aufgegeben da hier ist er worden. Ja, das war so. Er war wirklich immer gut. Hat nichts davon. Nie gehabt. Nur Probleme. Jetzt ist’s besser. Kann er leben. Wird so bleiben. Bitte! Ja, wird so bleiben. Alt ist er jetzt halt. Wieder eine andere Zeit kommt. In ein Heim er. Nein! Er bleibt in der Wohnung. Kann’s. Hat’s immer gekonnt.

Tag, Monat, Jahr

Der amerikanische Außenminister hat im Frühjahr 1954 dem französischen Außenminister zwei Atombomben angeboten. Die Franzosen nahmen die nicht an und verloren dadurch Vietnam. Sie sollen damals den amerikanischen Vorschlag deshalb abgelehnt haben, aus humanitären Gründen eben, weil er zur Folge gehabt hätte, dass auch die in Vietnam befindlichen Franzosen zu Schaden und umkommen. Was in Frankreich nicht gut angekommen wäre. Als die Amerikaner später dann selber Krieg führten, kostete sie jeder getötete Vietnamese, egal ob Mann, Frau oder Kind, im Durchschnitt 200.000 Dollar. Was viel Geld war. Heutzutage kostet ein jeweils getöteter Feind gewiss ein Vielfaches. Das Leben eines Menschen ist eben viel wert.

Tag, Monat, Jahr

Die Psychotherapeutin, die oft so zu kämpfen hat, dass sie während der Therapiestunden ja nicht einschläft. Das ist nicht aus Langeweile so bei ihr, sondern weil die Geschehnisse ihr so nahe gehen. Bedrücken eben. Sie wird sehr gemocht. Ist deshalb eine so große Hilfe, weil sie die Leute in Arbeit bringen kann. Das ist die größte Hilfe. Ein normales Leben eben. Der fällt auch immer etwas ein, was man doch noch tun könnt’. Der Kindertherapeut dann, andere Praxis dann heut, der nicht will, dass der Bub seinem Vater abgenommen wird. Die Kollegen sagen aber alle, dass es notwendig sei. Die Kolleginnen auch. Aber der Therapeut will das nicht, weil das Kind will, dass dem Vater geholfen wird. Der Vater kann nichts. Nicht mehr und gar nichts kann der. Findet auch keine Arbeit. Einen Salat heute in der Früh hat er zusammengebracht. Den hat er sich gemacht. Zum Frühstück. Dem Buben auch. Aber zusammengebracht hat er’s, das ist wichtig, sagt der Therapeut zu mir, und dass jedes Kind ein Recht auf seine Eltern habe und die Eltern haben ein Recht auf ihre Kinder und die eigene Familie sei ein Menschenrecht. Hat mir heut eh erklärt, woher er weiß, was das Kind will. Aber ich hab’s wirklich wieder vergessen. War alles sehr viel auf einmal heut. Natürlich weiß er, glaub ich, es auch von sich selber her, weil er ja seinem Vater immer helfen wollte und dass sie eine Familie sind mit der Mutter. Vergeblich eben als Kind war das. Von Kind zu Kind weiß er es! Der Bub ist immer so laut, dreht auf, durch, hat der Therapeut zu mir gesagt, alle in der Praxis nerve das inzwischen. Aber den Therapeuten eben nicht. So, jetzt weiß ich es wieder. Dem Papa helfen! Das hat der Bub gesagt. Selber. So einfach ist das. Und ich vergesse das einfach. Wie gibt’s das? Dem Papa helfen! Und jedes Mal eben, wenn das dann eben wirklich geschieht, wird der Bub sich beruhigen. So sieht der Therapeut das. Beide muss er beruhigen. Stillen eben. Habe auch vergessen, ob die Mutter auf und davon ist oder gestorben. Irgendetwas Schlimmes war gewesen. Ein Scheißblutkrebs in der Gosse. Das war’s. Der Therapeut hat dann gesagt, die Kinder, mit denen er zu tun habe, seien immer irgendwie im Krieg. Immer haben die Krieg. Von uns da hier Kinder sind das. So wachsen die auf hier. Raus da, schnell! Zu mir her! Weiter jetzt! – so ist der Therapeut daher beschaffen. Der ist wirklich so. Eben weil Krieg ist. So schnell wie möglich so sicher wie möglich, so hat der’s in der Ausbildung gelernt und so tut er das, weil eben nur das richtig ist, weil eben Krieg ist.

Tag, Monat, Jahr

Kein einziger Witz gelingt mir. Alle so gut gelaunt und ich bring keinen einzigen Witz an. Einer sagt wenigstens, was ich sage, ist lächerlich. Immerhin was!

Tag, Monat, Jahr

Eine Frau sagt, ihr Name habe ihr in ihrer Heimat nie gefallen, aber hier jetzt werde er irrtümlich so oft anders, eben falsch, ausgesprochen, aber dadurch gefalle er ihr viel besser und komme ihr ihr Name viel schöner vor.

Tag, Monat, Jahr

Warum gibt es in der Schule kein Unterrichtsfach, das Helfen heißt, und warum im Fernsehen kein Friedensprogramm? In der Schule ein Lernfach, das Helfen heißt, und im Fernsehen ein paar Stunden pro Woche ein Friedensprogramm! Auf jedem Sender die Analysen, was man wo tun kann, und in jeder Schule Helfen als Pflichtfach für da hier.

Tag, Monat, Jahr

Es heißt, bald werde man das ganze Gesicht transplantieren können. Ganze Gesichter. Das wird seltsam werden.

Tag, Monat, Jahr

Die runden Sandkörner hat der Wind gebracht, die eckigen das Wasser.

Tag, Monat, Jahr

Die erste Erwähnung des Namens Araber, im 9. Jahrhundert vor Christus, da kämpfen diese gemeinsam mit dem Volk von Israel gegen irgendwen und stellen dabei 1.000 Kamelreiter. Die Syrer sind auch mit von der Partie und auf derselben Seite wie das Volk von Israel. Und eine moslemische Frau wollte das Paradies in Schutt und Asche legen und hingegen die Hölle – die wollte sie mit Wasser vollschütten zum Löschen, damit die Menschen nichts hoffen und nichts fürchten. Nur einzig um Schönheit und die Liebe dürfe es fürderhin gehen im Leben und Empfinden der Menschen. Die Frau war dann für die Moslems zwischendurch sehr wichtig. Wirklich! Für den Frieden. Wirklich wahr!

Tag, Monat, Jahr

Eine Frau, die ich nicht kenne, sagt zu mir plötzlich am Ende der Vorstellungspause, sie habe sich jetzt schnell noch etwas zu essen holen wollen und das gehe jetzt aber nicht mehr und dass sie Hunger habe. Ich stehe sofort auf und will ihr etwas holen, aber sie sagt, nein, jetzt gehe es nicht mehr, denn ich würde den Künstler und das Publikum stören und den Techniker, der müsse sich hier sehr konzentrieren. Am Ende der Darbietung dann hole ich der Frau sofort etwas schnell vom Buffet und sie erschrickt aber, als sie das Essen sieht, das ich gebracht habe, und sagt aber, dass das sehr nett sei von mir. Sie müsse jetzt aber schnell ganz kurz an die frische Luft gehen, weil sie jetzt ja so lange gesessen sei. Ich stehe mit dem Essen da und warte, dass die Frau wiederkommt. Ihre Bekannte kommt zu mir und sagt, dass die Frau jetzt gewiss erbrechen geht, damit sie das da essen könne. Ich erschrecke und schäme mich. Es sind ja nur vier kleine Stückchen auf dem Teller und ich wollte niemandem Stress machen, hatte auch gar nicht mitbekommen, wie mager die Frau ist. Nur Haut und Knochen, würden die meisten sagen. Hab es aber einfach nicht gemerkt. Für normal gehalten. Sie ist sehr klein, doch sie macht eben, finde ich, einen sehr kräftigen Eindruck, robusten, ist auch sehr resolut. Und als sie zurückkommt aus dem Freien, bin ich natürlich noch immer da und daher unausweichlich. Sie bedankt sich freundlich, nimmt den Teller und ich gehe dann gleich und dann sehe ich aus einiger Entfernung, dass sie zögert, das Essen hochhebt, anschaut, kurz isst, kostet eben, und wieder zögert und es wieder anschaut. Habe ihr nichts Gutes getan. Jedes Wort habe ich ihr aber geglaubt. Und sie sagte ja eben, sie würde gerne etwas essen. So begannen dann die wahrscheinlich wirklich beträchtlichen Schwierigkeiten für sie. In die habe ich sie gebracht. Glaube aber wirklich, die Frau wollte wirklich essen. Sie wollte auch wirklich dazugehören zu denen. Sich zum Beispiel anstellen wie alle anderen auch. Und tratschen dabei mit denen. Manchmal dreht sie die Dinge um, ist mir dann heute erzählt worden von einer Kollegin von ihr. Sie, sie will dann behilflich und mitfühlend sein. Tut dann so, als ob die Leute etwas von ihr brauchen. Und da behandelt sie die Leute dann aber angeblich sehr von oben herab. Seltsam ist das alles und ich habe plötzlich gewaltige Angst um die Frau. Die ist gewiss schnell in Gefahr. Sie hat sich beim Gehen nochmals bedankt bei mir. Ohne Häme, kommt mir vor, sondern sehr freundlich und herzlich war sie und gelächelt hat sie und mir die Hand geben wollen und sie lang und fest geschüttelt. Die Frau ist wirklich ein Energiebündel. Aber was will sie? Ich glaube nicht, dass die Menschen essen will. Sie will anderen Menschen behilflich sein und indem sie anderen helfen kann, kann sie sich selber helfen. So macht die das, glaube ich.

Tag, Monat, Jahr

Sie packten ihn, spalteten ihm den Körper, nahmen sein Herz heraus, öffneten es, entfernten aus diesem einen schwarzen Klumpen, warfen den weg; dann wuschen sie das Herz und den Körper mit Schnee, bis sie ihn ganz gereinigt hatten. Als er ein Kind gewesen ist und zusammen mit einem anderen Jungen gestillt worden, ist ihm das so geschehen. Da waren plötzlich zwei Männer mit weißen Gewändern und mit einem Gefäß aus Gold, das mit Schnee gefüllt gewesen war, zu den beiden gekommen und taten das alles dann mit dem Kind. Mohamed! Und als er ein Mann war, kam er auf den Knien zu seiner Frau gekrochen, bat sie zitternd, dass sie ihn umhülle. Verzweifelt war er, wollte sich umbringen. Und ob man ihn aus seiner Heimat vertreiben werde, fragte er. Werden sie mich vertreiben? – Ja. Wer kann gegen so jemanden gewinnen, frage ich mich. Gegen solche Seelenzustände! Das Herausnehmen des Kinderherzens, die völlige Ausgeliefertheit und Verzweiflung, das Vertriebenwerden, die Todesangst. Das alles ertragen haben! Und die Gläubigen folgen ihm, der er für sie ja vollkommen und edel ist. Alles ertragen und alle besiegt hat. Wie können die Europäer, Amis, Russen und Chinesen glauben, gegen so beschaffene, in solchen seelischen Zuständen befindliche Menschen je wirklich gewinnen zu können. Es ist unmöglich! Solche Menschen haben den Tod Tausende Male hinter sich. So jemanden kann man nicht umbringen. Menschen absoluter Entschlossenheit. Dagegen gewinnt keine Macht der Welt. Hier bin ich, o Gott, hier bin ich, betet der Pilger in seinem weißen Leinengewand, bevor er den heiligen Bezirk betritt. So steht er vor Gott. Wer kann gegen so jemanden gewinnen? Niemand kann das. Der steht so vor seinem Gott! Alles andere ist dem egal.

Tag, Monat, Jahr

Einer sagt, das Blut eines Mannes sei eigentlich Meerwasser wie auch seine Tränen und sein Same seien Algen. Und seine Knochen Korallen. Wenn der nicht bald aufhört zu reden, komme ich mir vor wie der weiße Hai. Hört nicht auf. Also ruf ich’s raus. Der sagt daraufhin, dass vor 500, 600 Millionen Jahren die Erde ein Paradies gewesen ist. Das Zeitalter ist daher als Eden benannt worden von den dafür Zuständigen. In Südaustralien hat man die Überreste von damals gefunden. Ohne Raubtiere war das Ganze. Die Wesen damals waren scheibenartig und wie aufgeblasene Luftmatratzen. In Eden haben die Lebewesen mittels ihrer Haut gegessen und verdaut. Fühle mich in der Folge wie eine Luftmatratze in Lignano.

Tag, Monat, Jahr

Der Mann, dessen Frau plötzlich und dann über Jahre lebensgefährlich krank war und sich aber gut erholt hat und dann plötzlich an etwas ganz anderem gestorben ist. Er ist am Boden zerstört seit ihrem Tod. Schreibt ihr jeden Tag einen Brief. Fährt in einem fort irgendwohin, wandert umher dort; immer, wo sie miteinander gegangen sind. Ihre Orte. Die Orte und die Briefe helfen ihm und der Sohn und die kleine Enkeltochter. Dass es die alle gibt, seine Familie, die Schwiegertochter. Aber er kommt nicht zur Ruhe. Es geht nicht.

Tag, Monat, Jahr

So, die magersüchtige Frau ist verhungert. Habe ich heute aus der Firma erfahren. Tot. Wie und warum, weiß ich nicht. Niemand. Zu der Veranstaltung vor ein paar Tagen ist sie gewiss gekommen, um noch einmal ein paar Menschen zu sehen, mit denen sie zusammen gearbeitet hat, und überhaupt Menschen. Die hat sich wahrscheinlich einfach verabschieden wollen von wem von früher. Wie die Selbstmörder oft. So wird das gewesen sein. Die hat Menschen gesucht. Es ist dann ja eben auch jemand mit ihr mitgegangen. Haben geredet. Waren guter Dinge, ist mir vorgekommen. Ein paar Kolleginnen von ihr, alle, haben sich gefreut, sie wiederzusehen. Zusammengehören, miteinander essen; alles wirklich. Miteinander teilen alles und zugleich ist genug für alle da. So muss das gewesen sein für die Frau. Der Kabarettist an dem Abend, nach der Vorstellung noch kurze Gespräche mit Leuten aus dem Publikum; er hätte sich gewünscht, dass der Abend noch nicht zu Ende ist, kommt mir vor. Alles war gelungen und die Leute so angetan. Aber sie gingen dann eben. Als schon fast alle weg waren, drehte er sich mit dem Rücken zum Ausgang und mit dem Gesicht zur Bühne und hob plötzlich die Hände, streckte die Arme wie in einen Himmel hinauf über einem Altar und rief laut: Der Künstler bleibt wie immer alleine zurück! Seinem Gott hat er das geklagt. Der Kabarettist hätte gewiss gern mit der esskranken Frau geredet. Der ist immer sehr nett. Das wäre ihre Chance gewesen, am Leben zu bleiben. Der kann das. Der Abend, die Essenstücke in ihrer Hand angeschaut wie etwas Giftiges hat sie. Hab nicht verstanden, was ich wahrgenommen habe. Ratlos war sie, was sie machen soll. Das sah ich. Mit anderen zusammen hätte sie gewiss gegessen an dem Abend. Versuche dann heute noch darüber zu reden mit ein paar Leuten, so schnell ich nur kann. Die glauben zuerst alle, es sei eine sehr junge Frau gewesen. Aber sie war über 50. Da bringen sich oft welche um. Als Jugendliche eben oder in dem Alter. Die Leut’, mit denen ich zu reden versuche, sagen dann, dass heutzutage niemand mehr über Magersucht reden wolle. Sie auch nicht. Irgendwie witzig ist das und ich muss laut lachen. Später dann wieder erfahre ich, dass eine von denen, die heute nicht darüber reden wollten mit mir, eine Tochter hat, die schwer magersüchtig ist. Und das hilft der Tochter aber, dass sie das ist. Hat viel Erfolg damit. Daher hört sie ganz gewiss nicht auf damit. Gilt allen als hochintelligent, verlässlich, sozial wie nur wer, stets hilfsbereit, fleißig und strebsam und graduiert und zertifiziert sich in einem fort in allem ihr auch nur irgendwie Greifbaren. Die Mutter der Tochter, es ist, kommt mir vor, wie wenn man auf einen Menschen zugeht, der einen bitte auffangen soll, weil man zusammenbricht, und der Mensch geht aber jedes Mal weg in dem Moment. So kommt sie mir vor. Die entzieht sich immer. Wie das Essen eben. Da plötzlich nicht da. So wird die verhungernde Frau das Essen in ihrer Hand angeschaut haben. Ob der geliebte Mensch wirklich bleibt. Da ist eben, wenn man ihn braucht. Vom jetzigen Alter eines Abhängigen ist die doppelte Zeit seiner Abhängigkeit zu subtrahieren, dann weiß man, was diesem Menschen fehlt und gebraucht wird. Früher hat man’s so gemacht. So war die Formel. Und dann waren die Leut’ beim Nachrechnen eben 12 oder 3 Jahre alt oder noch gar nicht auf der Welt.

Tag, Monat, Jahr

Frage den Vietnamesen, was es Neues gibt. Sagt, dass er nichts im Lotto gewonnen hat. Das ist weder etwas Neues noch hat er gespielt. Sage das so zu ihm. Er lacht. Ich habe nichts gewonnen, sagt er wieder. Gehen wir essen, sag ich.

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