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Intervention 13. Oktober 2015

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Wahl und Wien, Schock und Starre hin oder her, wie auch immer – er habe gerade weder Zeit noch Lust zu sterben, sagte Leopold Kohr, als es so weit war.

Seinen Anarchismus definierte er wie folgt: Goethe hat gesagt, man muss als Mensch entweder Hammer oder Amboss sein. Aber es gibt Menschen, und das sind wir Anarchisten, die sind weder Hammer noch Amboss. Wir lassen uns nicht schlagen. Und wir schlagen nicht. Nicht Amboss und nicht Hammer sein, wir schlagen nicht und wir lassen uns nicht schlagen – dafür steht (so einfach ist das) Kohrs Klein ist schön-Anarchistentum. Dass man, wie man so sagt, das Rad der Zeit, die Uhr, nicht zurückdrehen könne und dass Kohrs Welt der Kleinstaaten in jeglicher Hinsicht ein gewaltiger Rückschritt wäre, ließ Kohr (geboren 1904, gestorben 1994) bekanntlich nicht gelten. Er nahm bei derartigen Diskussionen mitunter seine Armbanduhr ab und drehte als Gegenbeweis die Uhrzeiger zurück, stellte somit öffentlich die Zeit jeweils neu ein. Wenn man, sagte er, den Rand des Abgrunds erreicht hat, dann ist das einzige, was Sinn hat, zurückzugehen. Wenn man den Rand des Abgrunds erreicht hat, dann ist das einzige, was Sinn hat, zurückzugehen! Kohr hat sich, wie Sie, verehrte Damen und Herren, vermutlich weit besser als ich wissen, primär um rechtzeitige Prävention und Prophylaxe bemüht, damit man als Durchschnittsmensch und Normalsterblicher von Weltwirtschaft, Weltpolitik, Weltmilitärs und Welteliten erst gar nicht an den Rand des Abgrunds gedrängt werden kann. Die Kohr-Schumacher-Weltformel Immer schön langsam!, also sozusagen Nur kaan Stress! beziehungsweise Klein ist schön!, wollte ausdrücklich große Übel verkleinern und ausdrücklich erreichen, dass die größten und gefährlichsten politischen und ökonomischen Bösewichte der Welt, all die nun allgegenwärtigen Global Players, nur mehr, wie Kohr dazumal sagte, Kleingewichtler zu sein vermögen. Kleingewichtler statt Bösewichte. Das war der Sinn von Small is beautiful. Die Menschheits- und Weltprobleme können laut Kohr durch Größe nun einmal nicht gelöst werden, sondern es werden ganz im Gegenteil die ökonomischen, sozialen, ökologischen, militärischen und politischen Probleme durch Vergrößerung garantiert unlösbar. Kohr hat in diesem Zusammenhang der lawinenartigen Problemvermehrung infolge von Einverleibung der Kleinen durch die Großen auch von inzestuösem Verhalten gesprochen. Und statt als inzestuös hat Kohr besagten Mechanismus des Weiteren auch als Identifikation mit dem Aggressor beschrieben: Die tyrannisierte, abhängig und mutlos gemachte Seele verehre notgedrungen und zwangsläufig alles Starke und arbeite deshalb den sie dafür vielleicht doch verschonenden und belohnenden Großmächtigen zu.

Inzwischen nun, so Kohr dazumal, sei alles dermaßen großaufgeblasen, dass es flugs verkleinert werden müsse, bevor das Ganze, z. B. von NATO und EWG bis UNO, durchexplodiere. Mit dem Wort großaufgeblasen hat Kohr wie bereits erwähnt das Böse ergründet. Tatsächlich lautet im Deutschen die Etymologie, die Grundbedeutung, von böse aufgeblasen. In diesem Sinne auch sagte Kohr, dass große Männer fast immer schlechte Menschen seien. Denn jede Macht korrumpiere. Je mehr Macht jemand wolle oder habe, umso korrupter und korrumpierender sei und werde er. Hingegen brauche man als Mensch in Wahrheit, um das, was wirklich zu tun sei, wirklich tun zu können, keine Macht. Sondern es gelte: Je mehr wir tun, umso mehr können wir. Je mehr wir tun, umso mehr können wir! Das zu verstehen, darum gehe es. Laut Kohr.

Des Weiteren sagte er, dass ihm immer einzig seine Freunde seine Heimat und seine Nationalität gewesen seien. Die Freunde hatte er bekanntlich überall auf der Welt. Er ist freilich oft leicht wo eingeschlafen, war irgendwo auf der Welt eingeladen, bei einer Versammlung, Konferenz; auf einmal eben ist er eingeschlafen, und wenn er wieder einmal aufgewacht ist, hat er nicht gewusst, wo er gerade ist, nicht einmal, auf welchem Kontinent. Ich weiß nicht, geschätzte Damen und Herren, ob ich Sie inzwischen schon zum Einschlafen gebracht habe oder ob Sie kurz davor sind einzuschlafen. Ich würde Ihr Einschlafen am heutigen Abend freilich durchaus als Lob nehmen. Nämlich dafür, dass sie Ihr Leben als behütet und sicher empfinden, als Zeichen also für das Behutsame im Leben, um das es Leopold Kohr gegangen ist. Ums Lebendige und ums Behutsame und Beschützende. Der gute Schlaf war dem im Wachzustand quirlig sprudelnden Leopold Kohr jedenfalls so wichtig, dass er sich selber gern mit einer bekannten, die meiste Zeit dahin schlummernden russischen Romanfigur aus dem 19. Jahrhundert verglichen hat. Sobald er gestorben sei, sagte Kohr zu seinen Freunden auch, solle man ja nicht um ihn trauern und verzweifeln, sondern, ruhigen Sinnes an ihn und das viele von ihm wahrgenommene weiße Licht denkend, freudig in die Natur hinaushüpfen und dort miteinander fröhlich und frohgemut feiern.

Bei Kohr jedenfalls werden Sie, werte Damen und Herren, meines Wissens nirgendwo das Wort Angst geschrieben oder gesprochen finden. Auch nicht das Wort Depression. Schwere Depressionen hatte Kohr allerdings geraume Zeit lang. Und zwar weil er als knapp 30-Jähriger durch seine Arbeit im Goldbergwerk plötzlich nahezu völlig taub war und blieb. Seiner Schwersthörigkeit konnte er im Laufe der Zeit mithilfe seines Hörgerätes freilich einiges abgewinnen, zum Beispiel hörte er statt think tank stink tank und teilte das den Anwesenden auch so mit. Stinktank statt Denktank.

Kohr hat sich selber einen Provokateur und Satiriker genannt und einen Sozialisten. Sein Autonomie-, Autarkie- und Anarchie-Sozialismus reichte jedoch nicht weit, gerade jeweils zirka 20 km. Das mag ein Ärgernis sein. Kohr meinte es auch durchaus so. Als Ärgernis. Wenn er irgendwo in Österreich oder eben sonst wo auf der Welt zwischen einer größeren Stadt und ihren Vororten 20 km spazieren gehe, erlebe er in diesen vier Gehstunden – oder eineinhalb Fahrradstunden wären das umgerechnet –, die für besagte Strecke benötigt werden, unsagbar mehr, als wenn er in einer Concorde von London nach Australien fliege. Auf Robert Owens Sozialismus berief sich der Sozialist Kohr übrigens des Öfteren. Owen, bis zum 14. Lebensjahr infolge von Armut Analphabet, später dann Fabriksleiter und wieder anderswo enthusiastischer Kommunenneumitbegründer, gilt als der Urheber der Genossenschaftsidee und wird dem utopischen englischen Frühsozialismus des 18. und 19. Jahrhunderts zugezählt. Wo jeder jemand ist, sagte Kohr in der ihm eigenen Anarchisten- und Sozialistenmanier, ist niemand irgendeiner. Wo jeder jemand ist, ist niemand irgendeiner. Und Demokratie definierte Kohr strikt als Opposition. Als die Freiheit, gegen die Regierung zu opponieren. Gegen jede jederzeit. Ein demokratischer Bürger dürfe gegen alle und alles opponieren. Um 1968 herum nannte man das Außerparlamentarische Opposition, heutzutage heißt das statt APO bekanntlich – und warum auch immer – eher Zivilgesellschaft. Kohr war kein 1968er. Das tut aber nichts zur Sache. Schweden, zu Kohrs Lebzeiten immerhin der Sozialstaat schlechthin und eine Sozialdemokratie, hat Kohr als vorbildlich angesehen. Ebenso, mit Verlaub, Österreich. Die Europäische Union wie gesagt ganz und gar nicht. Die EU fällt unter folgendes globalisierungsgegnerische Kohr-Zitat aus Die überentwickelten Nationen, erschienen 1962 respektive 1983: Konjunkturschwankungen an sich sind für eine dynamische Wirtschaft ebenso unschädlich wie das Atmen für den Menschen. Was diese Schwankungen problematisch macht, ist nicht ihr Vorkommen, sondern die Größe der Zerreißkraft, die sie entfalten können, wenn die Wirtschaft, die sie erzeugt, über bestimmte Proportionen hinauswächst [...] Größe ist genauso wirtschaftsfremd wie Sonnenflecken. Das Element, das zur Zerstörung des Kapitalismus führt, ist also nicht, wie Marx behauptet, der innere Mechanismus einer freien Marktwirtschaft, sondern die Größe, die aus unproblematischen Erscheinungen schwerwiegende Probleme macht. Neoliberale Deregulierung der globalen Finanzmärkte sagt man heutzutage in etwa dazu. Die Dosis macht das Gift, hat Kohr dazumal dazu gesagt und mithilfe seines Small is beautiful beständig einer Schaden rechtzeitig verhindernden Fehlerkultur das Wort zu reden versucht. Über Neoliberale wie Milton Friedman, den er persönlich kennen gelernt hatte, soll er gesagt haben: Die Stärke dieser Leute liegt in der Engstirnigkeit ihrer Deppertheit. Die Stärke dieser Leute liegt in der Engstirnigkeit ihrer Deppertheit!

Das Staatswappen der anno dazumal unter anderem auch mit Kohrs Hilfe aufmüpfigen Karibikinsel Anguilla stammt, wie Sie wissen, just von Kohr: drei miteinander im Kreis spielende Delphine, lebhaft wie fliegende Fische. Kohrs Freund Ivan Illich hatte – nebstbei bemerkt – ein Faible für fliegende Fische. Und zwar als Symbol für den nicht tot zu kriegenden Herrn Jesus aus Nazareth. Für Kohr auch so ein Symbol fürs angeblich Unwichtige und Winzige, das aber sehr wohl Gutes und Wichtiges bringe. Kohr sagte von sich, dass er nicht viel bis gar nichts glaube, aber gerne viel bete. Von den Bahai hielt er viel, weil sie ihm viel geholfen hatten, als er ein Flüchtling war. Und er tendierte zum Pazifismus, Präventivkriege waren ihm ein Gräuel. Präventivkriege seien so absurd, als würde jemand einen anderen quicklebendigen Menschen unter dem Vorwand töten, ihm die Last des Sterbens abzunehmen, das denjenigen ja irgendwann einmal schließlich und endlich ohnehin ereilen werde.

Unionen, Großstaaten und Großmächte jedenfalls waren in Kohrs Augen zwangsläufig undemokratisch. Er war davon überzeugt, dass es in der Welt der Großmächte keinen wirklichen Frieden und keine solide Weltordnung geben könne. Großmächte, egal ob aus Ost oder West, Nord oder Süd oder zentral mitten drinnen, waren für Kohr wie gesagt Bösewichte und dem Untergang geweiht. Bis vor kurzem, etwa bis zum Ausbruch der jetzigen Weltwirtschaftskrise samt dazugehörigen Stellvertreterweltkriegen und wahlentscheidenden Flüchtlingsmenschenmassen inmitten von Europa, wollte so etwas kaum jemand hören. Geschweige denn laut denken und öffentlich argumentieren. Was aber nichts zur Sache tut: Kohr ist beautiful. Kohrs Freund Robert Jungk, ebenso beautiful, war allerdings davon überzeugt, dass Kohrs Small is beautiful in der Realität keineswegs immer zutreffe und Kleinheit oft bloß wie ein Gefängnis sei, ein von Alten gebautes, in dem die Jungen einsitzen müssen und nicht fortkönnen. Kohr war nicht zu überzeugen. Freilich habe er, sagte Kohr von sich, zumeist nicht 100%ig, sondern nur zu 85 % recht. Das reiche vollauf. Mit selbiger Wortmeldung, scheint mir, hat Kohr sich freilich selber nicht ans Small is beautiful gehalten, denn ansonsten hätte er ja gesagt, dass ihm nicht 85 %, sondern schon bloß 15 % Rechthaben reichen. Reichten ihm aber nicht.

Kohr redete gern davon, dass der Ursprung und das Urbild des guten Staates, sozusagen der Sinn und Zweck, eigentlich das Wirtshaus sei. Die Herberge. Die Geselligkeit. Sein gesamtes Lebenswerk, all seine Arbeiten handeln, sagte er, immer nur vom Wirtshaus. Er sei in seinem Leben nie über Wirtshaus, Café und Gaststätte hinausgekommen. Einen Staatsroman soll Kohr übrigens auch schreiben haben wollen. Der Titel wäre der Name eines realexistierenden Slums gewesen. Kohr sagte, dass Slums in Wahrheit schön sein könnten, schön sogar wie dazumal Amalfi, Venedig oder Assisi. Wenn man sie nur tun ließe und ihnen Zeit gäbe. Die Isolation und zugleich der Mangel an Autarkie und Autonomie seien das Problem der Slums und der Slumbewohner. Und dass es nun einmal ganz einfach nicht wahr sei, dass die Reichen den Armen helfen, sondern ganz im Gegenteil haben die Armen für die Reichen dazusein und haben die Armen den Reichen zu helfen. So schaue die Realität aus. Die Armen seien um der Reichen willen da. Mehr sei Entwicklungshilfe nicht als Hilfe der Reichen für die Reichen. Um hingegen wirklich zu helfen, dass Menschen aus dem Elend herauskommen, müssten die die lebenswichtigen Entscheidungen treffenden Politiker selber in Dreck und Elend gelebt und es überlebt haben. Nur solche Politiker können helfen, meinte er. Nur solche Politiker verstehen, was los ist, und wissen sich zu erkundigen, was wirklich gebraucht wird.

*

Ich mache es mir und Ihnen jetzt zwischendurch einmal leicht, sehr verehrte Damen und Herren: Ich behaupte einfach, der Anarchist, Sozialist und Demokrat Kohr hat sich aus seinem Grab heraus an ÖVP und SPÖ immer wieder gerächt. An der SPÖ dafür, dass sie ihn beständig ignoriert hat. An der ÖVP dafür, dass sie ihn missbräuchlich vereinnahmt hat. An der ÖVP hat Kohr sich dann aber eben 2011 aus dem Grab heraus dadurch gerächt, dass er den Wissenschaftsminister und EU-Kommissar Gio Hahn, welcher über Kohr seine Doktorarbeit geschrieben hat, in den massiven Verdacht geraten ließ, unlauter abgeschrieben und sich auf diese Weise den Doktortitel ergaunert zu haben. Und an der SPÖ hat Kohr sich 2006 aus dem Grab heraus gerächt, indem er die BAWAG und den ÖGB ihr Geld gerade auf derjenigen Karibikinsel verspekulieren hat lassen, die Kohr ein Herzensanliegen gewesen war, nämlich Anguilla.

Und mit dem Dokumentar-Film, den wir heute Abend gesehen haben, mache ich es mir auch einfach, indem ich einfach behaupte, der steirische Regisseur und Produzent Alfred Ninaus mache aus Kohr eine Art zweiten Erzherzog Johann und habe im jetzt soeben gesehenen Kohrfilm aus dem Jahr 2011 genauso wie bei seinem tatsächlichen Erzherzog-Johann-Film aus dem Jahr 2009 vieles Wichtiges weggelassen, gleichsam weil als ob es nicht ins öffentlichkeitswirksame Tourismuskonzept passe: im Falle des steirischen Erzherzogs das ohnehin gern verschwiegene Faktum, dass dieser im Auftrag des Kaisers in der 1848-Revolution als Reichsverweser das Vertrauen der Demokraten in ihn bedenkenlos missbraucht und sämtliche Abmachungen mit ihnen gebrochen und die Bürgerkriege dadurch zum Eskalieren gebracht hat. Der Kunstschaffende Alfred Ninaus jedenfalls lässt in seinen Kunst-beziehungsweise Dokumentarwerken, sei es aus Gründen der Kunst, sei es aus Gründen der Tourismuswerbung, vieles weg, beim Erzherzog wie auch bei Kohr. Das eben, was nicht passt.

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Mit Kohr habe ich persönlich mich zum ersten Mal beschäftigt infolge der Nationalratswahl 1999 sowie infolge des Schüssel-Haider-Paktes, der die ÖVP zur Kanzlerpartei machte und dem Neoliberalismus in Österreich Tür und Tor weit öffnete.

2002, nach vieljähriger Vorbereitungsarbeit unter anderem seitens des Arztes Werner Vogt, des Ökonomen Stephan Schulmeister und der Frauenrechtlerin Ministerin außer Dienst Johanna Dohnal, kam es allen vorangegangenen jahrelangen Widerständen sämtlicher Parteien zum Trotze zum Volksbegehren Sozialstaat Österreich.

In einer Informationsveranstaltung dazu hat damals ein aus Fairnessgründen eingeladener ÖVPler namens Lopatka (das ist bekanntlich derjenige Steirer, der sämtliche Schüsselwahlkämpfe gemanagt hat und zurzeit gewissermaßen von und bei Frank Stronach Nationalratsabgeordnete für den ÖVP-Klub, wie man so sagt, einkauft und damit sukzessive einen fliegenden wahllosen Wechsel zu einer ÖVP-FPÖ-Regierung ermöglicht) – besagter Lopatka sagte im Winter 2001/2002 in einer Diskussion in Graz-Mariatrost: In Österreich habe noch kein Volksbegehren jemals etwas bewirkt, das Sozialstaatsvolksbegehren sei also ein sinnloses Unterfangen. Die angestrebte Sozialstaatsklausel in der Verfassung sei ohnehin bloß eine Leerformel und Worthülse, die in der Realität unanwendbar, nutzlos und totes Recht wäre. Denn auch bei uns hier in Österreich werde die Politik von den USA aus bestimmt. Wirklich wahr, Lopatka redete so. Wie auch später immer ungestraft.

In einer bald darauf folgenden Bewerbungsveranstaltung für das Sozialstaatsvolksbegehren habe ich daher, die demoralisieren wollenden Worte des schwarzen Reinhold Lopatka über die Nutzlosigkeit von Sozialstaatsverträglichkeitsprüfungen in meinen Ohren, dem Publikum, zirka 150 bis 200 Leuten in einem Jazzlokal in der Grazer Innenstadt, von Leopold Kohr erzählt. Man hatte, quer durch die anwesenden Parteien und Alternativgruppierungen, von Kohr nichts mehr gewusst oder nie etwas gehört gehabt von Kohr und war sodann aber angetan von ihm. Dies auch deshalb, weil der europaweit zum Gegenfeuer gegen den weltweiten Neoliberalismus aufrufende weltbekannte Soziologe Pierre Bourdieu durchaus kohrartig von Gärtnerphantasie geschrieben hat und ebenfalls durchaus kohrhartig davon, dass die Politiker damit aufhören müssten, in der Logik der Global-Regel und des Global-Reglements zu denken, sonst läuft die beste Absicht der Welt Gefahr, den verfolgten Zielen strikt entgegengesetzte Resultate zu zeitigen. All das würde viel Klugheit, Bescheidenheit, Realitätskenntnis, Aufmerksamkeit für die kleinen Dinge und für die kleinen Leute voraussetzen. Eine wahre Revolution wäre das! Eine wahre Revolution wäre das!

Protect the local globally, Schützt überall auf der Welt das Lokale, so, mit dieser Losung der Lebensdemokratiebewegung und mittels Pierre Bourdieu wurde Kohrs Small is beautiful damals an besagtem Abend im Jazzlokal vom Publikum und von meiner tatsächlichen Wenigkeit übersetzt – sozusagen ins Volksbegehren Sozialstaat Österreich.

***

Ich bin von den geschätzten Gastgebern des heutigen Abends, wenn ich richtig verstanden habe, auch dazu angehalten, hier in unsrer aller ruhigen Herberge sehr wohl auch Kritisches zu Leopold Kohr von mir zu geben, damit es in der Diskussion lebhaft zu- und rundgeht. Nun:

Kohr sagte von sich, er habe immer versucht, niemanden zu verletzen. Die Folge davon sei gewesen, dass man ihm zugehört habe. Niemanden verletzen zu wollen, damit man überhaupt miteinander reden kann, erklärt vielleicht viele der scheinbaren oder tatsächlichen Widersprüche bei Kohr, der aber offensichtlich wirklich versucht hat, persönliche Freundschaften trotz ideologischer Feindschaft zu knüpfen, zu pflegen und aufrechtzuerhalten. Freilich hat Kohrs permanente Konzilianz und haben seine vielen verschiedensten Freundschaften dem Fluchtmenschen Kohr in der Emigration gewiss und verständlicherweise beim Überleben und Weiterkommen geholfen. Freundschaft war wie gesagt sein Lebens- und Überlebensprinzip.

Was jedoch an Kohr vielleicht als Widersprüchlichkeit tatsächlich irritiert, ist zum Beispiel, dass er von sich sagte, er sei ein Pessimist, zu nichts fähig, nur ein Redner und Schwätzer und alles andere als ein Praktiker und dass die Dinge, auch die, die er vorschlage, aufgrund der Beschaffenheit der Welt und der Menschen nicht gut ausgehen werden. Das wie gesagt irritiert vermutlich. Allerdings kann man es, will mir scheinen, als Provokation und Ironie auffassen. So wie Kohr eben als Ganzen als Provokateur und Ironiker. Ironie bedeutet bekanntlich, dass man das Gegenteil von dem sagt, was man meint. Und eine Provokation kann darin bestehen, dass man das Gegenteil von dem bezweckt, was man sagt.

Was meines Erachtens aber dennoch wehtut an Leopold Kohr, sind Wortmeldungen wie in etwa, dass nichts im Leben wirklich tragisch sei und dass er ja selber schlimmste Armut und schindendeste Arbeit erlebt habe, dabei aber glücklich gewesen sei und geborgen. Solche Kohrschen Sichtweisen vom menschlichen Leben und Leiden wollen, scheint es, nichts davon wissen, was Menschen täglich an Elend und Qual aushalten müssen und wie ihnen die Existenz zerstört wird. Für Kohr selber war freilich wie gesagt sein Lachen seine Überlebenshilfe. Ich persönlich weiß aber nun einmal nicht, ob dieses Kohrsche Lachen mitunter auch grausam und dumm gewesen ist. Ich weiß das einfach nicht. Es steht nicht in Kohrs Büchern.

Um zu helfen, dass Menschen aus dem Elend herauskommen, müssten die die Entscheidungen treffenden Politiker selber in Dreck und Elend gelebt und es überlebt haben. Nur solche Politiker können wirklich helfen, meinte er, wie gesagt. Kohr selber jedenfalls hat immer wieder viel Hilfe erfahren in seinem Leben. Von kleinen, armen Leuten, einer Bäckerfamilie zum Beispiel, und aber auch von vielen Leuten mit großen Namen und viel Geld. Er hat viel Glück gehabt. Otto Habsburg zum Beispiel hat ihm viel geholfen. Habsburg war seines Zeichens aber gewiss kein Politiker, der aus dem Elend und Dreck gekommen ist. Und Kohr konnte, trotz Small ist beautiful, gerade auch dem Ländergebilde der Donaumonarchie viel abgewinnen. Auch ist Kohr Bundespräsident Kurt Waldheim durch dick und dünn beigestanden, möglicherweise aufgrund einer alten Freundschaft Kohrs mit einem ehemaligen österreichischen Außenminister und Freund Waldheims. Und Kohr hat auch einmal absurderweise, aus welchen österreichfreundlichen Gründen auch immer, geäußert, dass in Österreich der Antifaschismus der Widerstandsgruppen über kurz oder lang selber und allein mit Hitler fertiggeworden wäre. Und Kohr hat den völkerrechtlichen Begriff des Genozids juristisch nicht zu verstehen vermocht. Und Kohr hatte als junger Mensch freundschaftliche Verbindungen zur Familie des SA-Führers Röhm. Das alles mag mehr oder weniger Zufall sein und nicht viel zu bedeuten haben, es stößt linke Linke aber sicherlich ab. Wirkt auf linke Linke zumindest erschreckend und unheimlich und vielleicht gar als entlarvend. Andererseits hat gerade Kreisky (heutzutage sicherlich für die meisten heutigen Linken ein linker Linker) zum Zwecke seiner Regierungsübernahme und hat sowieso die SPÖ von Kriegsende an Nazieliten ganz selbstverständlich in die Partei aufgenommen und Ex- beziehungsweise Immer-noch-Nazis in staatliche, ökonomische und gesellschaftliche Machtpositionen gehievt beziehungsweise dort gehalten und dementsprechende rotbraune Eiertänze aufgeführt.

Und auch wenn man meint, dass der Sozialstaat, den wir in hohem Maße heute nach wie vor Kreisky verdanken, etwas völlig anderes sei als das, was Kohr im Sinne hatte, so ist auch dies sicherlich keine ausgemachte Sache. Denn Kohr ist nicht mehr befragbar. Es könnte also sehr leicht sein, dass ausdrücklich der Kreiskysche, autonome, autarke Sozialstaat des neutralen Österreich von Kohr gerade heutzutage als vorbildliches Beispiel für Small is beautiful genannt würde.

Sei dem, wie es sei: Von Kohr weiß man nur, was aus dem Nachlass veröffentlicht wird. Mich wundert beispielsweise, dass es bislang keine veröffentlichten Tagebücher gibt und keine veröffentlichten Briefe. Die beiden Biographien zu Kohr, verfasst von jemandem mit vielen Berufen, unter anderem dem eines Behindertenlehrers, sind zweifellos für jeden Lesenden, jede Lesende interessant und inspirierend, die neuen Übersetzungen der Kohrschriften sind das ebenso. Aber trotzdem: War das seit 1994 schon alles aus dem Nachlass? Kommt da seit 1994 nichts Neues dazu aus dem Nachlass? Der mehr als lobenswerte Kohr-Biograph schafft zwar seit 20 Jahren Ausblicke noch und noch. Und alles, was es an großen Alternativnamen gibt, steht in den beiden Biographien.

Überallhin gibt es seitens Kohrs und seines umtriebigen Biographen Verbindungen oder könnten Kohrs Ideen sinnvoll Verwendung finden. Wahrscheinlich ist es aber kein Zufall, dass eines der wichtigsten Interviews mit Kohr von Günther Nenning geführt wurde, der ein Faible für Erzherzog Johann hatte und von sich selber sagte, er sei ein Rotgrünhalbschwarzer. Das wird nun einmal auch auf Kohr zutreffen. Ein Rotgrünschwarzer. Ob einem das gefällt oder nicht. Wogegen Kohr sicherlich gut war, sind, wie gesagt, Feindschaften, und wofür er gut war, sind Freundschaften. Dass man jedoch gar das Wort Solidarität auch nur ein einziges Mal beim publizierten Kohr findet, bezweifle ich.

Aber man kann Kohr trotz all dem als Maßstab nehmen. Und dieser Maßstab Kohr misst, dass sich die ÖVP spätestens ab 1999, aber wohl auch schon seit 1994/95, in Wirklichkeit niemals an Kohr gehalten hat. Denn sonst wären wir in Österreich nicht in einer solchen Situation wie jetzt. Die ÖVP hat sich übrigens in den letzten 15, 20 Jahren auch nie an den von ihr propagierten Österreicher Karl Popper und dessen offene Gesellschaft gehalten. Denn dann hätte der Neoliberalismus in Österreich keine Chance gehabt, und zwar obwohl Popper bekanntlich kein Linker war. Weder die deklarierten Kohr-Anhänger noch die deklarierten Popperianer haben in den letzten 15, 20 Jahren in Österreich etwas Nennenswertes gegen den Neoliberalismus unternommen. Für die Popperianer gilt das auch weltweit. Zwar auch hat der angeblich finanzgeniale Wohltäter und Stifter George Soros sich stets weltweit auf Popper berufen, aber gehalten hat er sich nicht an Popper. Sondern Soros hat gegen alle wirklichen Regulierungen der Finanzmärkte gerade dann Stellung genommen, wenn es wirklich darauf ankam. Gegen die Börsentransaktionssteuer war Soros z. B. Und der Hedgefondsbetreiber Soros war vor allem stets gegen alles, was Hedgefonds in ihrer Macht eingeschränkt hätte. Schwarz jedenfalls beruft sich seit jeher auf Kohr und vor allem auf Popper, Schwarz hat sich aber nie an die beiden gehalten. Mit anderen Worten: Schwarz hat mittels Popper und Kohr betrogen. Mit zweien also, die selber gewiss keine Betrüger waren.

Leopold Kohr hatte in der Schule mit Griechisch die größten Schwierigkeiten und man empfahl von Schulseite daher seinem Vater, einem Arzt, Kohr doch besser Schlosser lernen zu lassen. Später dann freilich war für Kohr Griechenland, waren insbesondere die kleinen griechischen Stadtstaaten mit ihren kleinen Philosophen, waren also sozusagen die Devianzler die unversiegbare Schatzquelle, aus der er beständig seine historisch-anekdotischen Beispiele für Autonomie und Autarkie, also für Unabhängigkeit und Selbstversorgung, schöpfte. Ob Kohrs Überlegungen fürs heutige Griechenland eine Hilfe sein könnten oder etwa gar für die spanischen Podemos-Leute, scheint mir persönlich aber mehr als fraglich, obwohl Kohr seinen Anarchismus ja angeblich bei den spanischen Anarchisten gelernt hat. Wenn ich – Schmäh ohne – beispielsweise ein Augustin-Exemplar durchblättere oder Robert Sommers jüngstes Büchl Wie der Rand am Rand bleibt oder die mehr als ein Vierteljahrhundert alte Aktionsradius-Augarten-Büchlbroschüre Vom Grund. Stadtteilarbeit im Wiener Augartenviertel, lerne ich persönlich mehr daraus, als wenn ich in Kohrs Büchern vertieft lese. Zugleich aber gehe ich jede Wette darauf ein, dass genau das im Sinne Kohrs ist. Die Sache ist meiner Meinung überhaupt ganz einfach: Kohr war fürs Leben und Leben-Lassen und gegen alles Aufgeblasene. Man sollte ihn selber also auch nicht aufblasen. Seine Grunderkenntnis ist wertvoll genug.

Dass sie sowohl rechts als auch links und alternativ verwendet wurde, in Österreich weit mehr rechts als links, sollte nicht vergessen machen, wohin Kohr eigentlich gehört, nämlich nach Cuernavaca. In die mexikanische Stadt des, wie man sagt, ewigen Frühlings, die indianisch übersetzt Bei den Bäumen heißt und in der Ivan Illich und zum Beispiel auch Paulo Freire und vor allem auch Erich Fromm gelebt und gewirkt haben. Zusammen. Kohr war meines Wissens zwar nie selber dort und in den Büchern von Kohr und über Kohr kommen Cuernavaca und vor allem der linke Sozialpsychologe Erich Fromm mit seiner ständigen individualmenschlichen Grundentscheidung zwischen der Liebe zum Leben und der Liebe zum Tod zwar nie vor. Aber das heißt vielleicht bloß, dass das wirklich Sozialpsychologische und das wirklich Linke und das wirklich Brauchbare und das wirklich Befreiende des Leopold Kohr bislang noch immer unerforscht sind.

Für demonstrierende Studenten allerdings scheint Kohr nicht viel übrig gehabt zu haben, die sollten, meinte er in etwa, stattdessen studieren und etwas arbeiten. Ich weiß nicht, ob er das ernst gemeint hat. Jedenfalls hat er andererseits auch geäußert, dass man Unizugänge nicht sperren, sondern für die vielen Studierenden viele neue kleine Unis bauen solle. Und zu den Studierenden hat er gesagt, sie sollen sich nicht für Machtpositionen interessieren, weil die Macht eben nichts wert sei und dumm mache.

Was vom bereits erwähnten Staatsroman Kohrs im Nachlass vorhanden ist, darüber schweigen wie gesagt offensichtlich die Nachlassverwalter. Und so inspirierend wie gesagt die Übersetzungen und Biographien zu Kohr auch sein mögen, mitunter stimmt was nicht. Zum Beispiel wenn Kohr Gutmensch gesagt haben soll. Hat er sicher nicht. Darauf wette ich. Als das Wort aufkam, war er selber nämlich schon ein paar Jahre tot und war sein aus dem Englischen jetzt seit wenigen Jahren neu übersetztes Schriftstück, in dem er das Wort Gutmenschen verwendet haben soll, im Original schon Jahrzehnte alt. Und auch dass Kohr die ideale Größe von Staaten mit maximal 8 Millionen Einwohnern beziffert haben soll, wie sein Biograph einmal schreibt, stimmt so nicht: die maximale Kohrzahl lautet in Wahrheit vielmehr 15 Millionen. Österreich ist daher wie gesagt ein Kohrscher Ideal- und Optimalstaat. Den Möglichkeiten nach. Nach wie vor. Obwohl die von Kohr dazumal als vorbildlich genannten, Österreich ähnlichen, Kleinstaaten wie die Schweiz, Liechtenstein oder Luxemburg inzwischen vor Wirtschaftskriminalität strotzen und gleichsam als zentraleuropäische Karibikinseln des Finanzverbrechertums gelten.

Ausgerechnet beim die von Kohr bewunderte Schweiz nicht ertragenden Schweizer Managerkritiker und Whistleblower Hans Pestalozzi übrigens kann man viel von dem realisiert finden, was Kohr und Fritz Schumacher gesagt, gemeint, gewollt und probiert haben. Und zwar gründlicher als Kohr und Schumacher ist Hans Pestalozzi die Sache angegangen. Und hat auch ins Gras gebissen dabei. Das österreichische Sozialstaatsvolksbegehren des Jahres 2002 tat das auch. Trotz 717.000 Unterschriften. Und zwar musste es deshalb ins Gras beißen, weil es im Parlament nicht behandelt wurde. Und zwar deshalb wurde es nicht parlamentarisch behandelt, weil infolge von Haiders Knittelfelder Putsch die österreichische Regierung und das Parlament aufgelöst und Neuwahlen ausgeschrieben wurden. Und vor allem auch deshalb nicht, weil der rote damalige Nationalratspräsident, das jetzige Staatsoberhaupt, ein Verfassungsjurist, darauf vergaß oder es unterließ, einen Beharrungsbeschluss zu fassen. Daher nützte das sehr wohl erfolgreiche Sozialstaatsvolksbegehren – ganz genau so, wie der schwarze Lopatka in Graz-Mariatrost vorausgesagt hatte – nicht viel.

Da das erfolgreich erfolgte außerparlamentarische Sozialstaatsvolksbegehren unter anderem durch vorzeitige Parlamentsauflösung und per Formalfehler des Parlamentspräsidenten sozusagen torpediert und sabotiert wurde, sollte man es mithilfe einer neuerlichen Sozialstaatsvolksbegehrensbewegung samt amtlicher Unterschriftsleistung wiederholen. Das wäre garantiert im Sinne Leopold Kohrs.

Leopold Kohr – Small is beautiful, Aktionsradius Wien

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