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Intervention 14. September 2015

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Hans Pestalozzi war Spitzenmanager des Schweizer Migros-Konzerns, welcher später dann, nach Pestalozzis Hinauswurf, den pleitegegangenen roten Konsum Österreich hätte retten sollen, aber nicht wollte. Der gelernte Wirtschaftswissenschaftler Pestalozzi war die rechte Hand seines Ziehvaters Duttweiler, dessen Genossenschaftskonzern Migros eigentlich den Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Staatssozialismus hätte gehen sollen und dies bis zum Tod Duttweilers auch tat. Für Duttweiler war das Ziel nicht Wirtschaftswachstum gewesen, sondern die Demokratisierung der Schweizer Wirtschaft und das Lösen elementarer gesellschaftlicher Probleme, nämlich die gesicherte, faire und ausreichende Grundversorgung. Pestalozzi (geboren 1929, verstorben 2004) veranstaltete in diesem Duttweilerschen Sinne und in Analogie zum Prager Frühling einen Migros-Frühling. Und unterlag damit endgültig seinen konzerninternen Konkurrenten. Ein Schweizer Spitzenmanager einer Bank sagte einmal zu ihm, würde diese seine Bank bei ihren Geschäften ethische Verantwortung übernehmen, hätte das für die Schweiz Massenarbeitslosigkeit zur Folge. Und der in der BRD dazumal wichtigste Headhunter sagte zu Pestalozzi, damit die Wirtschaft weiter florieren könne, brauche es endlich wieder einen Krieg; besagter sich neuen Krieg wünschender Headhunter bezeichnete sich selbst als Psychotherapeuten, da ohne ihn so viele Spitzenmanager den modernen wirtschaftlichen Realitäten nie und nimmer gewachsen wären.

Bleierne Zeit. Zerstörung der Vernunft. Angriff auf das Herz des Staates. [...] es fallen / Die leidenden Menschen / Blindlings von einer / Stunde zur andern, / Wie Wasser von Klippe /Zu Klippe geworfen, / Jahr lang ins Ungewisse hinab. Diese Schicksalsverse stammen ebenso wie der Begriff bleierne Zeit, wie vielen von Ihnen, sehr verehrte Damen und Herren, vielleicht ohnehin bekannt, von Hölderlin. Sein Versreflex auf die bleierne Zeit, in der er existierte und in der von rabiater Machthaberseite das legendäre Machtwort geprägt wurde, dass Politik Schicksal sei, lautet bekanntlich: Komm! ins Offene, Freund!

Ich erfinde nichts, ich erzähle nur weiter: Ein Lehrer, somit ein Ausübender eines helfenden Berufes, sagte zu mir vor kurzem, das größte Problem in der Schule, in der Mittelschule, im Gymnasium, an dem er unterrichte, aber überhaupt das schulische Grundproblem, seien seiner Meinung nach die Entwertungen. Die Stoffe und Inhalte seien sowieso schon lange keine Wertgegenstände mehr. Die Kinder selber und die Lehrenden selber werden aber genauso immer weniger wertgeschätzt. Auf die Weise gehe zwangsläufig alles kaputt. Und das Lernen selber habe erst recht keinen Wert mehr. Vor allem werden die Probleme, welche die Kinder und Jugendlichen haben, sagte er, ganz gewiss nicht gelöst, sondern das werde von Jahr zu Jahr und von Klasse zu Klasse aufgeschoben. Und die Konzentrationsfähigkeit sei nun einmal sowieso futsch, sowohl bei den Kindern als auch bei den Lehrern. Der Horizont ebenfalls. Statt Substanz gebe es zusehends nur mehr Virtualität. Alles müsse schnell gehen, damit es ja niemandem langweilig oder bange wird. Er könne das alles nicht mehr ernst nehmen. Man setze sich mit nichts und niemandem mehr wirklich auseinander, da nichts und niemand, meinte er, mehr wichtig genug oder gar als kostbar erscheint. Das seien eigentlich alles gegenseitige Grundrechtsverletzungen, was da in der Schule stattfinde. Man drücke sich vor den konkreten Lernproblemen, statt die Schüler und sich selber mit diesen Lern- und Lebensproblemen zwecks Abhilfeschaffens zu konfrontieren. Manchmal auch gibt er infolge der kulturmedialen Berichterstattung bekannte Texte von namhaften gegenwärtigen Schulkritikern und deren Gegenkritikern den Jugendlichen als Diskussions- und Aufsatzthema. Die können nie viel damit anfangen. Meistens gar nichts. Zum Beispiel weder mit Bildung noch mit Glück und was die gar miteinander zu tun haben sollen, das Lernen, die biophilen Fähigkeiten, die Fertigkeiten, das Wohlergehen, der Sinn, die Freiheit, die Freiheiten, die Lebhaftigkeit, die Ausbildung eben und das Lebensglück. Genannter Mittelschullehrer ist sich auch keineswegs sicher, ob wirklich nur die Kinder und Jugendlichen sich mit dem Lesen und Schreiben und Rechnen gar so schwer tun. Er hält das Analphabetentum für strukturell und epidemisch. Die Unkonzentriertheit auch. Genauso die Lernschwächen. Die Erwachsenen können nämlich auch nicht lesen und nicht schreiben und eins und eins nicht zusammenzählen, denkt er sich mitunter. Nimmt sich selber zwischendurch nicht aus davon. Aber da würde er dann am liebsten auf und davon. Wenigstens für ein, zwei Jahre. Oder eben Stütz- oder Integrationslehrer werden, das könne er sich sehr wohl auch vorstellen. Ein wenig wäre das wie die Seiten wechseln, meint er. Und dass ehrlicherweise eigentlich der gesamte Unterricht stütz- und integrations- und grundschulartig erfolgen sollte. Das wäre eine Erleichterung für alle Beteiligten. Zumindest an den Mittelschulen, Gymnasien, die so lernbehindert seien wie diejenigen, an denen er in den letzten 30 Jahren gearbeitet habe. Der viele Schein nämlich mache den vielen Stress.

Des Weiteren kann ich mich an eine große, dichtbesuchte Alternativveranstaltung in Graz erinnern, im Forum Stadtpark, vor einigen Jahren, ich weiß nicht mehr, ob bei Elevate- oder bei Crossroads-Tagen. Ich weiß nur mehr, dass draußen Regenwetter war. Ein junger Mann hat damals gesagt, an der Uni werde ihnen das Falsche beigebracht. Man bringe ihnen eigentlich nur ein Puzzle bei. Und bei dem Puzzle auch nur, wie man es falsch zusammenfügt. In Wirklichkeit könnte man das Puzzle aber ganz anders zusammensetzen, hat er gemeint.

Des Weiteren sagte vor ein paar Monaten jemand, der seit Jahrzehnten im, wie man so sagt, leitenden Management der helfenden Berufe tätig ist, neben vielem anderen als Supervisor respektive Ausbildner und mir persönlich weder vertraut noch näher bekannt, zu meiner verdutzten Überraschung zu mir, dass er eben im Helferwesen ein Chef sei und Man wird dadurch immer blöder und dass er seit Jahren nur mehr Akten und diverse fachliche Routinearbeiten lese. Die dafür alle. Die Akten, die 08/15-Literatur und Abschlussarbeiten. Und vor allem die diversen Kalkulationen. Und bei den dauernden Sitzungen verhandle er natürlich stets mit, gebe, egal, ob gefragt oder nicht, seine Expertise ab. Bald mehr, bald weniger, bald sehr, bald überhaupt nicht maßgebend. Eben je nach Gemengelage, regierender Politik und Public-private-Partnership-Konstellation.

Seit den 1970er Jahren experimentiert der Computer- und IT-freundliche Katastrophenpsychologe Dietrich Dörner intensiv und konsequent, um Menschen wie Dich und mich, aber vor allem um die jeweiligen politischen, technischen, ökonomischen Entscheidungseliten durch Computersimulationen zu schulen und vorstellungsfähiger und dadurch wirklichkeitstauglicher zu machen. Auf dass politische, technische, ökonomische Unfälle, Debakel und Desaster verhindert werden:

Das Dörnerexperiment 1 betrifft ein fiktives Entwicklungsland namens Tanaland, das Dörnerexperiment 2 die fiktive kleine deutsche Stadt Lohhausen, das Dörnerexperiment 3 ist das reale Tschernobyl. Den Versuchspersonen wird jedwedes Know-how und Machtinstrumentarium, sogar das der Diktatur, zur Verfügung gestellt. Aber fast alle Versuchspersonen sind den Situationen, Strukturen, Zwängen, Zusammenhängen, Geschwindigkeiten und Abläufen nicht gewachsen und zerstören unerbittlich das, was sie aufbauen oder retten sollen. In den 30, 40, bald 50 Jahren der Dörnerexperimente hat sich daran nicht viel geändert. Aus Tanaland wurde inzwischen in der Realität Griechenland, aus Lohhausen wurden die bankrotten Gemeinden, Städte und Regionen und aus Tschernobyl Fukushima: Dörners Experimente sind vielleicht sogar gruseliger als die Milgrams, denn die jeweilige Versuchsperson handelt frei und ungezwungen, keine beigestellte Autorität zwingt sie weiterzumachen, egal, wie es den überantworteten Menschen dabei ergeht. Die für die Entwicklungslandbewohner lebensbedrohlichen und quälenden Interventionsfolgen wurden vom fiktiven Entwicklungshelfer, vom Computertäter, als notwendige Durchgangsphase deklariert. Die Versuchspersonen agierten ziemlich brutal, egal, ob sie männlichen oder weiblichen Geschlechts waren: Die Hungernden beispielsweise müssen eben, hieß es seitens der Versuchspersonen, für ihre Enkel leiden. Es sterben, meinte man auch, ja wohl hauptsächlich die Alten und Schwachen, was gut sei für die Bevölkerungsstruktur. Je gefährlicher die Situation beispielsweise für die Entwicklungslandmenschen wurde und je mehr warnende Informationen, negative Rückmeldungen die es gut meinenden, immer nervöser werdenden Computertäter bekamen, umso gleichgültiger und rücksichtsloser agierten sie und fanden gute Gründe für ihr eklatant falsches, großen Schaden stiftendes Vorgehen. Wie auch immer, es könnte einem scheinen, kommt mir vor, die EU als ganze sei in der Realität zurzeit zu nicht viel sonst geraten als zu einem riesigen realen Dörnerxperiment Numero 4.

Oder lassen Sie mich für den ein, zwei, drei Nummern kleineren tagtäglichen Alltag, sehr verehrte Damen und Herren – Ihren wie in gewissem Sinne auch meinen – die Sache einmal ganz simpel so benennen: Immer wenn man als Entscheidungen Treffender, Verantwortung Tragender, Helfender Es geht nicht anders oder Es geht nicht anders: Es ist das kleinere Übel zu jemandem sagt oder selber gesagt bekommt und es gar auch noch selber glaubt, befindet man sich wahrscheinlich gerade als Versuchsperson in einem grausigen Milgram- oder Dörnerexperiment. Und zu glauben, man könne es sich für sich selber oder für die Seinen trotz allem schon irgendwie richten, gehört zum Verlauf des Experimentes.

Der heutige Abend ist für Menschen gedacht in Zwangssituationen verschiedenster Art. Versucht wird werden, über andere Dinge zu reden als üblich und auf andere Weise als üblich. Ein Vorschlag Pierre Bourdieus, wer auch immer das gewesen sein mag, war, gerade über die Dinge zu reden, über die sonst nicht geredet wird. Die heutige Auswege-Veranstaltung ist ein Versprechen. Ich habe es gegeben, die anderen, weiß ich, werden es einlösen: alle in diesem Raum mit Blick aufs Freie Anwesende, also die Gäste heute hier aus Wien und Sie, das Grazer Gastpublikum. Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen: Dass das heute so geschehen wird, darauf gehe ich mit Ihnen, sehr verehrte Damen und Herren, jede Wette ein.

Gut geht der heutige Abend in meinem Empfinden dann aus, wenn er weitergeht. Das – die Wette gilt – wird er tun. Das Auswege-Vorhaben in Form des heutigen Abends ist nur ein Anfang von vielen Anfängen. Doch ist es ab und zu besser, am Anfang zu stehen, als am Ende zu sein. Zeitnot wird es heute Abend und so weiter, soweit es nach mir geht, also nicht geben, sondern die nötige Zeit für die Sorgfalt im Umgang.

Sollte Ihnen hier auf dieser Seite des St.-Andrä-Saales trotz aller tatsächlichen Präsenz z. B. zu wenig Dritte-Welt-Erfahrenheit oder zu wenig Weiblichkeit versammelt erscheinen, darf ich Ihnen mitteilen, dass dies sowohl sicher nicht der Fall ist als auch bloß Zufall ist, jedenfalls nicht struktureller Dummheitsgewalt entspringt, sondern die Sache verhält sich grundlegend anders: Ulrich Brand nämlich, an der Uni Wien zuständig für Internationale Politik, ist noch in Lateinamerika und deshalb nicht hier. Und unter Ihnen im Publikum befindet sich mit gutem Grund zum heutigen Abend eingeladene, ein halbes Leben lang politikerfahrene linke Weiblichkeit, welche heute Abend aber lieber bei Ihnen, in der Zivilgesellschaft des Publikums und in der APO des Publikums, weilt als hier heroben auf dem zivilgesellschaftlichen Podiumspodest.

In Vorbereitung des heutigen Abends, an dem von mir verbuchte und, ich würde meinen, existenzielle Gespräche mit Adolf Holl, Markus Marterbauer, Werner Vogt und Friedrich Orter Ihnen, geschätzte Damen und Herren, wertes Publikum, öffentlich der Verwendung in der Realität anheimgestellt werden, habe ich ein paar Wochen lang quer und kreuz herumgefragt, bei hilfsbereiten Leuten und bei jungen Leuten z. B., wozu der heutige Abend gebraucht wird und gut sein soll. Unter anderem erhofft und will man Antwort auf folgende, wie es zwischendurch tatsächlich hieß, quälende Fragen: Wie kann verhindert werden, dass die Menschen durchdrehen? Und woher diese gegenwärtige furchtbare Gleichzeitigkeit überall, nämlich die von Vernunft und Dummheit in einem und von Humanität und von Gemeinheit in einem kommt, wollte man wissen. Und so viele Leute wissen, hieß es, was schiefläuft, und haben Potential, aber warum dringt das und warum dringen die nicht durch, während hingegen die falsche Gegenwart in einem fort überall eindringe. Und wie kann man andererseits zuwege bringen, dass das viele gute Wissen, das es ganz sicher gibt, dorthin kommt, wo es eine Hilfe ist, universitäres Wissen z. B.; und umgekehrt aber seien, hieß es, die Unis in vielem ganz Wichtigen um viele Jahre, vielleicht um mehr als ein Jahrzehnt hinter dem zurück, was Hilfseinrichtungen an selbstverständlichem tagtäglichem Problemwissen und zugleich an problemlösenden Erfahrungs- und Lebensschönheitsschätzen aufwiesen. Und wie geht das eben zusammen: einerseits, dass die Menschen ganz sicher viel klüger sind, als das die Politiker und die Medien glauben und glauben machen, und andererseits diese unglaubliche Des- und Uninformiertheit der Menschen? Und wie kommt es, dass zunehmend gestresstes Personal in zunehmend gestressten Hilfseinrichtungen an verbessernden Neuerungen gar nicht mehr interessiert zu sein vermag? Und warum darf man im Beruf, z. B. im helfenden, Fehler und Schwächen nicht eingestehen, warum wird das als Unfähigkeit verstanden statt als Verantwortungsbewusstsein und Lernbereitschaft? Und wie kommt das, dass auch in bestgesinnten Hilfseinrichtungen, Humanbetrieben somit, die einen Beschäftigten fast nichts von den anderen wissen, auch die einen Projekte nichts von den anderen, oder wie gibt es das, dass die draußen für ihre Humanität und Intelligenz hochgelobten Chefleute innerbetrieblich illoyal und unverlässlich ihren MitarbeiterInnen gegenüber sind und dass besagte anomische, also zerfledderte Humanfirmen dermaßen zerfallen, die Beschäftigten der Reihe nach die Arbeit verlieren und eben keine kollegialen, auch einander helfenden Teams mehr existieren. Und warum verstehen Sozialbeamte oft wirklich den Sozialstaat nicht, beispielsweise nicht einmal, wie viel sie selber davon haben, dass durch den Sozialstaat ihre Frauen und Kinder bei ihnen mitversichert sein können oder dass sie nicht selber die Schule für die Kinder zahlen müssen oder dass ihre Kinder Hilfe bekommen werden, wenn denen etwas schiefläuft im Leben. Und warum verstehen überhaupt dermaßen viele Leute das Versicherungsprinzip des Sozialstaats nicht? Und: Unsere gegenwärtigen Eliten, z. B. die uns führenden Chefitäten und Krisenmanager, sind in unsere österreichischen, in unsere europäischen Schulen gegangen just wie unsere chancenlosen Analphabeten und genauso wie die Mehrheit der jugendlichen Wähler, die hierzulande bekanntlich rechtsrechts wählt, freiheitlich, wie man das hierzulande nennt. Wie kann das sein, dass die alle in unsere österreichischen, europäischen Schulen gegangen sind, die Analphabeten, die Eliten und die FPÖ-Wähler? Und warum wird alles nur mehr in Geld gedacht und übersetzt? Und warum gilt eigentlich nur mehr das Prinzip, wer zahlt, schafft an? Und warum spart man in der öffentlichen Hand, in der sogenannten Verwaltung, öffentliches Personal ein, indem man Personalarbeit outsourct; die Kosten fürs Outsourcen verrechnet man dann als Sachkosten statt als Personalkosten und das Ganze kommt in Wahrheit teurer, weil eben die Sachkosten eklatant steigen, aber warum wird darüber nie öffentlich geredet? Und warum dürfen Ökonomen medial ganz selbstverständlich über Gesundheit reden, als ob sie medial die zuständigen Experten wären, aber Ärzte medial nicht über die gegenwärtige Wirtschaftskriminalität und deren volksgesundheitliche Folgen? Und warum wird, wenn jemand Hilfe braucht, immer zuerst sofort gefragt, ob er seine Situation selber verschuldet hat? Und wenn wirklich die Arbeit das Schönste und Wichtigste ist im Leben, warum schimpft man dann auf Arbeitslose, statt dass man froh ist über die eigene Arbeit, die man zum Glück hat? Und warum sagt man so großsprecherisch Sozialmanagement (wahrscheinlich weil das wie Facilitymanagement klingt), aber die Wirklichkeit bleibt in Wahrheit gemein schwer? Und was nützt Sozialarbeiterinnen ihre akademische Ausbildung, sozialarbeitswissenschaftliche, wenn sie im Beruf von Amts wegen sehr wohl sehr schnell einzig das machen dürfen, was ihnen amtlich aufgetragen wird? Und ist eine Ausbildungsstätte helfender Berufe nicht erst dann gut zu nennen, wenn die, die sie absolviert haben, vertrauensvoll immer wieder dorthin zurückkommen können, um zu berichten und um Rat und um Hilfe, und die dann dort auch bekommen, also sich dort sozusagen immer wieder helfen lassen können, um selber helfen zu können? Und gibt es solche von ihren Absolventen lernenden und ihnen auch dann im Beruf immer wieder von neuem hilfreich zur Seite stehenden Ausbildungsstätten überhaupt, und wenn, wo, und wenn nicht, warum nicht? Und wo, wo lernen die Politiker die Politik, woher kommen die Politiker von den politischen Erfahrungen her und vom politischen Können her und an wen können die sich wenden, wenn sie etwas nicht können, nicht verstehen, nicht zustande bringen? Und ob denn nicht offensichtlich die USA, England und Frankreich die Zertrümmerung von Irak, Libyen und Syrien massiv mitbetrieben und die terroristisch apokalyptische Allmacht des IS massiv mitverursacht haben und so die allgegenwärtige Flüchtlingskatastrophe massiv mitverschuldet haben mitsamt den uns allen bevorstehenden rechtsrechten halb- bis ganznaziartigen politischen Folgen in der gesamten EU, also demnächst auch in Österreich. Und ob denn niemand von den allen eben Genannten, also die USA, Frankreich, das United Kingdom, Syrien, Libyen, der Irak oder eben die EU, einfach friedlich Frieden machen könne oder dabei helfen könne, friedlich Frieden zu machen? Und weil es doch eine Tatsache ist, dass jede Minute eine Frau irgendwo auf der Welt bei der Geburt ihres Kindes stirbt, jede Minute, und dass zeitlich jedes Mal, wenn wir mit den Wimpern zucken, mit unseren Augen blinzeln, gleichzeitig irgendwo auf der Welt ein Kind verhungert – wie kann man dann überhaupt von Wirtschaftsflüchtlingen reden, wenn Menschen der lebensgefährlichen Armut zu entkommen versuchen? Und ob denn nicht ganz offensichtlich die Dritte Welt immer mehr unser aller Realität werde. Die Verdrittweltlichung der Ersten Welt sei doch offenkundig. Aber nicht durch die Kriegs- und sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge komme es zur Verelendung in der Ersten Welt, sondern durch die von den Eliten der Ersten Welt getroffenen Entscheidungen. Das seien folgenschwere Urteile über Inländer wie über Ausländer. Über beider Wohlergehen oder Qual, Leben oder Zugrundegehen entscheide die Elite der Ersten Welt. Eine von Wirtschaft, Politik und Militär global in Gang gesetzte und in Gang gehaltene Verelendung dort wie hier sei das Ganze, wurde zu mir wütend und verzweifelt gesagt und ich wurde zornig gefragt, warum das denn nicht für jeden offenkundig sei. Und ob ich das überhaupt kapiere. Dritte-Welt-Zustände habe es auch in Österreich immer gegeben und gebe es immer noch und immer wieder und wieder immer mehr, und zwar völlig unabhängig von den Zuwanderern. Und wie die Leute, die Inländer, völlig entgegen ihrer eigenen Lebenserfahrung, auf die Idee kommen, dass sie selber mehr Geld bekämen, wenn es die Flüchtlinge nicht mehr gäbe? Auch im hiesigen Sozialstaat sei es außerdem, was die Hilfe in den Institutionen und durch die Institutionen betrifft, so, dass in Wahrheit, wer niemanden habe, sehr schnell verloren sei. Warum darüber nie geredet werde, wurde ich gefragt. So beschaffen waren also die Fragen. Sie, sehr verehrte Damen und Herren, werden heute Abend gewiss viele andere zusätzliche oder ganz andere haben. Und warum wird weder das große Ganze gesehen noch die vielen kleinen Möglichkeiten, die man trotz allem noch hätte, hat man auch gefragt. Und woher das komme, dass ich offenkundig dermaßen realitätsblind an Betriebsräte glaube, wo doch das jeweils betriebliche Personal in helfenden Einrichtungen arm dran sei bei solchen Betriebsräten. Und ob das Geschehen des heutigen Abends überhaupt mit realer, institutioneller Macht beziehungsweise Gegenmacht verbunden sein werde oder es bloß wie sonst üblich bei irgendwelchen Ideen, Fantasien und beim Reden bleiben wird, wollte man auch wissen.

Mit dem Reden ist das freilich so eine Sache. Denn angeblich sind die Sätze, die wir sprechen, wie die Sätze, die die Affen von Baum zu Baum machen. Sind die Sätze falsch, sind die Affen über kurz oder lang tot. Die falschen und wahren Sätze herauszufinden, sozusagen das Leben durchzuprobieren, indem wir von ihm berichten, erspart uns und den anderen Leid und Tod. Der Vergleich kommt von Theoretischen Biologen rund um Karl Popper. Um Fehlerkultur geht es. Im Reden und Denken probieren wir versuchsweise Wirklichkeiten aus. Wir lassen unsere falschen Sätze an unser statt sterben. Durch bewusstes Durchprobieren, bewusstes kreatives Fehlermachen, bewusstes Fehlersuchen überleben wir selber und helfen anderen, dass sie überleben können. So – aber zugleich als unaufdringliche, ruhige Musslosigkeit – verstehe ich den heutigen Abend. Und genau gerade so auch die von mir publizierten Auswege-Gespräche mit dem Konjunkturforscher, Gleichheits- und Sozialstaatsökonomen Markus Marterbauer, mit dem Opfer-, Kriegs- und Friedensberichterstatter Fritz Orter und mit dem gesundheitspolitischen Arzt Werner Vogt. Werner Vogt war, wie Sie wissen, Freund Friedrich Zawrels und ist Hauptinitiator des Volksbegehrens Sozialstaat Österreich gewesen, Mitbegründer der Kritischen Medizin, erster Wiener Pflegeombudsmann und wurde für, so wortwörtlich, überdurchschnittliche Zivilcourage von der Ärztekammer 2013 mit dem Goldenen Ehrenzeichen ausgezeichnet. Der Teammensch Vogt hat – ohne dass ich heute hier irgendeine auch nur geringste Form von Institutionenverklärung oder Personenkult zu betreiben gedenke, erlaube ich mir, Ihnen, sehr verehrte Damen und Herren, dies jetzt wieder in Erinnerung zu rufen, sofern Sie es nicht präsent haben – Menschen geholfen, die, sehr oft von Kind an, aufgegeben waren, und hat sehr oft tatsächlich Unglück ins Glück zu drehen vermocht. Seine Überlegungen und Erfahrungen sind sehr wohl – meiner Meinung nach – auf jeden helfenden Beruf anwendbar und übertragbar.

Ein paar der Auswege, die Marterbauer, geboren 1965, Orter, geboren 1949, Vogt, geboren 1938, ihr Berufsleben lang zu erarbeiten und zu realisieren versucht haben, werden am heutigen Abend weitererzählt und öffentlich gewogen werden. Fritz Orter hat sich in den Gesprächen der Auswege-Reihe unter anderem gefragt, warum es kein Unterrichtsfach gibt, das Helfen heißt. An Marterbauer habe ich z. B. die Frage gestellt: Bevor es zu spät ist – was jetzt, was tun? Und an Vogt z. B. die Frage: Wie schützt man Menschen und wehrt sich selber?

Es geht sowohl bei Vogt als auch bei Orter als auch bei Marterbauer, meine ich, richtig verstanden zu haben, immer wieder darum, dass der Zweck selber das anzuwendende Mittel ist. Ich weiß nicht, ob Sie, sehr geehrte Damen und Herren, für die folgende Stelle Verwendung haben. Es ist ein Vogtzitat, dem Orter zugestimmt hat. Mit Vorbehalt von Ort und Zeit, aber doch voll und ganz. – Zitat Vogt: Das Ziel ist da tatsächlich der Weg. Auf die Weise erspart man sich und den anderen die zeit- und kraftraubenden Umwege, die zu nichts führen als in die Irre, und die Ausflüchte, die ohnehin danebengehen. Wenn das Ziel der Weg ist, braucht man und darf man nichts aufschieben. Das, was zu tun ist, wird dadurch getan, dass man es tut.

Mit anderen Worten: Der Rechtsstaat wird aufrechterhalten, indem man ihn aufrechterhält, die Demokratie wird dadurch praktiziert, dass man sie praktiziert, gelernt wird dadurch, dass man lernt, geredet miteinander wird dadurch, dass man miteinander redet, geholfen wird dadurch, dass man hilft. Was schadet, wird dadurch unschädlich gemacht, indem man es unschädlich macht. Nicht aufgegeben wird dadurch, dass man nicht aufgibt. Durchgesetzt wird etwas dadurch, dass man es durchsetzt. Gewollt wird dadurch, dass man will. Und so weiter.

*

Um den Alltag geht es heute Abend, um nichts sonst. Als ich mich vorweg ein paar Wochen lang umgehört habe, um die Möglichkeiten des heutigen Abends zu verstehen, bin ich just angesichts des Alltags gefragt worden, ob es in Wahrheit nicht ganz offensichtlich eine Lüge sei, dass unser aller Lebenserwartungen inzwischen derartig hoch sind und künftig noch höher sein werden. Zwar hören, hieß es, die Leute verständlicherweise dankbar und liebend gerne, dass sie selber alt werden und ihre Kinder lang und wohlbehalten leben werden. Und die Leute glauben deshalb auch sofort, dass das jetzige Pensions- und Pensionsantrittssystem völlig falsch aufgestellt sei – aber sind in Wirklichkeit nicht die Unterschiede in der Lebenserwartung je nach Arbeits-, Wohn- und Lebensbedingungen beziehungsweise Schichtzugehörigkeit nach wie vor krass und gewaltig? Außerdem gebe es von der Statistik Austria ein Programm im Internet, das einem ausrechne, wann man sterben werde, man brauche einzig nur sein eigenes Geburtsdatum eingeben und sogleich erscheine einem per Mausklick das eigene Lebensende auf die Kommastelle genau. Wenn man in dieses Programm der Statistik Austria allerdings die Geburtsdaten seiner Kinder eingebe, werde man perplex sein, weil wahrscheinlich feststellen, dass die eigenen Kinder eine kürzere Lebenserwartung haben als man selber. Wie geht das denn alles akkurat mit dem zusammen, was die Gesundheits- und Pensionsökonomen in Permanenz medial reden und in Expertenmanier politisch anraten? – Und wieder jemand anderes wollte auf der Stelle wissen, ob es wirklich wahr sei, dass man als Kassenpatient ein höheres Infektionsrisiko bei Operationen habe als die Klassepatienten, weil die Klassepatienten üblicherweise früher am Morgen operiert werden, in noch frischsauberstem OP. Und ob man als Kassenpatient wirklich Gefahr laufe, eher den schlechteren Heimplatz zu bekommen denn als Klassepatient. Warum der ORF nicht ganz selbstverständlich – beispielsweise ausgehend von den Bemühungen Friedrich Orters um mediatorenartigen, die Konflikte bereits im Entstehen analysieren wollenden und dadurch aufzulösen versuchenden Journalismus –, warum also der ORF nicht ein Friedensprogramm entwickle, sozusagen ein Friedensformat, wurde auch gefragt. Und vor allem, wann die Filmdokumentation fertiggestellt und zu sehen sein werde, von der Orter im Auswege-Buch erzählt. Genannte Dokumentation handelt, soweit ich weiß, davon, wie die Schicksale waren und sind, also was aus den Menschen geworden ist, von denen er in den letzten Jahrzehnten mithilfe seiner Kamerateams berichtet hat, aus 14 Kriegen. Und wo er, ich weiß nicht, ob das in der Dokumentation vorkommen wird, zum Beispiel Zeuge war, als ein Mann in seinem Haus zu verbrennen drohte. Weil Orters Kamerateam filmte, wurde dieser Mann von den örtlichen Einsatzkräften gerettet, sonst hätte man ihn verbrennen lassen. Oder zum Beispiel ein Kind mit weggefetzten Beinen, der Vater hat es in den Armen gehalten; infolge der Anwesenheit des Orterschen Kamerateams und aufgrund des Nachrichtenberichtes wurde der Bub ausgeflogen und behandelt und lebt. Und zum Beispiel hat auch gerade Orters Berichterstattung aus Rumänien während der Revolution, vor allem aus Temeswar – wo er die Arbeit der Unfall- oder vielleicht besser gesagt Kriegschirurgen Poigenfürst und Vogt mit seinen journalistischen Mitteln unterstützte –, dazu beigetragen, dass damals die österreichische Rumänienhilfe weiterhin möglich und tatsächlich hilfreich war und es auch blieb. Und wenn Orter zum Beispiel die beklemmenden Sprüche wiedergibt, die diverse Mordende immer wieder zu ihm gesagt haben: Wir bringen dich nicht um, du gehörst zu uns oder etwa Wir bringen nur die um, die uns umbringen, hätte Orter (nicht bloß meiner Meinung nach, sondern auch der Meinung von mich Fragenden nach) durch diese Beschreibung der beklemmenden Kriegspsychologie Wesentliches zur Herstellung von Frieden beizutragen. Und genauso auch, wenn er unideologisch berichtet, worum es in den selbstverständlich auch medial eskalierenden Konflikten und Kriegen tatsächlich geht, z. B. in der Ukraine um den Korridor, um die Landversorgung der russischen Flottenverbände auf der Krim, also um den einzigen eisfreien Zugang. Und im Kosovo um die größte NATO-Basis in Südosteuropa. Und im nicht mehr existenten Syrien samt expandierendem IS um die noch Jahrzehnte andauern werdende Aufteilung des Landes vor allem zwischen den Iranern und den Saudis.

Um den Alltag geht es heute Abend, wie gesagt, um nichts sonst. Sollte Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, das, was ich für meinen Teil Ihnen bislang zugemutet habe, bereits zu viel geworden sein, insbesondere angesichts des permanenten Ausnahmezustandes, in den wir alle politisch, sozial und ökonomisch gerade eben zu geraten scheinen: Systematisches Auslachen oder auch systematisches innerliches Lachen hilft angeblich auch in solchen Situationen. Hahaha sofort gegen jede Angst, Hihihi, auf dass das Gehirn munter ist, Hehehe für die eigene Immunität und den eigenen Hals, Hohoho gegen Groll, fremden wie vergeblichen eigenen, und Huhuhu fürs Gedärm in jeglicher Hinsicht. HahaHeheHihiHohoHuhu. Der Gewerkschafter Saul Alinsky zum Beispiel hat öffentlich viel gelacht. Hillary Clinton hat über ihn dissertiert. Ihre Abschlussarbeit ist jetzt seit vielen Jahren schon weggesperrt und öffentlich nicht mehr einsehbar. Nicht weil Frau Clinton zur Erlangung ihrer Graduierung geschwindelt hätte, sondern des bösen Blutes in den Wahlkämpfen wegen. Als der trotz allem doch lustige Alinsky (geboren 1909, gestorben 1972) auf Bitten und mit Geldern amerikanischer Kirchen in Oakland in einem Ghetto den Widerstand gegen die Lebensbedingungen zu organisieren sich bereit machte und Oakland betreten wollte, ließen ihn die Stadtväter von Oakland nicht einreisen, sondern schickten ihm ein 17 Meter langes Seil, auf dass er sich am nächsten Baum aufhängen möge. Möglichst hoch und für alle sichtbar solle er das tun. Alinsky schickte der Stadtregierung als Antwort auf diese ihre offene Lynchdrohung eine große Packung Windeln und betrat, den Verfassungsbruch der Stadtregierung symbolisch verspottend, Oakland höchst medienwirksam mit seiner amerikanischen Geburtsurkunde in den Händen. Alinsky galt zu Lebzeiten als einer der radikalsten und zugleich durchsetzungsklügsten Gewerkschafter der USA. Er war studierter Archäologe und Kriminologe. Seine Befürworter bewundern nach wie vor seine Fähigkeit, politisch Machtlose dazu zu bringen, den Spieß umzudrehen und sich erfolgreich zur Gegenmacht zu entwickeln. Allein Alinskys hierzulande – trotz 40 % Nichtwählern – fälschlich vielleicht als banal anmutende öffentliche Ankündigung, man werde die amerikanischen Nichtwähler dazu bringen, ihr demokratisches Recht wahrzunehmen und sich für die Wahlen regelmäßig als Wähler registrieren zu lassen, versetzte die amerikanischen Politiker seiner Zeit in Schrecken und machte sie sehr schnell kooperationsbereit. Geldmacht könne und müsse durch Menschenmacht gebrochen werden, gegen das viele Geld können die vielen Menschen viel ausrichten, und zwar nur sie; das war Alinskys Prinzip. Wie weit Alinskys demokratischer und rechtsstaatlicher Radikalismus von europäischen Gewerkschaftern strategisch aufgearbeitet wurde, entzieht sich völlig meiner Kenntnis. Rund um das Jahr 1968 war Saul Alinsky jedenfalls sowohl in den Protestbewegungen der USA als auch Mittel- und Westeuropas eine der kleinen Ikonen fürs Wesentliche. Sozusagen das damalige linke internationale Pendant zum jetzigen hiesigen Raiffeisen-/Herrn Konrad.

Um den Alltag geht es heute Abend, um nichts sonst. Zum Beispiel um den Alltagsgrundsatz des ebenso maßgebenden wie außenseiterischen Soziologen Norbert Elias (geboren 1897, gestorben 1990, Hauptwerk Über den Prozess der Zivilisation): Wir haben nur eine Aufgabe: Mit Menschen freundlich zu leben.

Triage. Eigentlich heißt das bloß Ausschuss, z. B. beim Kaffee. Aber es sind Menschenleben. Triage: Man hilft in Katastrophensituationen, bei akutem Ressourcenmangel der Helfer denen, die noch am ehesten eine Chance haben. Triage: Zuerst die, die nicht mehr schreien, dann die, die schreien, dann der Rest. Diese Regel gibt es auch. Aber die ist sehr schnell für Arsch und Friedrich. Der Sozialstaat ist dafür da, dass es in Notsituationen nicht dazu kommt, dass den einen geholfen wird und den anderen nicht. Der Sozialstaat ist also das Gegenteil von Triage und Selektion. Die Regel ›Leben gegen Leben‹ muss nicht angewendet werden. Der Sozialstaat ist auch dafür da, dass es zu bestimmten Notsituationen gar nicht erst kommt.

Menschen, egal wen, in Zwangs- und Notsituationen zu erleben, war dem von mir eingangs wegen seiner Aufforderung, akkurat über das zu reden, worüber üblicherweise nicht geredet wird, erwähnten Pierre Bourdieu laut eigenen Angaben unerträglich. Bourdieu (geboren 1930, gestorben 2002) hat den Sozialstaat als Erzeugnis der Evolution erachtet, sozusagen als das Beste, was es bisher unter Menschen gab. Entstanden durchaus aus Zufällen, Glücksfällen, die als solche erkannt, geschätzt, geschützt wurden und zugleich aber das Ergebnis unglaublicher, schrecklicher Kämpfe waren. Daher dürfe der Sozialstaat ja nicht von neuem dem Zufall preisgegeben werden. Ja nicht diesen furchtbaren Preis von neuem zahlen müssen, nämlich das Insgesamt der menschlichen Qual, seit es uns gibt. Kleine soziale Wunder, Kostbarkeiten – Bourdieu nannte die Menschengruppen, die für den Sozialstaat kämpfen, so, die Bewegungen, Hilfseinrichtungen, NGOs, und den Sozialstaat nannte er mitfühlenden Staat.

Bert Brecht hat einmal in etwa gedichtet, wer keinen Ausweg weiß, soll schweigen, auf dass er die allgemeine Verwirrung nicht noch mehr steigere. Vielleicht meinen Sie, sehr verehrte Damen und Herren, ich solle mich insofern augenblicklich an Brecht halten und den Mund halten. Das Blöde bei mir ist freilich, dass ich weiß, dass die Auswege auf Schritt und Tritt zutage treten, und zwar deshalb tun die das, weil wir hier in Österreich im Moment noch in einer sozial- und rechtsstaatlichen Demokratie leben, freilich nur insofern wir sie in Verwendung nehmen und halten.

Auf alle, die von der Macht ausgeschlossen sind und deshalb den Illusionen der Macht nicht erliegen, hoffte Pierre Bourdieu. Auf aufbegehrende autonomie- und verantwortungsbewusste WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen und Jugendliche sowieso sowie zuvorderst auf diejenigen Berufshelferinnen und Berufshelfer, die in Ausübung ihrer Berufspflicht von Rechts wegen sich durch nichts und niemanden von ihren Schutzbefohlenen trennen lassen. In Bourdieus Augen ist freilich das Berufsgeheimnis das vielleicht größte Problem. Denn dadurch ändere sich nie etwas. Für die Ausübenden der helfenden Berufe zum Beispiel. – Zitat Bourdieu: Die Lähmung der Gesellschaft funktioniert über das Berufsgeheimnis. Dass man sich weder ein- noch aussperren lassen darf, sagte er auch, und dass das das Gegenteil von Mittäterschaft sei.

Die Teammenschen Werner Vogt, Fritz Orter, Markus Marterbauer haben sich stets und erfolgreich dagegen zur Wehr gesetzt, zu Mittätern oder Mitwissern zu werden. Gemeinsam mit anderen und mithilfe der Öffentlichkeit und in Ausübung ihrer Berufspflichten haben sie das jeweils zustande gebracht. Marterbauer beispielsweise gehörte zu denen, die Jahre vor der Katastrophe öffentlich vor dem sich abzeichnenden Platzen der Immobilienblase und einer daraus folgenden Weltwirtschaftskrise gewarnt haben. Marterbauer bleibt von Berufs wegen – auch jetzt in der Weltwirtschaftskrise – lieber bei der Wahrheitsfindung. Zu dem, was entbluffenderweise wahr ist, gehört, wenn ich richtig verstanden habe, unter anderem, dass der EU-weit angeblich vorbildliche Rückgang der Arbeitslosigkeit in der BRD statistisch in hohem Maße damit zusammenhängt, dass die Arbeitslosen der BRD sozusagen gerade eben in Pension gegangen sind oder gehen. Zur Wahrheit gehört entbluffenderweise des Weiteren beispielsweise auch, dass eine eventuelle Gefährdung des Industriestandortes Österreich, wenn überhaupt, dann am ehesten davon ihren Ausgang nehmen würde, dass österreichische Unternehmen ihre Exportgewinne nicht in die eigenen Unternehmen, nicht in die Fachkräftenachwuchsausbildung und nicht in die Löhne ihrer Arbeiter und Angestellten investieren, sondern für Dividendenausschüttungen und Börsengeschäfte verwenden. Zur Wahrheit gehört entbluffenderweise ebenfalls, dass in Österreich die Lohnnebenkosten keineswegs wie immer behauptet im Vergleich mit anderen Volkswirtschaften viel zu hoch sind, sondern dass die Lohnnebenkosten in Österreich anders berechnet werden als sonst wo, indem nämlich bei uns das Urlaubs- und Weihnachtsgeld den Lohnnebenkosten zugezählt wird und sich hingegen bei üblich richtiger Berechnung eine Zahl unter dem EU-Durchschnitt ergeben würde. Zur Wahrheit gehört vor allem auch, dass jetzt in der Weltwirtschaftskrise der Sozialstaat tatsächlich Millionen Arbeitsplätze gerettet hat und die Massenarmut verhindert und dass wir uns andererseits bei denen verschulden, die wir retten, nämlich bei den Banken und Finanzmärkten, währenddessen allein schon mit einem Zehntel des für die Banken- und Finanzmarktrettungen aufgewandten Betrages die Jugendarbeitslosigkeit europaweit zumindest halbiert werden könnte.

So kann man die Dinge also auch sehen, sobald man DOLUS und VIS (also List und Willkür, die Gewalt und den Betrug) nicht akzeptiert. Apropos: Werner Vogt hat einmal etwas ins Leben gerufen, das er Aktion unschuldiger Blick nannte. Was auch immer dieser unschuldige Blick sein mag, Fritz Orter, der den Fernsehzuschauern stets von den Opfern berichtet hat, damit den Opfern geholfen wird, und vom Krieg, damit der Krieg aufhört, redet einer öffentlichen korrekten, sorgfältig sorgsamen Berichterstattung das Wort, die es binnen kürzester Zeit nicht mehr geben werde, es sei denn, es gelänge ihr immer wieder, den Lauf der obrigkeitlichen Dinge zu durchbrechen, zum Beispiel mit Fragen. Nur zu also, sehr verehrte Damen und Herren, am heutigen Auswege-Abend, der (unverzichtbar durch Sie) so sein wird, wie er heißt.

Vom Helfen und vom Wohlergehen oder Wie die Politik neu und besser erfunden werden kann, Steirische Gesellschaft für Kulturpolitik, Kultur in Graz und Raisons d’agir Graz – Steiermark

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