Читать книгу Existenzfrage - Elisa Scheer - Страница 7
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ОглавлениеSissi lag auf dem Sofa und sah sich durchaus zufrieden um. Auf dem Couchtisch mit der hässlichen Kachelplatte brannten die Duftkerzen (Nelke und Sandelholz), im Dämmerlicht konnte man das allzu Rustikale nicht mehr deutlich erkennen, die Wellness-Musik hatte wirklich eine entspannende, fast schon einschläfernde Wirkung. Außerdem hatte sie sich ein sehr befriedigendes heißes Bad gegönnt, einen Teller Suppe gegessen, ein bisschen durch die Nachrichten gezappt und ihre Businesstasche für morgen gepackt und in den Flur gestellt. Ja, sogar die schwarzen Pumps hatte sie auf Hochglanz poliert!
Sie kam sich fast vor wie als Kind, wenn sie ausnahmsweise ihre Schultasche rechtzeitig gepackt hatte und im Nachthemd noch ein bisschen mit fernsehen durfte – natürlich nur bis maximal neun Uhr.
Ihr Elternhaus hatte auch eine gewisse Ähnlichkeit mit der Jagdhütte hier gehabt, nur war es deutlich kleiner und es gab nur ein einziges Hirschgeweih – nein, einen Rehbock, im Flur, an dem die Hüte ihres Vaters gehangen hatten.
Ob ihre Mutter dieses Ding immer noch im Flur hängen hatte? Sie hatte seit Jahren nicht mehr darauf geachtet, und bei all diesen Umgestaltungen... wahrscheinlich lag das Ding längst im Keller.
Mutter und der Rehbock – sehr unwahrscheinlich: Was würden ihre Freundinnen dazu sagen? Die Freundinnen, mit denen sie sich einmal in der Woche traf, zum Canasta-Spielen (für Bridge hatte es anscheinend nicht ganz gereicht) und zum Austausch von „Neuigkeiten“, also von Klatsch und Tratsch, garniert mit dezenter Angabe.
Sissi sah die Damen so richtig vor sich, frisch vom Friseur kommend (Meine Liebe, hast du eine neue Frisur? Sehr elegant!), in gepflegten Kostümen, vorzugsweise in tauben- oder lavendelblau, in halbhohen Pumps mit kleinen goldenen oder silbernen Verzierungen an der Seite, in den dünnsten und unauffälligsten Stützstrümpfen, die sie finden konnten, und reich mit Ringen und Broschen ausgestattet. Broschen waren Erbe, die zeigten, dass man nicht irgendwer war, sondern einmal Großeltern und Großtanten gehabt hatte, die einem Schmuck vererben konnten. Wie die Broschen den guten Stall markierten, markierten die Ringe – die sich von den fleischigen Fingern garantiert nicht mehr abziehen ließen – den Erfolg im Leben, denn Ringe (nicht nur den Trauring) schenkte einem der Mann, den man ergattert hatte. Der Ehemann (ehrfürchtig auszusprechen!). Nicht, dass eine der Damen auch nur die geringste Ehrfurcht vor den ausnahmslos bereits verstorbenen Gemahlen bezeugt hätte – von dezentem Kichern begleiteter Erfahrungsaustausch hinsichtlich männlicher Macken war an der Tagesordnung. Nein, der Ehemann an sich war ein Statussymbol, denn – und daran glaubten die Damen allen Ernstes – ihn einzufangen und dann zu umsorgen war schließlich der Lebenszweck einer Frau! Sissi musste demnach als Versagerin gelten, als eine, die ihrer Mutter Schmach und Schande bereitet hatte und deren tragisches und selbstverschuldetes Geschick – für das Gelingen einer Ehe war alleine die Ehefrau zuständig – einigen Gesprächsstoff hergab.
Da konnte Mutter ja nur froh sein, dass es auch noch Doro gab, dachte Sissi spöttisch und räkelte sich auf dem hässlichen, aber erstaunlich bequemen Sofa. Doro hatte wirklich immer programmgerecht funktioniert: Mäßige Schulleistungen, aber ein bildhübsches Kind. Ein Abitur mit nicht weiter erwähnenswertem Schnitt, aber bereits ein fester Freund. Zwei Semester Kunstgeschichte, aber die Mittagspause immer in der Cafeteria der Zahnmediziner verbracht. Natürlich nur, weil dort der Kaffee besser war!
Dort hatte sie Detlef geschnappt (alleine schon der Name war ein Scheidungsgrund), der kurz vor dem Staatsexamen stand, Traumnoten hatte, promovieren wollte – was nicht jeder Zahnarzt auf sich nahm, wie Mutter seitdem nicht müde wurde zu betonen – und, am allerbesten, eines Tages die Praxis seines Vaters übernehmen würde. Staatsexamen, Heirat, Doro war für das gemütliche Heim zuständig und gestaltete es so, dass es absolut mehrheitsfähig war und keinen Funken eigenen Geschmacks bewies.
Nach angemessener Frist erst einen Erben für die Praxis, Florian, und dann ein Schwesterchen, Jennifer, damit Florian lernte, mit jungen Damen charmant umzugehen. Im Moment äußerte sich der Charme noch darin, dass er ihr Legosteine an den Kopf warf und verkündete, Mädchen seien sowieso bescheuert. Und beide Kinder so intelligent! Diese drolligen Aussprüche! Und Doros Glück als Mutter! Denn insgeheim, nicht wahr, sehnt sich ja doch jede Frau nach Kindern, und dass diese modernen Karrierefrauen heute damit so lange warten... wir damals waren junge Mütter für unsere Kinder. Wer will schon für die Oma gehalten werden?
„Na, Sissi, wird es für dich nicht auch langsam Zeit? Du bist doch auch schon bald dreißig, oder?“ Das folgte an dieser Stelle regelmäßig, wobei sich die Freundinnen abwechselten. Auch ein Grund, warum Sissi darauf achtete, selten und nicht mehr während der Canastarunden bei ihrer Mutter aufzutauchen. Mürrisch zu korrigieren, dass sie bereits über dreißig sei, wurde nicht als hinreichende Antwort akzeptiert.
Und jetzt hatte sie auch noch in ihrer Ehe versagt! Da sollte sie sich lieber eine Zeitlang rar machen, um Mutters Status nicht noch weiter zu ruinieren, gerade jetzt, wo Frau Treifels Jüngste diese glänzende Partie gemacht hatte. Sissi wünschte der affigen Claudia, dass sich der Knabe als Crackdealer herausstellte, aber das war wohl kindisch. Außerdem hatte Frau Treifel den Schwiegersohn in spe garantiert von ihrem Anwalt durchchecken lassen.
An Hubert hatte Mutter nichts auszusetzen gehabt... Betriebswirt, eigene Firma, großes Haus, passendes Alter. Das er sich als miese Ratte entpuppt hatte, die glaubte, Frauen lögen, wenn sie nur den Mund aufmachten, krankhaft eifersüchtig noch dazu, war egal. Außerdem hätte Mutter das auch schlecht herausfinden können, das hatte Sissi ja selbst zu spät gemerkt.
Mutter zufolge war es eine der negativen Erscheinungen der modernen Welt, dass Ehefrauen über eigenes Geld verfügten – ohne Beruf und ohne eigenes Kapital hätte Sissi ja bei Hubert bleiben müssen, notgedrungen. Und dann hätte Mutter ihren Freundinnen erzählen können, wie Sissi ihre Ehe gerettet hatte, anstatt beichten zu müssen, dass sie der Scheidung freundlich (sogar begeistert!) zugestimmt hatte. Ob Doro eigentlich glücklich war? Oder stellte sich ihr die Frage gar nicht, mit zwei kleinen Kindern, ohne Beruf? Wahrscheinlich hatte sie ihren Anteil an Vaters Erbe freudig ihrem Detlef anvertraut, damit er es gewinnbringend investierte.
Hubert hatte damals tatsächlich angesäuert reagiert, als Sissi auf Gütertrennung beharrt hatte und außerdem der frevelhaften Ansicht war, ihr eigenes Vermögen könne sie selbst recht gut verwalten. Sie war aus dem Nemax-Boom rechtzeitig ausgestiegen und hatte in Renten- und Geldmarktfonds umgeschichtet, so dass sie heute noch über alles verfügte, was ihr der Boom eingebracht hatte. Das war gar nicht so wenig, für die angestrebte Dachwohnung mit Terrasse (zweieinhalb oder drei Zimmer) reichte es allemal, außerdem für ein kleines Zubrot zum Gehalt, ein bis zwei schicke Reisen pro Jahr (vielleicht mal eine Kreuzfahrt? Karibik oder Baltikum?) und bei Bedarf ein anständiges neues Auto.
Wenn man sich hier so umsah, sollte man zwar nicht glauben, dass sie sich auch etwas Anständiges leisten konnte, aber schließlich war die Jagdhütte nur eine Übergangslösung, und sie hatte nicht vor, hierher großartig Leute einzuladen. Wen denn auch?
Bevor sie jetzt wieder in Selbstmitleid versank, weil Hubert alle ihre Freunde auf seine Seite gezogen hatte, sollte sie lieber noch mal einen Blick in die Nachrichten werfen. Alleine schon wegen des Wetters, damit sie notfalls morgen genug Zeit zum Scheibenkratzen einkalkulierte.
Das übliche mäßig interessante Weltgeschehen. Die USA zeterten wegen angeblicher Massenvernichtungswaffen im Irak herum, die Gewerkschaften ließen die Muskeln spielen, die drei Teenies, die nach einem Discobesuch gegen einen Alleebaum bei Kirchfelden gerast waren, waren alle auf dem Wege der Besserung (kurzer Kameraschwenk über die Krankenbetten, aus denen hauptsächlich eingegipste Arme und Beine herausragten), die letzten von der Ulmenkrankheit befallenen Ulmen im Prinzenpark waren gefällt worden und sollten im Frühjahr durch etwas Robusteres ersetzt werden.
Kurz vor dem Wetterbericht legte die Ansagerin ihr Gesicht in betroffene Falten, raschelte bedeutungsvoll mit ihren Blättern – als läse sie nicht ohnehin alles vom Teleprompter hinter der Kamera ab! – und verkündete, Franz Katzeder, der allseits beliebte Erste Bürgermeister, sei bei einer Veranstaltung in den Räumen des Städtischen Museums in den frühen Abendstunden zusammengebrochen und ins Städtische Krankenhaus eingeliefert worden – sobald man Genaueres wisse, werde des Publikum umgehend informiert, notfalls sei mit Programmänderungen zu rechnen.
„Höchstens beim Lokalsender“, kommentierte Sissi halblaut, „der hat sicher bloß wieder zu viel gegessen.“
Das Wetter folgte – Nachtfrost, vereinzelte Niederschläge, Schneefälle in Schleswig-Holstein. Wenig beeindruckende Bilder – nach Naturkatastrophe sah das noch lange nicht aus. Sissi rappelte sich auf, schaltete den Fernseher aus, kontrollierte, ob die Hautür und die hintere Küchentür verschlossen und verriegelt waren, und probierte eine Zeitlang an der etwas vorsintflutlichen Alarmanlage herum, deren Anleitung sie in der Flurkommode entdeckt hatte, Schließlich leuchtete es grün auf. „Scheint ja wohl richtig zu sein“, murmelte Sissi, warf noch einen Kontrollblick in die Runde und verzog sich ins Bett.