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Intervention 13. Februar 2019

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Sehr verehrte Damen und Herren, Sie werden in den kommenden Minuten angesichts meiner Wortmeldungen vielleicht ziemlich rasant zur Ansicht gelangen, Sie seien in der falschen Veranstaltung oder aber ich – einen schönen guten Abend! – sei da hier eben völlig fehl am Platze: Wischiwaschi, Larifari, ausweglos und Blablabla. Nichtsdestotrotz kennen die meisten von Ihnen wahrscheinlich die Geschichte, dass der Erfinder des Schachspieles als finanzielle Gegenleistung für seine Idee vom Herrscher lediglich ein Reiskorn auf das erste Feld, 2 auf das 2. Feld, 4 auf das 3., 8 auf das 4., 16 auf das 5. und so weiter bis zum 64. Feld sich erbat. Die Obrigkeit stimmt dem Erfinder freudig zu und verspricht ihm verbindlich die geforderte läppische Summe. Alleine auf dem 64. Feld liegen dann jedoch an Gewicht an die 500 Milliarden Tonnen Reis und auf allen 64 Feldern zusammen die Welternte von etlichen Jahrhunderten und das sind in Summe so viele Reiskörner, dass diese eine 1 Kilometer breite Straße von der Erde bis zur Sonne ergeben. Rechnerisch ist das Ganze angeblich etwas relativ Simples und durch und durch rational und normal. Zugleich wohl allerdings mutet es total irrational an und in den Konsequenzen unheimlich. Man kann das Ganze natürlich auch ganz anders sehen und empfinden, nämlich so, wie es zumeist erzählt wird: als Beispiel für Geschäftstüchtigkeit.

Von der Erfindung des Schachspieles existiert seit alters her auch ein total konträr beschaffener Bericht: Eine Mutter will da wissen, wieso ihr Kind zugrunde gegangen ist. Verzweifelt stellt sie die Verantwortlichen zur Rede. Von denen werden daraufhin die Gegebenheiten, Begebenheiten, Abläufe, der Konflikt, das Schlachten, die herrschende Ordnung nachgestellt und in aller Kenntlichkeit vor Augen geführt. Auf die Klage dieser Mutter hin. Vor ein paar Jahren hat übrigens ein bekannter österreichischer Kabarettist aufs Schach zurückgegriffen, als er das erschütternde Ableben seiner Frau an die Öffentlichkeit brachte. Gewissermaßen stellte er in einer Art Kampfschrift nach, wie seine Frau inmitten des, wie man ja gemeinhin hört, erstklassigen österreichischen Gesundheitswesens qualvoll und entstellt und – kann sein – unnötig zu Tode gekommen ist. Auf Schachzüge rekurrierend versuchte er einerseits, die eigene Fassung wiederzugewinnen, und andererseits, den seiner Meinung nach Verantwortlichen das Handwerk zu legen, damit anderen Menschen nicht zwangsläufig dasselbe widerfährt wie seiner Frau.

Um den Sinn und Zweck des Schachspiels zentrieren sich selbstverständlich Lebensgeschichten sonder Zahl und auch soll der Lohn dazumal eventuell eher in Weizenkörnern bestanden haben statt in Reis und auch soll der ungerechte Machthaber den damaligen Erfinder letztlich doch um den Lohn betrogen haben. Der Betrogene selber soll das Regelwerk des Schachspiels freilich erfunden haben, um just dem rasenden Herrscher Humanität, Seelengröße und Sinn für Gerechtigkeit beizubringen. Und zwar vor allem, dass die Regierenden von den Regierten völlig abhängen, die Regierenden die Regierten brauchen, die Regierenden ohne die Regierten hilflos, machtlos und verloren wären und dass die Regierenden sich deshalb den Regierten gegenüber gefälligst anständig statt wahnsinnig zu benehmen haben. So also eigentlich soll der Erfinder des Schachs sich die Sache gedacht haben. Ging alles daneben. Ging alles schief.

Zur Geschichte des Schachspiels gehört andererseits auch das energischste aller Aufklärungsstücke, nämlich Lessings Nathan. In einer Szene spielt da ein Mann, der Regent, mit einer Frau Schach und verliert chancenlos, ruft seinen Finanzminister, damit der das Geld ihr sofort ausbezahlen soll. Der erwidert, die Partie sei ja gar nicht verloren und der Regent solle doch weiterspielen. Tut der Regent aber nicht, sondern sagt, er wisse nicht, wie weiter, und die Frau habe gewonnen und auf der Stelle ihr Geld zu bekommen. Nach keiner der eben genannten Personen ist Lessings Stück benannt. Lessing hat den Nathan bekanntlich seinem Freund Mendelssohn nachgebildet. Beide, Lessing wie Mendelssohn, waren exzellente Schachspieler. Und dem Finanzminister in besagtem Stück entspricht ebenfalls eine reale Figur, eine Absturzexistenz, ein unglücklicher Berufsspieler, den Mendelssohn und Mendelssohns Frau und Kinder bei sich aufgenommen haben und der ohne sie alle verloren gewesen wäre. Mendelssohns Motto des eigenen Lebens lautete: Verschonet euch untereinander! Das Gegengift war das, meinte er, zu dem, was zurzeit, damals eben, sich permanent zuspitzend politisch, ökonomisch, kulturell, sozial und psychologisch gang und gäbe war. Verschonet euch untereinander! ist kein Kitsch nicht, sondern Mendelssohn wusste bloß, wovon er redete, konnte sich tatsächlich oft überhaupt nicht rühren, sowohl körperlich als auch seelisch, war da völlig hilflos und abhängig. Konnte nur abwarten. Verschonet euch untereinander! wäre in Mendelssohns Augen die Lösung gewesen für alles. Auf Mendelssohns Verschonet euch untereinander! werde ich Sie, verehrte Damen und Herren, heute Abend noch des Öfteren hinzuweisen mir gestatten. Und auch, es Ihnen untereinander anzuraten. Als Ausweg eben für alles.

Ebenfalls in die Geschichte des Schachspiels gehört Bertolt Brechts Stück Leben des Galilei. Brechts Galilei legt da den Leuten nämlich nicht alleine Denkfreiheit nahe, was die Natur und die Kirche betrifft, sondern nebenbei eine neue Art des Schachs, neue Spielregeln über alle Felder hinweg. Heraus aus Einschüchterung und Enge. Das Schach war im Mittelalter zugleich sowohl ein Hasard als auch natürlich das Sinnbild der ständisch streng hierarchisierten Gesellschaft gewesen. Und tatsächlich wurden Jahrhunderte später zu Lebzeiten Galileis die Regeln geändert und auch die Werthaftigkeit der Figuren im Spiel. Natürlich blieben die Untersten die Wertlosesten und Eingesperrtesten. Aber für die anderen Figuren fing das Spiel an, sich sozusagen wirklich zu rentieren. Ähnlich wie heute, wo der Springer bekanntlich 3 Bauern wert ist, der Läufer eher 4 Bauern, der Turm 5, die Königin 9. Und je näher der Brettmitte das jeweilige Feld positioniert ist, umso wertvoller ist es. Wer die Mitte beherrscht, beherrscht das Spiel. Diese ganze Unterwerfungsscheiße! Von Heinrich Böll ist das. – Der Begriff Unterwerfungsscheiße! ist von Böll. Böll spielte jeden Morgen Schach und angeblich findet man das Schach in der Formgestaltung und im Geschehensablauf vieler Böll-Werke wieder. In der Verlorenen Ehre der Katharina Blum genauso wie im Gruppenbild mit Dame oder in Frauen vor Flusslandschaft. – Ich weiß, was ich tue, aber ich weiß nicht, was ich anrichte. Ich weiß, was ich tue, aber ich weiß nicht, was ich anrichte! Bei Böll sagt das ein Politiker von sich und von der gegenwärtigen Politik überhaupt. Die Bundesrepublik Deutschland seiner letzten Lebenszeit hat Böll so auf den Punkt gebracht. Als, so hat Böll gesagt, geistig-politisches Gesamtphänomen. Und selbiges eben hat Böll mit dem Wort Unterwerfungsscheiße kenntlich gemacht. Und er hat gesagt, die Leute glauben, es gehe in der Politik letztlich doch vernunftgeleitet zu wie eben beim Schachspielen. Aber in Wirklichkeit sei, sagte Böll, alles Chaos. Wie im Krieg. In seinen Kriegstagebüchern hatte der junge Soldat Böll übrigens Folgendes notiert, alles mit Ausrufezeichen: Durst! Wasser! Flieger! Panzer! Jammer! Blut! Feuer! Jammer! Not, Dreck, Elend! Des Weiteren hatte er dort anderentags festgehalten: Gott lebt und Gott wird mir helfen. Wie Sie wissen, sehr verehrte Damen und Herren, war Böll ja wirklich Christ und die wirkliche Lösung für alles war für Böll wirklich Jesus. Gewissenhaft das Schicksal durchbrechen, dazwischengehen, wenn Menschen zerstört werden: Darum ist es Böll immer gegangen. In der Wirklichkeit.

Zurück zu Brechts Galilei. Dort findet sich folgende berühmte Passage: Meine Absicht ist nicht, zu beweisen, dass ich bisher recht gehabt habe, sondern: herauszufinden, ob [...] Wir werden nicht in Siebenmeilenstiefeln vorwärtsgehen, sondern im Schneckentempo. Und was wir zu finden wünschen, das werden wir, gefunden, mit besonderem Misstrauen ansehen. Also werden wir an die Beobachtung der Sonne herangehen mit dem unerbittlichen Entschluss, den Stillstand der Erde nachzuweisen! Und erst wenn wir gescheitert sind, vollständig [...], werden wir zu fragen anfangen, ob wir nicht doch recht gehabt haben und die Erde sich dreht! Was Brecht seinen Galilei da sagen lässt, ist Popper vom Besten, Popper pur, purer Karl Popper: das Falsifizieren, die Stückwerktechnik, die Fehlerkultur, in der Folge die offene Gesellschaft dann und die demokratischen Wahlen als revolutionäre Vorgänge. Falls Popper im Himmel der heutigen Veranstaltung da hier herunten jetzt gerade eben lauscht, zufällig, wird er wutentbrannt rotieren und, ist zu fürchten, augenblicklich aus allen Engelswolken fallen von oben herab mitten herein in diese Veranstaltung da hier jetzt. Es wäre also meinerseits zugegebenermaßen eine gewisse Vorsicht geboten – der rote Propagandist Brecht soll dasselbe wie Popper proklamiert haben und auch noch zeitgleich mit Popper oder vielleicht gar vor Popper!? Ja, hat er, der Brecht. Es ist so. Aber gehalten, gehalten hat Brecht sich nicht daran. Popper selber hat sich aber auch nicht daran gehalten. Auch das ist so. An sich selber nicht. Und seine Nachfolger haben sich auch nicht daran gehalten. Denn sonst wären, zumal die Popperianer stets einen privilegierten Zugang zur Macht, zur Öffentlichkeit und zum Bildungssystem hatten, Österreich, die EU und die westliche Welt insgesamt nicht in einem derartigen Schlamassel wie jetzt. Mir (was natürlich wirklich nichts heißen will) ist kein einziger Popperianer bekannt, der sich öffentlich oder gar beizeiten gegen den Neoliberalismus gewandt hat. Kein einziger. Den Popperianer George Soros, den Philanthropen, Mäzen, Barack-Obama-Unterstützer, Wohltäter, werden Sie, sehr verehrte Damen und Herren, mir wahrscheinlich sofort entgegenhalten. Den Hedgefondsgiganten. Und Sie werden schon recht haben damit. Jedoch, wie Sie wissen, war Soros, sich öffentlich zu Worte meldend, stets, stets!, strikt gegen jegliche Form der Börsentransaktionssteuer, Tobinsteuer, Börsenspekulationssteuer; genauso strikt war Soros stets gegen jegliche Versuche, stets gegen jegliche Versuche!, die Hedgefonds, die verheerenden Hedgefonds zu kontrollieren, zu reglementieren, in Schach zu halten. Inmitten der Wirtschaftskrise dann soll Soros die Sache gezwungenermaßen ein klein wenig anders gesehen haben.

Poppers Kritischer Rationalismus, insbesondere die Fehlerkultur, gehört wie gesagt gewiss zum Interessantesten, Wichtigsten, Sympathischsten und Besten, aber das Problem war und ist, dass sich die Popperianer selber nicht an die eigenen Vorschriften halten. In der Wirklichkeit. Der wahrscheinlich wichtigste Förderer Karl Poppers war übrigens Friedrich Hayek. Übrigens auch hat man sich sehr bemüht, Popper zu einem Nobelpreis zu verhelfen. Ich weiß nicht, ob für Literatur auch oder nur für Ökonomie. Für Ökonomie war man sehr zuversichtlich. Wie auch immer – Karl Popper las keine Tageszeitung, hörte kein Radio und sah nicht fern. Und die Probleme der Schulen und des Bildungssystems schrieb er einzig dem seines Erachtens unfähigen Personal dort zu, niemals den unterversorgenden Strukturen oder der gesetzgebenden und Budget erstellenden Politik. Und die Grünen hat Popper überhaupt nicht geschätzt. Und wenn Menschen von Entfremdung redeten, hielt er das für Quatsch. Den Keynesianismus und den Sozialstaat sowieso. Das können Sie, sehr verehrte Damen und Herren, alles bei Popper selber nachlesen. All seine abfälligen Äußerungen.

Durch das Reden, sehr verehrte Damen und Herren, ersparen wir uns das Sterben. Wir lassen da nämlich unsere falschen Sätze, unsere falschen Ideen, an unser statt untergehen. Sind wie Affen, die von Baum zu Baum springen; ist der Satz, den der Affe tut, falsch, dann ist der Affe auf der Stelle tot oder bald. Für Karl Popper ist das die Funktion der Sprache. Reden erspart Leid. Könnte. Diese Ansicht teile ich. Aber das war es dann auch schon. Und dennoch wie gesagt gehört das, was Popper gesagt hat, zum Interessantesten, Besten und Wichtigsten. Aber es hat sich eben niemand daran gehalten, er selber ja eben auch nicht. In der Wirklichkeit. Ich bin sehr froh und den beherzten und lebensklugen Organisatoren wirklich dankbar, dass es die heutige Veranstaltung gibt. Aber der neoliberale Hayek, der wichtigste und lebenslange Freund und Förderer Poppers, würde, habe ich mir sagen lassen, das, was auf den Einladungskarten steht, Ihren, sehr verehrte Damen und Herren, und meiner auch, sowieso für blödsinnig erklären. Für völlig irrelevant. Ich sag’s hiermit klar und deutlich: Die Liberalen sind entweder nicht willens oder nicht imstande, die Neoliberalen in den Griff zu bekommen. Die Liberalen sind entweder nicht willens oder nicht imstande, die Neoliberalen in den Griff zu bekommen! Die Wortfolge Offene Gesellschaft allerdings hört man mindestens einmal am Tag, ich kürzlich aus dem Mund des Verkehrsministers. Und wenn man, hat mir ein Freund erzählt, im Internet nach der offenen Gesellschaft sucht, erscheint zuerst die österreichische Wirtschaftskammer. Die offene Gesellschaft, heißt’s dort, ist eine Form der sogenannten Personengesellschaft. Sei dem, wie es sei: Selbstverständlich gibt es wahrhaftige Popperianer. Ralf Dahrendorf zum Beispiel war so einer. Der EU-Kommissar Dahrendorf. Maßgebender Repräsentant der Liberalen Internationale war er auch. Als Haider erwirken wollte, dass die FPÖ dort als Mitglied wieder aufgenommen wird, hat Dahrendorf das in aller Öffentlichkeit mit folgender Begründung abgelehnt: Ich habe eine Abneigung gegen schlechte Gesellschaft. Dahrendorf war bekanntlich namhafter Sozialwissenschaftler und außerdem ein wirklicher Kenner des Humanisten Erasmus von Rotterdam. Das ist der, von dem die meisten Leute eigentlich nicht wirklich wissen, wer das war, aber sich glücklicherweise in irgendeinem Förderprogramm oder -projekt befinden, das seinen Namen trägt. Ein wichtiges Lebensmotto des Erasmus hat gelautet, dass es immer einen Ausweg gibt. Der Popperianer Dahrendorf nun hat sich mit Poppers Konzepten immanent und intern auseinandergesetzt und als wichtigen, paradox anmutenden Kritikpunkt die Ansicht vertreten, es könne passieren, dass dieser Gesellschaft da, der offenen Gesellschaft, die Ideen ausgehen und sie nicht mehr aus und ein weiß. Keine Auswege mehr sieht. Was dann? – Also sozusagen: was jetzt?

Geschätzte Damen und Herren, ich weiß wie gesagt sehr wohl, was auf Ihren Einladungskarten und heute hier auf dem Programm steht und wozu ich als Referent angehalten bin. Ich arbeite es, bilde ich mir ein, hiermit stückwerktechnisch ab (nämlich was wir tun können, wir, wir, wir, tun, tun, tun, können, können, können) und bitte Sie aber zu diesem Zwecke noch für ein paar Minuten um Ihr Vertrauen oder Ähnliches.

Woran der realexistierende Sozialismus gescheitert ist und warum im Gegenteil der Westen und dessen freie Marktwirtschaft samt offener Gesellschaft obsiegt hat, ist, heißt’s, hinlänglich bekannt. Und das geht eben bekanntlich von der sozialistischen Miss- und Planwirtschaft samt den explodierenden Militär- und Diktaturkosten bis zum Good Guy Ronald Reagan und zum seligen Johannes Paul II. Worüber merkwürdigerweise in diesen Zusammenhängen öffentlich eigentlich nie geredet wird, im Westen, ist Tschernobyl, die dazumal schlimmste Industriekatastrophe der Geschichte. Ende April 1986. Also bereits unter Gorbatschow. Über eine Million Arbeitskräfte, sogenannte Liquidatoren, wurden als chancenlose Himmelfahrtskommandos in die verstrahlteste Zone geschickt. Die materiellen und finanziellen Folgekosten der Tschernobyl-Katastrophe und die völlige Schutzlosigkeit der Bevölkerung damals und das ständige Leib und Leben bedrohende Belogenwerden haben damals das Vertrauen in die Regierung und in das politische System massiv zerstört. Die Menschen haben damals bereits in Massen protestiert, die Teilrepubliken wollten ihre Unabhängigkeiten und Geld war selbstverständlich auch keines da. (Den Rest sozusagen hat dann der Westen erledigt. Unser aller offene Gesellschaft. <Geschlossen die Klammer.>) So kann man die Sache also auch sehen. Belegt und nahegelegt ist besagte Sichtweise im Handbuch des Kommunismus. Selbiges ist keine rote Propagandaschrift, sondern ganz im Gegenteil just so beschaffen wie das Schwarzbuch des Kommunismus. Apropos Kommunismus: Ein Opfer der russischen Revolution war eine gewisse Ayn Rand. Als sie ein Kind war, hat ihre Familie durch die Kommunisten alles verloren. Die neue Heimat waren dann notgedrungen die USA. Ayn Rand hat dort etliche wirkmächtige Bücher geschrieben mit einer Gesamtauflagenhöhe von zig Millionen Exemplaren. Zwischendurch hieß es sogar, insbesondere ihre verfilmten Romane werden in der offenen Gesellschaft der USA sowohl in Quantität als auch in Qualität einzig durch die Bibel übertroffen. Einer von Rands innigsten Freunden war Alan Greenspan, der zeit ihres Lebens nie ein Hehl daraus gemacht hat, von Ayn Rand maßgeblich beeinflusst zu sein und mit ihr liebend gern zu kooperieren. Greenspan war für 5 Amtsperioden = 20 Jahre lang der Präsident der US-Notenbank FED – und namhafte Kritiker des Neoliberalismus wie etwa Paul Krugman haben Greenspan als einen der Hauptverantwortlichsten der Weltwirtschaftskrise der Jahre 2007 folgende benannt. Sozusagen als den über Jahrzehnte hinweg Tätigsten aller Zeitbombenleger. Frau Ayn Rand jedenfalls hasste alles, was auch nur das Geringste mit Roosevelts New Deal gemeinsam hatte, und ihre Lehre war die des Übermenschen, der Hochintelligenz und des Ja-Nicht-Helfens. Allerdings soll die Rand, als sie krank war, paradoxerweise staatliche Hilfe in Anspruch genommen haben, finanzielle und auch medizinische. Unter anderem Namen. Gefälschtem. Auf neoliberal Österreichisch gesagt war das also Sozialbetrug, und zwar Missbrauch der Mindestsicherung und Benutzung einer fremden e-card.

Was ich bis jetzt, sehr verehrte Damen und Herren, radebrechend aufgeführt und versuchsweise in Anwendung gebracht habe, gehört explizit zum Methodenrepertoire Pierre Bourdieus, des anno 2002, im Jahr des österreichischen Sozialstaatsvolksbegehrens, verstorbenen, aber weltweit nach wie vor meistzitierten Menschen- und Wirklichkeitswissenschaftlers. Nämlich: Spaß- und Spielverderber sein; vor Augen führen, dass die Spiele der Gesellschaft solche auf Gedeih und Verderben sind; immer gerade über das reden, worüber nicht geredet wird oder nicht geredet werden soll; sich weder ein- noch aussperren lassen; sich nicht dem Zeitdruck der Wegwerfgesellschaft fügen, die aus dem Denken Wegwerfdenken macht und aus dem Reden Wegwerfreden und aus dem Leben Wegwerfleben; wo und wann nur irgend möglich, das Konkurrenzprinzip außer Kraft setzen; wo und wann nur irgend möglich, das Konkurrenzprinzip außer Kraft setzen!; die Aufzwingungen, Einschüchterungen, Tricks und Schwindeleien, die die Mächtigen und Wichtigen aller Zeiten ausmachen, demaskieren; Gewalt und Betrug kenntlich machen und durchkreuzen.

Bourdieus Lebenswerk hat sehr viel und wesentlich zu schaffen mit den immer wieder neu aufbrechenden Massenprotestbewegungen in Frankreich von 1995 an bis jetzt. Zugleich nichtsdestoweniger mit verlässlichstem Wissenschaftsverständnis. Nämlich dem Max Webers. Worum es Weber als Wissenschaftler ging, war, Menschen die Freiheit der Wahl zu ermöglichen. Wissenschaft soll laut Webers Wissenschaftslehre mithelfen, Menschen bewusst zu machen, was Menschen eigentlich wollen und ob sie das auch wirklich wollen, was sie zu wollen meinen, und was die Konsequenzen ihrer Wertungen und Wollungen sind und was die Mittel sind, die Menschen zum Erreichen ihrer Ziele und zum Realisieren ihrer Werte einsetzen müssen, und wo es dabei zu ungewollten Widersprüchen und zu ungewollten Konsequenzen kommt und wie Alternativen aussehen und aussehen könnten. Webers autonomer Wissenschaftler treibt insofern Politik, als er die freie Wahl Menschen zu ermöglichen versucht. Das tut er, indem er wie gesagt klärt, was Menschen wollen, und indem er Widersprüche, Folgen und Alternativen klarmacht, und zwar gerade dann, wenn man solche Wahrheiten weder finden noch hören will. Das ist seine Pflicht, Arbeit, Autonomie und Deplatziertheit. Und Objektivität, Objektivität!, war für Weber zuvorderst die Verpflichtung, Bereitschaft, Fähigkeit und Fertigkeit, Menschen nicht zu entstellen. Menschen nicht und Sachverhalte nicht.

Für den linken Weberianer Pierre Bourdieu (gestorben wie gesagt 2002) gab es nichts Provokanteres als Wissenschaft, Autonomie und öffentliche Wahrheitsfindung. Immer geht es in Bourdieus Gesamtlebenswerk um Menschen in Zwangssituationen, unten, oben, mitten drinnen. Den Sozialstaat erachtete er als Erzeugnis der Evolution, sozusagen als das Beste, was es bisher unter Menschen gab. Entstanden durchaus aus Zufällen, Glücksfällen, die als solche erkannt, geschätzt, geschützt wurden und zugleich aber das Ergebnis unglaublicher, schrecklicher Kämpfe waren. Daher dürfe der Sozialstaat ja nicht von neuem dem Zufall preisgegeben werden. Ja nicht diesen furchtbaren Preis von neuem zahlen müssen. Kleine soziale Wunder, Kostbarkeiten – Bourdieu nannte die Menschengruppen, die jetzt für den Sozialstaat kämpfen, so, die Bewegungen, Hilfseinrichtungen, NGOs. Er meinte, gegenwärtig sei eine rechte Revolution nach der anderen im Gange – eine permanente neoliberale Revolution, durch die der Staat mittels des Staates außer Kraft gesetzt werde. Und die Linken und Alternativen seien aber immer zwei, drei, vier Revolutionen hintennach; können gar nicht so schnell begreifen, geschweige denn dazwischengehen, geschweige denn wirklich, rechtzeitig und gemeinsam. Sie seien auch nicht imstande, untereinander das Konkurrenzprinzip, das Jeder muss selber schauen, wo er bleibt! und das Jeder gegen Jeden!, wo nur irgend möglich, außer Kraft zu setzen. Insbesondere freilich auf die Ausübenden der helfenden Berufe hoffte Bourdieu dennoch; und zwar auf diejenigen Berufshelferinnen und Berufshelfer, die in Ausübung ihrer Berufspflicht von Rechts wegen sich durch nichts und niemanden von ihren Schutzbefohlenen trennen lassen und in der Folge Politikern und Wirtschaftsherren rechtzeitig, wirklich und gemeinsam Paroli bieten. Statt Paroli bieten hat er Gegenfeuer gesagt. Und statt helfende Berufe in etwa die linke Hand des Staates. Und wirklich, rechtzeitig und gemeinsam waren Bourdieus Lieblingsadverbien. Statt Sozialstaat sagte er auch mitfühlender Staat.

Die Präventions-, Demokratie-, Solidaritäts-, Friedensmethode des Konflikt-, Macht- und Dissenstheoretikers Bourdieu ist praktiziert in der Studie Das Elend der Welt. In besagtem Werk respektive durch es erzählen angeblich banale alltägliche Menschen wie – Pardon – Du und ich einander ihre angeblich mehr oder weniger unwichtigen Leben, Wegwerfleben und was sie fürchten, was sie sich wünschen, was ihnen wehe tut. Und zwar Menschen tun das vom Bauern bis zum Untersuchungsrichter, von der Polizistin bis zur Postangestellten, vom Weinhändler bis zum jungen baldigen Neonazi, vom Migrantenbuben und dessen Hausmeister bis zur kleinen Geschäftsfrau oder bis zum Sozialarbeiter oder bis zum Autoschlosser in der riesigen Fabrik oder bis zur Lehrerin oder bis zum Arbeitslosen oder zum Schuldirektor oder bis zum moslemischen Familienvater, der nicht aus und ein weiß, oder bis zur moslemischen Tochter, die auf und davon will, oder bis zum Versicherungsvertreter oder zum entsetzten Gewerkschafter oder bis zur Leiterin eines Frauenhauses und so weiter und so fort: Es erzählen also Menschen, die einander ansonsten unbekannt, gleichgültig oder gar widerwärtig sind, einander ihr Leben. Indem sie einander angeblich Banales erzählen, das in Wahrheit für sie lebenswichtig ist, entmachten sie Stück für Stück diejenigen Wirtschaftsherren und politischen Machthaber, von denen sie beruflich und alltäglich in ihre jeweiligen Lebenssituationen, Konflikte und Kämpfe gezwungen werden. In Bourdieus Augen ist das Berufsgeheimnis das größte Problem. Denn dadurch ändere sich nie etwas. Für die Ausübenden der helfenden Berufe zum Beispiel. Bourdieu wortwörtlich: Die Lähmung der Gesellschaft funktioniert über das Berufsgeheimnis. Für Bourdieu war Schicksal jedenfalls nur Gewalt und Willkür und der Sozialstaat gedacht als das Gegenteil davon. Dass man öffentlich eben ja über das reden solle, worüber üblicherweise nicht geredet wird, sagte er. & immer mehr, immer mehr Menschen sollen das so machen. & immer mehr reden. Über ihre wirklichen Probleme. Die Menschen im Elend der Welt reden übrigens sehr wohl auch genau davon, was ihnen hilft und das Leben leichter macht. Was das ist und wäre.

Bourdieus Beziehungen zu Österreich waren vielfältig, z. B.: 1.) Bourdieus Elend der Welt aus den 1990er Jahren wurde schulintern systematisch mit der weltberühmten österreichischen Studie von Jahoda in den 1930er Jahren in Zusammenhang gebracht, mit den Arbeitslosen von Marienthal. 2.) Für Pierre Bourdieu war die wohl wichtigste Verbindung zu Österreich – der, wie Karl Kraus gesagt hat, Versuchsstation für Weltuntergang – Bourdieus österreichischer, früh verstorbener Schüler Michael Pollak. Pollak hat in einer Studie die österreichische Gesellschaft und Kultur der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als eine die Menschen misshandelnde und missbrauchende beschrieben und die internen Machtkämpfe der Eliten analysiert. Die Intellektuellen seien herrisch, Sadomaso und prostituierend gewesen. Wien 1900. Eine verletzte Identität heißt Pollaks Werk. 3.) Zukunftsweisend an Österreich war für Bourdieu und die Bourdieuschule das Sozialstaatsvolksbegehren des Jahres 2002. Sozusagen das andere Österreich. Bourdieu hat nämlich in den letzten Jahren seines Lebens vehement und konsequent daran gearbeitet, dass es EU-weit, in den einzelnen Staaten und insgesamt, mit Hilfe der Sozialbewegungen und NGOs möglichst bald zu so etwas Ähnlichem wie zu einem Volksbegehren oder einer Volksabstimmung für respektive über ein soziales, also sozialstaatliches, Europa kommt. Was Bourdieu da dringlich und präventiv und als kollektiven Lernprozess im Sinne hatte, hat der Arzt und erste Wiener Pflegeombudsmann Werner Vogt zeitgleich und völlig unabhängig von Bourdieu für Österreich zu realisieren versucht. Gemeinsam mit Stephan Schulmeister, Emmerich Tálos und der inzwischen verstorbenen, politisch jedoch nach wie vor nicht umzubringenden Frauenministerin Johanna Dohnal (und wie sie alle heißen). Nach einer Jahre dauernden Vorbereitungszeit inmitten massiven Desinteresses der Parlamentsparteien ist das Volksbegehren realisiert worden. Bourdieu hat just in diesem jenem anderen Österreich, dem z. B. des Sozialstaatsvolksbegehrens, Europas Avantgarde gesehen.

1. Verschonet euch untereinander! 2. Das Konkurrenzprinzip Jeder gegen jeden und Jeder muss selber schauen, wo er bleibt außer Kraft setzen! 3. VIS und DOLUS, Zwang und Täuschung, selber nicht und nicht anwenden untereinander! 4. Aus den Fehlern lernen, konsequent und systematisch, also kultiviert. 5. Schnellstens daran gehen, das Sozialstaatsvolksbegehren zu wiederholen! Das sind die Antworten, die meine Wenigkeit Ihnen, geschätzte Damen und Herren, auf die Fragen auf der Einladungskarte geben würde, wären besagte Fragen die Ihren. Ah ja – und 6.: Anders miteinander reden. Es gibt nämlich nicht nur ein Totschweigen, sondern auch ein Totreden.

Menschen, die weder totschweigen noch totreden, gibt’s glücklicherweise freilich auch. Peter Henisch zum Beispiel heißt einer und einer Klaus Ottomeyer und einer eben Werner Vogt. Henisch hat vor Jahrzehnten ein Grundwerk der Zweiten Republik verfasst. Das ist auch tatsächlich so kanonisiert, als Grundwerk der Zweiten Republik. Unter dem Titel Die kleine Figur meines Vaters. (Zum jetzigen Bundeskanzler übrigens hat vielleicht noch niemand in der Öffentlichkeit so klare Worte gefunden wie Henisch.) Das Grundwerk der Zweiten Republik aus der Hand des Psychologen Klaus Ottomeyer sind die Psychogramme des Jörg Haider. Diese sind zugleich die Psychogramme des Kurzschen Österreichs hier und jetzt. Und aus Vogts Grundwerk der Zweiten Republik, seinem Pflegetagebuch sowie seinem Berufsroman, sozialhistorischen Lebensbericht, kann man nach wie vor erlernen, miteinander kooperierend Menschen hier und jetzt beizustehen und ihr Unglück ins Glück zu drehen. Das eigene eventuell auch. Einer, von dem ich nicht weiß, wie er heißt – jedoch würde ich ihn unter Tausenden wiedererkennen –, sagte bei einer der Demos gegen die ÖVP-FPÖ-Regierung der Schüsselzeit folgenden Satz: Wir haben gelernt, aufeinander aufzupassen, wir sind eine soziale Bewegung. Wir haben gelernt, aufeinander aufzupassen, wir sind eine soziale Bewegung! Ach wäre es doch dann wirklich so gewesen! Ach wäre es doch dann wirklich so gewesen!

Selbstermächtigung in einer offenen Gesellschaft, Verein AMSEL. Arbeitslose Menschen suchen effektive Lösungen und Katholische Hochschulgemeinde, Graz

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