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Man gewöhnte sich wirklich recht schnell ein, auch wenn man nicht gerade das Traumhaus bewohnte. Sissi räkelte sich zufrieden auf dem Sofa, schenkte den Hirschgeweihen einen nachsichtigen Blick und raschelte mit der Zeitung. Noch genügend Zeit, bis sie sich für diesen Festakt bei Coen & Preuß aufbrezeln musste.

Viel Spannendes stand mal wieder nicht drin, nur der übliche Ärger im Stadtrat. Der Bürgermeister lag immer noch im Krankenhaus, offenbar tatsächlich ein Herzinfarkt (kein Wunder bei dem Cholesterinspiegel, wenn man den Fotos glauben durfte), und der MorgenExpress hatte doch tatsächlich versucht, dem Vize, Schmieder, auf den Zahn zu fühlen, was er jetzt vorhatte. Keine schlechten Fragen, musste Sissi zugeben, Schmieder hatte sich offenbar ziemlich gewunden, und auf den Fotos wirkte er etwas verlegen. Ob er Katzeders Nachfolge antreten wollte oder nicht, wurde nicht recht deutlich – aber der Journalist (lac – wer immer das sein mochte) ließ am Ende durchblicken, dass Schmieder quasi im Startloch saß und vor Gier zitterte und dass nur die Angst vor der öffentlichen Meinung ihn daran hinderte, offen seinen Wahlkampf zu beginnen. Aha – hier ein Interview mit Dr. Richter, dem Konkurrenten... Sissi vertiefte sich in dessen Ausführungen, die erheblich sicherer und fundierter wirkten. Zwei grau unterlegte Kästchen fassten den Werdegang der Kandidaten zusammen. Schmieder stammte aus Sachsen-Anhalt und hatte sich im Westen recht schnell hochgearbeitet, Flexibilität bewiesen und Initiative... Richter schnitt da deutlich schlechter ab, er war schon in Leisenberg aufgewachsen und schien einfach dem vorgezeichneten Weg gefolgt zu sein. Wie beweglich war so jemand? Konnte er sich auf neue Situationen einstellen? Das ließ lac am Ende als kaum verblümte Frage stehen.

Sissi nickte versonnen. Andererseits hatte dieser lac Schmieder als ziemlichen Schaumschläger präsentiert, als jemanden, der lavierte, statt ein offenes Wort zu sprechen. Schade, dass die anderen nie mal eine Wahl gewannen. Ach, egal, bis es so weit war, würde ihr schon klar werden, welcher der beiden das kleinere Übel war. Außerdem konnte es genauso gut sein, dass Katzeder sich blitzschnell erholte und die beiden Möchtegernstadtväter ihre Pläne fürs erste begraben mussten.

Sie jedenfalls musste sich jetzt in Schale werfen! In schwarzem Samt, bodenlang und an den Kanten mit silberner Kordel bestickt, stand sie schließlich da und tuschte sich geduldig die etwas zu blassen Wimpern.

Schon ärgerlich, wenn man dunkle Haare, dunkle Augen und dann dunkelblonde Wimpern und Augenbrauen hatte. Alberne Mischung aus dunklem Vater und blonder Mutter. Vielleicht noch etwas Kajal...

Sie rammte sich zuletzt noch Haarnadeln in den Knoten, legte das dünne Collier um, von dem nicht einmal Hubert behaupten konnte, es gehöre ihr nicht (den kostbareren Schmuck hatte er natürlich behalten) und besprühte sich flüchtig mit etwas Femme. Sie schnupperte nachdenklich: Den Duft hatte sie jetzt auch lange genug getragen – bei Gelegenheit sollte sie das Parfum wechseln. Dann würde nichts mehr an die Zeit mit Hubert erinnern. Außer ihren eigenen dummen Gedanken natürlich.

Tasche... verdammt, wo war die denn? Schließlich entdeckte sie den silbernen Beutel in einer halb ausgepackten Tasche und füllte ihn mit Handy, Geldbörse und Puderdose. So, damit konnte sie für Coen & Preuß Ehre einlegen! Andererseits musste sie heute nur dekorativ herumstehen und Smalltalk machen – gefeiert wurden die, die den Vertrag mit free.systems unter Dach und Fach gebracht hatten. Egal, gegen ein, zwei kostenlose Gläser Prosecco war nichts einzuwenden, und vielleicht konnte sie ja mit Vera in einer Ecke herumkichern und die Kleider der anderen kommentieren.

Prosecco... lieber ein Taxi, außerdem fand das Ganze wieder mal im Russischen Hof statt (im großen Ballsaal, der erfolglos versuchte, den Zarenhof zu imitieren), und da konnte man sowieso nie parken. Sicher, es hatte etwas, auszusteigen und einem der rotgolden gekleideten Pagen die Schlüssel zuzuwerfen, aber erstens war das sauteuer und zum zweiten hatte so ein kleiner Fahranfänger letztes Mal ihren Kotflügel angekratzt und war dann noch pampig geworden. Als sie vor dem Russischen Hof aus dem Taxi stieg – sehr damenhaft, wie sie fand – wollte gerade ein Gast im mitternachtsblauen Smoking den Parkservice in Anspruch nehmen. „Ich täte es nicht“, raunte sie ihm gut vernehmlich zu, „die können absolut nicht Auto fahren.“

Sie registrierte aus dem Augenwinkel die saure Miene des Pagen und schritt dann hoheitsvoll die Treppe hinauf, den Samtrock zierlich gerafft.

Vera winkte ihr aus einer strategisch günstigen Ecke zwischen zwei Säulen und in der Nähe eines stoisch dreinblickenden Kellners mit Proseccotablett zu; Sissi nahm sich im Vorübergehen ein Glas und sie betrachteten die Gäste. Die Frau des Vorstandsvorsitzenden trug Rosa – und was für ein Rosa, da tränten einem ja die Augen! „Da helfen auch die silbernen Borten nichts mehr“, murmelte Vera, „ob sie das selbst gemacht hat? Aus Faschingsseide?“

Sissi prustete erfreut und wies auf ein von hauchdünner Seide umkleidetes sehr rundes Hinterteil hin. Unter dem Nichts von Stoff zeichnete sich ein viel zu enger String eindeutig ab. „Dass die Leute sich nicht mal von hinten angucken können, bevor sie das Haus verlassen?“

„Guck mal, das da ist Klasse!“ Vera deutete unfein in die entsprechende Richtung und Sissi betrachtete sich ein schlichtes dunkelgrünes Kleid, im Nacken geschlossen, mit engem Oberteil und einem weiten Rock aus Moiréseide. Das Kleid lebte nur vom eleganten Schnitt und vom erstklassigen Stoff – genau, wie es sein sollte.

Außerdem hatte die Trägerin – die sie beide nicht kannten – eine ausgezeichnete Figur. Vera und Sissi konnten in dieser Hinsicht zwar auch nicht meckern, hatten aber längst gelernt, dass eine gute Figur auch nicht mehr und vor allem nicht bessere Kerle anlockte. Höchstens welche, die einem sofort ungeniert in den Ausschnitt starrten. Sissi war das im Moment ziemlich egal, schließlich hatte sie ja von den Kerlen erst einmal die Nase voll, aber Vera war schon ziemlich dringend auf der Suche.

Sobald sie mit einem Mann, der sich mit der ungemein originellen Frage „Kennen wir uns nicht schon irgendwoher?“ eingeführt hatte, ins Gespräch vertieft war, schlenderte Sissi davon.

Ja, Sie haben mich doch letzte Woche von der Straße gedrängt. Das wäre eine gute Antwort. Oder Ha! Sind Sie nicht der, dessen Bild kürzlich in der Zeitung war? Wegen dieser Unterschlagungen?

Sie grinste vor sich hin und stellte ihr leeres Glas im Vorübergehen ab, dann inspizierte sie den Saal. Die Bühne war aufgebaut, in rotem Samt verkleidet (wahrscheinlich alte Bühnenvorhänge) und mit Mikrofonen und etwas mickrig wirkenden Blumenarrangements dekoriert. Das hieß also, dass Coen (oder Preuß) eine längere Ansprache planten, und vorher gab es auch nichts zu essen.

Sie war ja nicht hier, weil diese Feiern so besonders spannend waren, sondern weil Reiter, Coens Assistent, mit einer Anwesenheitsliste herumschlich. Sie suchte ihn und plauderte einige Minuten mit dem kleinen Schleicher, damit er auch ja nicht vergaß, sie abzuhaken. Fehlen auf solchen Festen wurde von der Geschäftsleitung als Desinteresse an den Firmenbelangen gewertet und machte jede Aufstiegschance zunichte. Und Sissi wollte schließlich die Leitung der Personalabteilung haben - nicht nur verwalten, sondern auch entscheiden (und ein paar Gestalten in den Vorruhestand schicken, sie wusste auch schon, welche).

Schließlich erklomm Preuß die Bühne und räusperte sich ins Mikrofon. „Eins – zwei – drei – hrrmm...“ Die Gespräche verstummten; in die Stille ertönte ein schrilles Kichern, das plötzlich abbrach. Die Rede war so uninteressant wie erwartet; Preuß lobte die Verhandlungsführer, die Vertragspartner, die gesamte Firma und schließlich sich selbst, garnierte das Ganze mit lahmen Witzchen und versprach mehrfach, zum Schluss zu kommen. Sissi überlegte im Stillen, ob es als Respektlosigkeit angesehen werden konnte, wenn man dem Chef einen Rhetorikkurs schenkte, und kam mit Bedauern von diesem Plan ab.

Sie holte sich ein neues Glas und ging auf die Suche nach den Leuten aus ihrer Abteilung, aber außer Vera, die immer noch strahlend zu dem Typen mit dem dummen Spruch aufsah, war niemand zu sehen. Doch, dahinten standen Wolfgang und Max, aber die hatten sich gerade zwei Mädchen aus dem Schreibpool aufgetan und würden sich über Sissis Auftauchen bestimmt nicht freuen.

Sie ließ ihren Blick weiter schweifen. Ein Augenpaar zwinkerte ihr freundlich zu, ihr Blick blieb irritiert hängen und glitt dann weiter. Keine Ahnung, wer das sein konnte. In der Ecke, in der das Buffet stand, drängten sich bereits die Leute und scharrten mit den Hufen. Endlich schien Preuß wirklich zum Ende zu kommen, jedenfalls beschrieb er gerade seine Hoffnungen für die – glänzende – Zukunft der Firma. Dann konnte es ja wohl nicht mehr allzu lange dauern, folgerte Sissi und sah sich wieder um.

Zu dem zwinkernden Augenpaar gehörte ein lächelndes Gesicht. Der Mann verneigte sich leicht. Sissi quittierte das mit einem kühlen Kopfnicken, hatte aber immer noch keinen Schimmer, wer der Mann sein konnte.

Vielleicht jemand von free.systems. Sie schlenderte weiter herum, traf ihren Vorgesetzten (dessen Job sie haben wollte) und besprach mit ihm einige technische Details einer Vorruhestandsregelung und die Frage, ob es in diesem Jahr wohl weiße Weihnachten geben würde, nachdem es in den letzten Tagen wieder so eigenartig warm geworden war – ein Thema, das ihr genau genommen völlig egal war. Immerhin verriet er, dass er nun doch ernsthaft an den Ruhestand dachte, und nahm ihren verlogenen Widerspruch befriedigt zur Kenntnis. Verflixt, wer grinste sie da die ganze Zeit an? Hässlich war der Mensch nicht, registrierte sie aus den Augenwinkeln, groß, braunhaarig (Gott sei Dank nicht blond, von blonden Männern hatte sie seit Hubert wirklich die Nase voll) und gut gekleidet. War der Smoking blau – mitternachtsblau?

Ach herrje – der Typ auf der Treppe! Den hatte sie sich gar nicht näher angesehen, sie hatte ja bloß die Jungs vom Parkservice ärgern wollen.

Als er beim nächsten Mal guckte, lächelte sie leicht zurück und wandte sich dann schleunigst ab. Aufreißen wollte sie hier wirklich keinen! Bevor sie sich aber durch die Menge, die in Zehnerreihen am Buffet anzustehen schien, hindurchschlängeln konnte, legte sich eine Hand leicht auf ihren Arm.

„Warten Sie doch! Ich wollte mich nur für Ihren Tipp bedanken.“

„Wirklich?“ Sehr intelligente Antwort, ärgerte sie sich sofort.

„Ja, ich hänge auch an meinem Lack.“

Sissi musste lachen. „Mir haben sie ihn wirklich mal verkratzt – aber ob die alle so schlecht fahren, weiß ich gar nicht, ich hatte nur plötzlich das dringende Bedürfnis, diese eitlen Bürschlein etwas zu dämpfen.“ Er lachte ebenfalls. Hübsche Zähne, fand sie. „Das hat denen bestimmt nicht geschadet. Arbeiten Sie für Coen & Preuß? Verzeihung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Seidenaber, Bernd Seidenaber.“

„Elisabeth Hassfurter. Sie arbeiten dann wohl für free.systems?“

Er nickte nachdrücklicher, als die Frage es verdient hatte. War er so stolz auf seinen Job? „Ja. Ich mache die Öffentlichkeitsarbeit. Einen großen Teil wenigstens. Bei Free.systems ist das gar kein Problem, wir verkaufen ja keine umstrittenen Produkte, und wir stehen auch nicht auf so peinliche Art im Licht der Öffentlichkeit wie -“ Er brach ab. „Wie wer?“, erkundigte Sissi sich.

„Ach, nichts. Wofür sind Sie zuständig?“

„Personalmanagement“, antwortete sie knapp.

Er nickte wieder, als hake er im Geiste Informationen ab. Dann sah er sich um.

„Entschuldigen Sie vielmals – Sie hatten sich hier schon angestellt, nicht wahr? Und ich habe Sie aufgehalten? Was darf ich Ihnen bringen?“

„Gar nichts“, wehrte Sissi ab, „ich hasse es, wenn sich die Leute am Buffet prügeln, als könnten sie sich zu Hause kein Essen leisten. Ich warte lieber noch etwas.“

„Aber dann ist vielleicht der Hummer weg“, gab er zu bedenken.

„Na und? Hummer gibt´s doch auf jedem Buffet, und so toll ist das Zeug auch wieder nicht.“

„Dann sind Sie nur das Beste gewöhnt?“ Sie sah ihn verblüfft an. Hatte das eben neidisch geklungen? Nein, er sah sie nur voll ehrlichen Interesses an. Ein bisschen größer als sie war er, was sie automatisch erfreut zur Kenntnis nahm.

„Unsinn! Nur weil ich um das alberne Schickimickifood kein solches Theater anfange? Gucken Sie die Leute doch an, als hätten sie seit Wochen gehungert!“ Das hörten welche in der Schlange und auch ein, zwei, die sich gerade mit überquellenden Tellern daraus hervorgekämpft hatten, und Sissi erntete einige böse Blicke. Sie revanchierte sich, indem sie die überfüllten Teller anzüglich betrachtete und ein leises spöttisches Grinsen um ihre Mundwinkel spielen ließ. Als sie schließlich einige Schritte beiseitetrat, um das Gemansche nicht länger sehen zu müssen, folgte ihr ihr neuer Bekannter.

„Ich will Sie aber nicht davon abhalten, sich zu bedienen“, versicherte sie ihm sofort. Er lächelte. „Ach, mir knurrt noch nicht direkt der Magen. Wenn sich die Massen verlaufen haben, stellen wir uns etwas Hübsches aus den Resten zusammen.“

Guter Mann. Das klang doch mal vernünftig! Überhaupt gefiel er ihr nicht schlecht; er sah nicht nur recht angenehm aus und baggerte sie nicht auf blöde Weise an, nein, er plauderte auch nett und locker über die Unsitte solcher Firmenfeiern, über die Lokalpolitik (würde Schmieder für Katzeders Nachfolge kandidieren?), über die größten Bausünden in Leisenberg (was Sissi beinahe dazu brachte, ihm ihre Jagdhütte zu beschreiben, aber so gut kannten sie sich eben doch noch nicht), über Traumautos, das momentane Kino- und Theaterprogramm und die Frage, wo man zur Zeit am besten essen konnte. Dabei wartete er mit einigen interessanten Kneipentipps auf, die Sissi sich einzuprägen versuchte, obwohl sie genau wusste, dass sie sie umgehend wieder vergessen würde. Schließlich verlief sich die hungrige Menge vor dem Buffet und Sissi folgte Seidenaber, als er sich den ziemlich verwüsteten Resten näherte und sich einen Teller nahm.

Ein etwas obskur aussehender Reissalat war noch übrig; daneben gab es noch eine Platte mit Blätterteigtörtchen, gefüllt mit Kräutercreme und Krabben. Drei Stück waren noch da, ein weiteres lag umgekippt auf dem Tischtuch und war schon halb ausgelaufen.

Melonenstückchen gab es noch reichlich, Schinken kaum mehr, dafür aber große Schüsseln Rote Grütze. Der Rest war mehr oder weniger kahl gefressen, wenn man von den Relikten der Garnierung mal absah.

Sissi seufzte, nahm sich einen Teller, schnappte sich ein Krabbentörtchen, einige vereinsamte geschnitzte Radieschen, ein halbes hartes Ei, einen kleinen Löffel Reissalat und eine Scheibe Baguette. Seidenaber hatte nahezu das gleiche auf seinem Teller, stellten sie, am Ende angekommen, fest und lachten. „So sieht es doch richtig appetitlich aus, oder? Kommen Sie, da vorne ist ein Tischchen frei!“

Frei nur in dem Sinne, dass niemand auf den unbequemen zierlichen Stühlchen saß – die Tischplatte war flächendeckend zugemüllt: leere und halbleere Gläser, ein benutzter Aschenbecher, abgegessene Teller, zerknüllte Servietten: Gedankenlose Gäste und ein nachlässiger Service schienen sich hier sehr harmonisch zu ergänzen. Sissi gelang es, den Blick eines Lakaien einzufangen, er errötete und eilte herbei, um Ordnung zu schaffen. Aufatmend setzte sie sich und bewachte die Teller, bis Seidenaber zwei neue Gläser Prosecco organisiert hatte. „Jetzt haben wir es doch ganz gemütlich, oder?“

„Doch, durchaus. Sagen Sie, müssen Sie bei so einem Anlass sich nicht um die Presse kümmern? Interviews arrangieren? Die wichtigen Leute für Fotos zusammentreiben?“

Seidenaber lachte. „Nein. Ich hab alles organisiert, die Presse ist da, und meine Assistentin erledigt die Vorortarbeit.“

Sissi reckte den Kopf und sah eine gestresst wirkende Rothaarige mit Hornbrille, die gerade einige Maßanzüge zusammentrieb und dafür sorgte, dass sich die beiden mittleren demonstrativ die Hand schüttelten.

„Eigenartig“, murmelte sie.

„Was finden Sie eigenartig?“ Seidenaber lächelte gelassen.

„Na, ich würde es umgekehrt machen. Die Assistentin macht die Telefonarbeit und ich sorge dafür, dass ich beim Event im Mittelpunkt stehe.“

„Wozu? Ich bin schon da, wo ich hinwill.“

„Ja, aber die Führungsetage muss doch sehen, dass man diese Position auch verdient.“

„Klappern gehört zum Handwerk? Vielleicht.“

Wirklich überzeugt schien er nicht zu sein, jedenfalls ignorierte er ein hohes Tier von free.systems, das gerade vorbeikam und das sogar Sissi kannte.

Das hohe Tier schien solche Lässigkeit gewöhnt zu sein, jedenfalls schoss es keine pikierten Blicke in Seidenabers Richtung ab. Sissi fühlte so etwas wie Neid – sie konnte das nicht, so entspannt darauf vertrauen, dass schon alles klappte und dass man schon richtig eingeschätzt wurde. Wenn sie für einen derartigen Event zuständig gewesen wäre, wäre sie – natürlich bemüht souverän – herumgeflattert, hätte der Presse Tipps gegeben und vor lauter Angst, sie könnten jemand Wichtigen übersehen oder Gott behüte zu früh wieder gehen, weder gegessen noch getrunken. Auf keinen Fall hätte sie lässig mit Unbekannten geplaudert!

Er schien nicht einmal Lust zu haben, weiter über Berufliches zu reden, sondern wechselte mit der Frage nach einem bestimmten Spielfilm energisch das Thema. Sissi musste zugeben, dass der kleine Fernseher in der Jagdhütte nur über Hausantenne lief und sie nur den Lokalsender und die ersten beiden Programme hereinbekam. Seidenaber staunte. „Würde es sich nicht lohnen, auf Kabel oder Satellit umzusteigen?“

„Wozu? So lange werde ich da auch nicht wohnen, und ich sehe sowieso nicht viel fern. Die Nachrichten genügen mir.“

„Naja – meist ist das Programm ohnehin so schlecht, dass man lieber zum Video greift.“

„Nicht einmal einen Videorecorder habe ich“, gestand Sissi mit halbem Lächeln, „im Haus ist keiner und ich habe keine besondere Lust, mir einen zu kaufen. Ich lese einfach lieber.“

Klang das nicht intellektuell? Sehr beeindruckt schien er leider nicht zu sein, er schüttelte nur den Kopf. „Das könnte ich nicht...“

Jetzt war es an Sissi, das Thema zu wechseln – nur wohin? Sie war noch dabei, krampfhaft nachzudenken, als Seidenaber den Kopf hob, auf ferne Musik lauschte und sie um einen Tanz bat.

Besser als diskutieren, wenn einem nichts einfiel! Er tanzte nicht besonders gut, aber Sissi auch nicht, und sie fand es angenehm, sich in seinen Armen langsam so ungefähr im Takt zu bewegen. Vera hatte es ebenfalls geschafft, ihre Beute aufs Parkett zu schleifen, winkte ihr vergnügt zu und machte ein Zeichen, das Wir telefonieren morgen bedeuten sollte. Sissi lächelte ihr zu.

Gegen Ende des Abends (am Rückzug der Vorstände deutlich zu erkennen) bat Seidenaber Sissi um Adresse und Telefonnummer. Sie behauptete rasch, keinen Festnetzanschluss zu haben („Sie wissen ja, dieses komische Haus... wenn ich nicht mal einen Kabelanschluss habe?“) und speiste ihn mit ihrer Handynummer ab. Warum sie das tat, hätte sie selbst nicht zu sagen gewusst. Um ihn zappeln zu lassen? Um das Tempo herunter zu schrauben? Damit er nicht vor ihrer Tür stehen konnte? Eigentlich fand sie ihn doch ganz nett!

Aber gleich wieder einen Kerl...

Jedenfalls fügte er sich recht anmutig in die Zurückweisung und notierte sich die Handynummer sorgfältig, dann sah er lächelnd auf. „Wir haben uns so angenehm unterhalten... ich finde, das sollten wir bei Gelegenheit einmal fortsetzen.“

Sissi ärgerte sich über sich selbst. Himmel, der Typ war doch wirklich nett und harmlos und sie zickte hier herum, als hätte er sie sonstwie angebaggert! Zu spät, jetzt doch mit Festnetz und Adresse rauszurücken, war unmöglich. Also beschränkte sie sich auf zustimmendes Lächeln.

Existenzfrage

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