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ОглавлениеJosie hatte ihre wissenschaftlichen Bestrebungen für heute ad acta gelegt und sich selbst aufs Sofa gebettet, die Füße unter ein warmes Kissen gesteckt und hielt die Fernbedienung in der Hand. Vorabendserien und Pseudoinfos: böse Adelige befehdeten sich – ein dicker Mann sah zu, wie ein eine-Million-Kalorien-Burger produziert wurde – zwei kernige Kerle retteten ein hübsches Mädchen aus Bergnot – zwei Polizisten hielten Trucker auf, die mit abgefahrenen Reifen unterwegs waren… Sie zappte ärgerlich durch die Kanäle und blieb bei einer kitschigen Biographie von Queen Victoria hängen. Nach zehn Minuten hatte sie schon drei schwere historische Fehler gefunden und war regelrecht froh, als ihr Handy klingelte.
„Mensch, Josie, weißt du was? Sie haben Kai tot aufgefunden!“
„Was?“ Sie setzte sich abrupt auf. „Chris, bist du das? Kai? Der Kai, der mit all diesem Geld verschwunden ist? Tot? Ehrlich? Wie ist das passiert?“
„Keine Ahnung. Ich habe ihn vermisst gemeldet, so wie du es mir geraten hattest, und gerade eben hat mich eine Frau von der Kripo angerufen und mich nach Einzelheiten über Kai gefragt. Aber, wenn ich darüber nachdenke… ich weiß gar nicht, ob der, den sie gefunden haben, wirklich Kai ist. Aber sie hat nach besonderen Kennzeichen gefragt, und Kai hatte tatsächlich welche.“
„Hast du ihn denn so gut gekannt? Ich meine, irgendwelche Narben und sowas kennt man ja nicht von jedem.“
Chris lachte. „Kai hatte ein blaues und ein braunes Auge, das war nicht zu übersehen. Und ein nervöses Augenzucken.“ Er verstummte kurz. „Aber das sieht man jetzt ja wohl nicht mehr“, fuhr er dann fort. „Wahnsinn – das macht es erst so richtig deutlich. Tot… schaurige Vorstellung…“
„Ich glaube, das kapiert man nie sofort“, versuchte Josie ihn zu trösten. „Sollst du ihn identifizieren?“
„Gesagt hat die Frau nichts davon. Aber wahrscheinlich kommt sie gleich bei mir vorbei, dann wird sie mir ja wohl ein Foto zeigen. Scheußlich. Ob ihm jemand das Geld klauen wollte?“
„Wollte ist gut. Das Geld ist doch wohl weg, oder? Sonst hätte die Frau doch was davon gesagt, meinst du nicht?“
„Ja doch. Josie, du nervst. Ich hab doch nur gemeint, vielleicht war das das Motiv! Das Geld, meine ich.“
„Gut vorstellbar. Es sei denn, dieser Kai hat noch andere Leute reingelegt und einer wollte sich rächen. Wie gut hast du ihn eigentlich gekannt?“
„Naja“, musste Chris zugeben. „halt von der Uni, und dann haben wir uns ein paarmal unterhalten und dann das Konzept entwickelt, und Kais wusste eben, wer die technische Seite übernehmen konnte.“
„Was hat er denn dann genau gemacht?“
„Na, die Storyline. Worum es geht, welche Hindernisse, Gefahren, Feinde, Hilfsmittel, Schätze und so weiter es geben soll und wie man sie sich verdienen kann. So was eben.“
„Okay. Also Erfinder, Techniker, Geldgeber… kennst du den Techniker überhaupt?“
„Der heißt irgendwas mit J... Ach ja, und er wohnt irgendwo in der Bahnhofsstraße.“
„Du bist wie immer ausgezeichnet informiert“, spottete Josie. Sie könnte förmlich hören, wie Chris einschnappte.
„Du, es klingelt, ich muss aufmachen, das ist sicher die Frau von der Polizei“, redete er sich heraus.
Josie lehnte sich zurück und überlegte. Hatte Chris einfach Pech gehabt oder war er tatsächlich ein kleines bisschen dämlich? Wie konnte man solche Summen Leuten anvertrauen, die man kaum kannte? In bar?
Er hatte schließlich kaum so viel Geld, dass er eine knappe halbe Million nicht vermisste – sonst hätte sich Vater nicht so aufgeregt. Aber hätte der sich die Mäuse vielleicht leihen wollen, um eine Durststrecke zu überbrücken?
Nach dem, was über Collnhausens bekannt war, war eine halbe Million für die eigentlich wirklich peanuts. Also war die Theorie von der Durststrecke Quatsch - außer, wenn der Vater wirklich auch klamm war, und danach sah es wohl aus.
Geschäftsmann war Chris keiner, das stand mal fest. Aber zum Henker, er war doch Betriebswirt – was konnte er denn sonst? War er Künstler, Techniker oder generell für nichts begabt?
Eigentlich schade, er war sonst ein netter Kerl. Andererseits konnte er ja auch nach seiner Mutter schlagen und die kam ihr schon leicht beschränkt vor. Arrogant und nix dahinter.
Ihr Problem war das eigentlich nicht – auch wenn so ein Mord schon bitter war. Man dachte ja immer, so etwas sei auf das Fernsehen beschränkt… Sie richtete ihre Fernbedienung wieder auf den Bildschirm und fand tatsächlich einen Krimi.
Der kam ihr zwar nach wenigen Minuten teuflisch bekannt vor, aber egal. Als Hintergrundgeräusch taugte er allemal.
Nach einiger Zeit begann sie der Film aber doch zu langweilen, und ihr fiel ein, dass sie doch nach Interessenten an einem Abitreffen gesucht hatte. Hatte möglicherweise jemand reagiert?
Tatsächlich! Aber Heide Lindenthal – die oberbrave? Na gut, jetzt hatte sie das angefangen, jetzt machte sie auch weiter. Sie klickte Heide an, berichtete brav, was sie „jetzt so machte“ und stellte sogar ein betont unpeinliches Foto ein. Außerdem konnte sie auf dem Kursfoto, auf dem alle ein Reclambändchen hochhielten, zwei Leute identifizieren, die bis jetzt noch namenlos waren. Damit hatte sie doch eigentlich genügend good will – sozusagen als Eintritt – gezeigt?
Heide antwortete postwendend. Hatte die nichts zu tun oder wollte sie sich auch vor Wichtigerem drücken?
Aha, Heide arbeitete in einem historischen Verlag (allerdings keinem, bei dem Josie schon etwas publiziert hatte), war ledig, wie sie betonte, und hatte zu vielen Ehemaligen losen Kontakt gehalten. Offenbar war sie auch gerne bereit, Klatsch und Tratsch weiterzuverbreiten.
Josie las sich alles begierig durch: Was für ein unterirdischer Jahrgang!
Tina Weltig hatte sich als Model versucht, es aber bestenfalls in die bescheideneren Promiklatschmagazine geschafft. Auf Lokalsendern. Heide zufolge trank sie zuviel.
Und Torben, der ja immer ganz groß rauskommen wollte, hatte die kleine Tina kurz nach dem Abitur schon wieder abgehängt und ziemlich schnell geheiratet – die Erbin von Rasmus&Co. Keine schlechte Partie… War die Erbin so verliebt oder so doof? Torben war doch charakterlich der totale Blender! Ganz smart, ganz hübsch, aber irgendwie unsympathisch. Und schon wieder geschieden… hatte Annika Rasmus ihn also rasch durchschaut? Torben war angeblich Vermögensberater, das hatte Chris auch schon gesagt.
Flo war nach dem, was Heide wusste (oder gehört zu haben behauptete) schon mehrmals knapp am Knast vorbei geschrammt – wegen betrunkenen Randalierens, Körperverletzung, Beleidigung, sexueller Nötigung und ähnlichem. In den besseren Lokalen Leisenbergs hatte er zum großen Teil Hausverbot.
„Muttu eben nach München ins P1 fahren. Und wenn du dich auf dem Weg um einen Baum wickelst, weint hier auch niemand“, murmelte Josie und scrollte weiter.
Ach, die Franzi Stollbeck! Die war echt nett – gewesen? Und hatte die damals nicht was mit Chris gehabt? Verdammt lang her. Und jetzt – ach ja. Begeisterte Mutter. Zugegebenermaßen drei sehr niedliche Kinder und ein ziemlich niedlicher Kindsvater, der Josie vage bekannt vorkam. Irgendeiner aus dem Jahrgang… aber Mitterlehner sagte ihr eigentlich nichts.
Franzi hatte Gartenbau studiert, sich dabei verliebt, sofort das erste Kind produziert, dann geheiratet… und jetzt war sie in jeder Elterninitiative zugange, denn „Kinder sind unsere Zukunft“.
Oh, Max. Der feine, harmlose, etwas beschränkte Max. Hatte Brauereiwesen studiert (mit dem schlechten Notenschnitt? War das Fach nicht gefragter?) und dann in einer mittelständischen Brauerei gearbeitet und die Tochter des Hauses geheiratet. Sollte total glücklich sein.
Wie originell!
Aber immerhin – wenn man die vier Musketiere so anschaute, hatte Max wenigstens ein gemütliches Nest gefunden. Torben war ja bloß so eine undurchsichtige Finanztype, der Josie nicht einen Cent anvertrauen würde, Chris nett, aber nicht der Schlaueste und Florian genaugenommen ein Kleinkrimineller. Straßenschläger, Dreckschwein. Auf dem Charity-Ball hatte der sich garantiert gratis durchgefuttert und keinen müden Euro gespendet!
Franzi war auch noch glücklich und zufrieden (oder tat wenigstens so, auf solchen Abitreffen-Seiten musste man ja auch ein bisschen angeben) und Heide lebte vom Tratsch. Alle anderen hatten außer ihren Kontaktdaten nichts preisgegeben oder tauchten hier gar nicht erst auf.
Erfolgreich war anders, fand Josie. Aber Erfolg war ja nun auch nicht alles im Leben. Sie sollte mit diesem Klatsch und Tratsch aufhören. Morgen konnte sie ja Heide mal einen Vorschlag wegen des Abitreffens machen. Oder auch nicht, mal sehen.
Nächste Woche würde auch ihr neuer Deutschkurs beginnen – mit zwei Kolleginnen bot sie in dem Containerdorf in Moosfeld, wo die Stadt die Asylbewerber unterbrachte, umschichtig Kurse an – deutsche Sprache, Behördenwegweiser, hierzulande übliche Verhaltensweisen, Werben um Verständnis für seltsame Maßnahmen der Behörden. Für den nächsten Kurs sollte sie ihr Material noch einmal überprüfen – waren alle Abbildungen verständlich und keinesfalls so, dass sich irgendjemand religiös beleidigt fühlen konnte? Sie arbeitete, da sie keine einzige orientalische, afrikanische oder auch nur slawische Sprache beherrschte, weitgehend einsprachig, mit Gesten und Bildern – und im Notfall mit Englisch, Französisch und Spanisch. Gerade bei Afrikanern kam man damit oft weiter.
Diese Kurse machten ihr Spaß, und manche Teilnehmer konnten dann wirklich, sobald ihr Antrag durch war und sie das Lager verlassen durften, in der Außenwelt ihren Weg machen. Einige der Kinder hatten es auch schon aufs Gymnasium geschafft und hielten sich dort recht wacker, hatte sie gehört – Letti hatte mehrere Freundinnen, die am Leo oder am Albertinum arbeiteten.
Sie reckte und streckte sich – huch, halb elf Uhr durch? Eigentlich wollte sie ja noch weiter überlegen, wer diesen Kai auf dem Gewissen haben konnte, aber dazu war sie jetzt zu müde. Eigentlich war sie auch zu müde, um ins Bett zu gehen…