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Es half alles nichts. Nicht die langen Verhandlungen, nicht das abendliche Ausgehen, nicht der mörderische Verkehr auf den Highways rund um die Stadt, nicht das Strandleben, das hier das ganze Jahr nicht zum Erliegen kam.

Immer noch saß er jeden Spätnachmittag an einem einsamen Strandabschnitt und starrte auf den Pazifik hinaus, beobachtete, wie die Sonne tiefer und tiefer sank, wartete jeden Abend vergeblich auf das Zischen, wenn sie eintauchte, und ließ seine Gedanken schweifen. Leider schweiften sie nie weit, sondern kreisten um Verena, Irene und besonders um Jutta.

Manchmal kam er sich vor wie der Mensch aus der Jever-Werbung, nur ohne Trenchcoat und weniger zufrieden. Außerdem hatte er ein bisschen Angst, dass eines Abends ein Polizeiwagen oben an der Straße halten und zwei schwarz gekleidete Gestalten mit Spiegelbrille (Psycho!) ihn fragen würden, was er hier eigentlich trieb. Bestimmt war es verdächtig, jeden Abend hier zu sitzen und dabei nichts Sinnvolles zu tun, nichts zu konsumieren, keinen Sport zu treiben... Womöglich hielten sie ihn noch für einen Terroristen! So arabisch sah er zwar auch wieder nicht aus, aber man wusste ja nie.

Oder für jemanden, der einsamen Frauen auflauerte, obwohl um diese Zeit und speziell hier bestenfalls vereinzelte Hundebesitzer vorbeikamen.

Er musste vor sich selbst zugeben, dass das Land, so freundlich man ihm auch entgegenkam, ihm unheimlich war. Man kannte die speziellen Empfindlichkeiten nicht – oder nur aus dem Fernsehen, wo man nicht wusste, ob man Information oder Unterhaltung bekommen hatte – und fürchtete bei jedem Schritt einen Fettnapf. Dass er keine besondere Lust auf Sport hatte, hatte schon mal keinen guten Eindruck gemacht.

Dabei rauchte er nicht, äußerte sich nicht zur amerikanischen oder europäischen Politik, sprach fließend – wenn auch nicht akzentfrei – englisch, machte keine anzüglichen Witze und behandelte alle Frauen betont sachlich. Vielleicht hielten sie ihn jetzt für schwul? Das konnte ihm letztendlich auch egal sein, er hatte eigentlich nicht vor, die ganzen sechs Monate hier zu bleiben.

Das Sitzen am Strand hatte sich fast schon zur Sucht entwickelt. Anstatt sich durch das muntere Leben in Kalifornien von den traumatischen Erfahrungen zu Hause ablenken zu lassen – damit die Wunden endlich mal heilen konnten – kam er jeden Abend hierher, um den Schorf wieder aufzukratzen. Er floh nicht vor den Erinnerungen, sondern in sie hinein.

Schön blöd eigentlich.

Er konnte bloß gar nichts dagegen tun, die Gedanken kamen von selbst und ließen ihn nicht mehr los. Heute hatte er auf dem Weg zum Strand eine Frau mit wilden dunkelroten Locken gesehen und so abrupt gebremst, dass er fast einen Auffahrunfall ausgelöst hatte. Unter dem ärgerlichen Hupen der anderen war er dann wie benommen weiter gefahren.

Dunkelrote Locken – wie Jutta.

Er hatte nie verstanden, was Jutta antrieb: die Jugend in der DDR? Der Drang, sich im Westen zu beweisen? Eine tiefe Verunsicherung, die sie dazu brachte, niemandem, auch ihm nicht, wirklich zu trauen?

Sie hatte immer nur gelacht und gemeint, das bilde er sich nur ein, ihr fehle gar nichts. Dabei wusste er genau, dass da etwas war.

Vielleicht der Tod der Eltern? Für ein Einzelkind war das besonders hart, das wusste er aus eigener Erfahrung: Plötzlich kannte niemand mehr die eigene Kindheit, niemand teilte die Erinnerungen, niemand bot den Trost, den nur Familie bieten konnte, weil man in seine Kinderrolle zurückfallen durfte.

Valentin seufzte und nahm einen Schluck von seinem supergesunden und mit allerlei obskuren Zaubermitteln angereicherten Mineralwasser. Dann sah er sich etwas erschrocken um. War das Trinken in der Öffentlichkeit nicht verboten? Oder galt das nur für Alkohol? Für die Flaschen, die in braunen Papiertüten getarnt wurden?

Niemand hatte ihn gesehen, gut so. Er schraubte die Flasche fest zu und versteckte sie in seinem Rucksack. In Russland würde er sich weniger verschreckt fühlen, überlegte er und kam sich ziemlich dämlich vor.

Wenn er natürlich durch irgendein dummes Versehen in einem russischen Gefängnis landete, würde die deutsche Botschaft Druck machen und wahrscheinlich auch Erfolg haben. Die amerikanische Rechtsprechung nahm Proteste aus dem Ausland nicht zur Kenntnis, das wusste er aus diversen Spiegel-Artikeln. Ob das so überhaupt stimmte? Waren sein Ängste berechtigt oder die reine Paranoia?

Hatte Jutta vor irgendetwas Angst gehabt? Gesagt hatte sie es nie, aber sie hatte überhaupt wenig gesagt. Mal hatte sie sich ihm vorbehaltlos in die Arme geworfen, mal sich kommentarlos eingeigelt. Anfangs hatte er geglaubt, er habe etwas falsch gemacht, aber sie hatte abgewunken: „Ich bin nun mal so, damit musst du dich abfinden. Ich bin einfach gerne alleine.“

Ja, aber sie wirkte nicht, als mache sie das Alleinsein glücklich. Wenn sie von ihren Fahrten oder den Tagen, die sie alleine in ihrer Wohnung verbracht hatte, zu ihm zurückkam, wirkte sie gequälter als vorher.

Von Verena und Irene hatte er wenig erzählt; er hatte auch nicht das Gefühl gehabt, sie interessiere sich für ihre Vorgängerinnen. Im Gegenzug verriet sie auch nichts über die früheren Männer in ihrem Leben, die es doch gegeben haben musste – als sie sich kennen lernten, war sie immerhin siebenundzwanzig und hatte schon in fast allen Großstädten des „Westens“ gelebt, bevor es sie nach Leisenberg verschlagen hatte.

Manchmal hatte sie gesagt, in Leisenberg fühle sie sich sicher, dann wieder gab es wilde Ausbrüche: „Gott, was ist das für ein Kaff hier!“

Sicher wovor? Auch das hatte sie ihm nie verraten.

Diese dauernden Gefühlsschwankungen – das Leben mit Jutta war anstrengend gewesen, keine Frage. Er stockte, als hätte er das laut gesagt, und fand sich pietätlos. Jutta war tot, wie konnte er da sagen, sie sei anstrengend gewesen?

Weil sie es wirklich gewesen war. Nie hatte man gewusst, woran man heute war – himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt... ob sie krank gewesen war? Psychisch? Körperlich war sie ja pumperlgesund gewesen, das hatte die Obduktion ergeben. Valentin schloss gepeinigt die Augen, als er kurz daran dachte, was bei der Obduktion mit ihrem schönen Körper geschehen sein mochte... nein, Schluss, solche Gedanken waren morbide.

Manisch-depressiv? Oder launisch? Oder hatte sie doch irgendein Trauma mit sich herumgeschleppt? Aber warum hatte sie sich von niemandem helfen lassen? Am Ende war er der einzige gewesen, der behauptet hatte, sie hätte sich nie das Leben genommen – alles anderen hatten auf die Frage, ob sie sich bei Jutta Hömig einen Selbstmord vorstellen konnten, nach einigem Zögern mit Ja geantwortet. Das hatte der Kommissar Valentin erzählt, als dieser erbost fragte, warum nicht weiter ermittelt wurde. Auch sonst gab es keine Anzeichen für ein Fremdverschulden; nur die Tatsache, dass Valentin schon zwei Freundinnen durch den Tod verloren hatte, rief einiges Stirnrunzeln hervor.

Schließlich war man zu dem Schluss gekommen, dass Jutta sich in vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit das Leben genommen hatte – Schlaftabletten und Gin – und Valentin durfte sie begraben.

Die Arbeit hatte ihn auch nicht abgelenkt, ein Gedanke, der ihn immer wieder aufbrachte. Dieser blöde Satz Das Leben geht weiter! Sicher ging es weiter, aber es beschäftigte einen nicht mehr. Er hatte wie ein Automat gehandelt, war täglich zombieähnlich durch seine Firma geschlichen, hatte verhandelt, unterschrieben, entwickelt, beschlossen – nicht geistesabwesend, aber ohne die geringste Freude daran. Irgendwer hatte behauptet, nach einem Jahr werde es leichter, dann habe man alles einmal ohne den geliebten Menschen erlebt, Weihnachten (Valentin schnaubte bei dem Gedanken), Geburtstag, Biergarten im Sommer, die ersten Schneeglöckchen... Das hatte auch nicht gestimmt, er hatte den zweiten Durchlauf fast noch schlimmer gefunden.

Wenn sie wenigstens Kinder gehabt hätten! Kinder mit Juttas roten Locken und ihren blauen oder seinen grauen Augen... aber Jutta hatte keine Kinder gewollt. „Wie denn?“, hatte sie gefragt. „Ich habe wenig Zeit, du hast noch weniger Zeit, sollen sich die armen Würmer selbst großziehen? Außerdem glaube ich nicht, dass ich mich dafür eigne.“

Wäre sie eine gute Mutter gewesen? Wäre er ein guter Vater gewesen? Hatte sie nicht recht gehabt? Wahrscheinlich schon. Er arbeitete zuviel und konnte, wenn er nach Hause kam, schlecht abschalten. Warum sollte eine Frau sich mit den Überresten begnügen und nebenbei ganz alleine den Nachwuchs großziehen? Solche Frauen fanden sich heute nicht mehr so leicht – und wenn, hätte er so ein Hausmütterchen auch nicht gewollt.

Was wollte er dann? Er wusste es nicht. Einfach einen Menschen, mit dem man reden konnte? Wer sollte das sein? Geschäftsfreunde? Haha. Tony und Liz? Das war zu oberflächlich. Sie wussten zwar, dass seine Freundin gestorben war, aber nicht mehr, und ihnen spielte er auch vor, dass er darüber hinweg sei. Er konnte sich die verlegenen Gesichter schon vorstellen, wenn er seine Ängste und Nöte in stockendem Englisch (dafür brauchte man ein anderes Vokabular) vor ihnen ausbreitete.

Mit Jutta hatte er reden können. Nein, auch nicht wirklich, sie verschloss sich zu leicht. Aber sie war ihm doch näher gewesen als alle anderen – weil er wollte, dass sie ihm nahe war. Verdammt, warum hatte sie sich so davon gemacht? Plötzlich packte ihn die Wut auf sie: einfach abzuhauen und ihn mit dem Schmerz sitzen zu lassen! Er spielte mit einem Stückchen Holz herum, drehte und wendete es, kratzte die Salzkruste ab.

Seine Liebe war offenbar nicht genug gewesen. Sie hatte sich nicht helfen lassen wollen, und er hatte ihr auch nicht gegen ihren Willen helfen können. Hatte er also versagt? Was hätte er anders machen können? Seine Gedanken waren so ungeordnet... alleine konnte man diese Frage auch nicht systematisch klären. Konnte man sie überhaupt klären, jetzt, wo Jutta nicht mehr da war? Wenn sie noch da wäre, ginge es auch nicht. Sie würde ja doch nur behaupten, es sei nichts, sie sei einfach nicht der Typ, der anderen etwas vorheule. Und außerdem habe sie noch einen Artikel zu schreiben...

Trotzdem – wenn man mit niemandem darüber sprechen konnte... es gab keinen mehr, der Jutta gut gekannt hatte. Komisch, sie hatte genauso wenige Freunde gehabt wie er. Bei ihr ließ sich das vielleicht noch erklären, das unstete Herumziehen, alle zwei Jahre eine andere Stadt... keine Eltern, keine Geschwister... kein Interesse an Kontakten, wenn man ehrlich war. Sie meldete sich bei ehemaligen Kollegen nur, wenn sie Informationen brauchte.

Was hatte sie eigentlich in ihm gesehen? Die menschliche Nähe, die doch jeder ab und an brauchte, hatte sie offenbar nicht gesucht. Was denn? Bloß den Sex? Im Bett war sie wild gewesen, beinahe unersättlich. Kühn und immer bereit, etwas Neues auszuprobieren. Aber... Was aber? Plötzlich hatte Valentin das Gefühl, dass trotz der Gier und Leidenschaft etwas gefehlt hatte. Tiefe vielleicht... Ach, wozu darüber nachdenken? Jutta war tot.

Er stand auf, entsandete sich flüchtig und kletterte zur Straße hinauf, stieg in seinen Wagen und fuhr in sein Appartement, in dem es heiß und stickig war. Wie konnte die Luft im November so dumpf sein?

So dumpf wie seine Gedanken. Dass es keinen Zweck hatte, über Jutta nachzudenken, hieß schließlich noch lange nicht, dass diese Gedanken sich nicht immer wieder von selbst einstellten. Und nachts war es am schlimmsten. Nachts kamen die Gedanken besonders ungehindert – und nachts kam auch das Begehren. Er wusste gar nicht mehr, ob es Sehnsucht nach Jutta war, nach ihrem Körper und ihrem Duft, ihren Zärtlichkeiten und ihren geflüsterten Worten – oder die Sehnsucht nach einer Frau ganz allgemein, nach der Weichheit und dem Duft eines Frauenkörpers, nach Küssen, nach dem Moment des Eindringens, nach der Erlösung...

Eine Zeitlang hatte er geglaubt, er bräuchte einfach nur Sex. Egal mit wem. Aber das hatte sich schnell als Irrtum herausgestellt – bei den zwei, drei Versuchen seit Juttas Tod hatte er nicht gekonnt. Peinliche Situation... einmal war ihm der Rückzieher noch rechtzeitig gelungen, die anderen beiden Male konnte er sich nur verlegen entschuldigen und den betreffenden Frauen versichern, dass es nicht an ihnen gelegen habe. Beleidigt waren sie trotzdem gewesen, kein Wunder. Er war sich sicher, dass dieses Versagen keine körperlichen Ursachen hatte, also hatte es seiner Ansicht nach einfach daran gelegen, dass die Frauen eben nicht Jutta waren.

Nur half ihm das nicht über seine Sehnsüchte hinweg. Er wollte mit einer Frau schlafen. Mit einer Frau, die er liebte – aber er konnte keine mehr lieben. Nicht nach Jutta. Dummes Gefasel, tadelte er sich selbst und boxte sein Kopfkissen zurecht, bevor er sich umdrehte, das konnte gar nicht sein. Man konnte doch nicht sein Leben lang zölibatär leben, weil einen die Erinnerung an eine Tote nicht losließ! Vor allem nicht, wenn das Unterbewusstsein so gar nicht zölibatär war... Die wüsten Träume waren die einzige Erleichterung, die ihm vergönnt zu sein schien – wenn sie lange genug dauerten. Auf die andere Möglichkeit, aus Teeniejahren noch vertraut genug, war er schnell genug gekommen, aber sie funktionierte nicht – immer verlor er mittendrin die Lust. Wie sollte man sich auch in Leidenschaft verlieren, wenn die Phantasien so trübsinnig und die einzige Gesellschaft die eigene Hand war? Armselig.

Vielleicht sollte er, sobald die letzten Lizenzverträge abgeschlossen waren (lange konnte das nicht mehr dauern), nach Hause fliegen und sich wieder auf die Suche machen.

Wenn dann aber auch dieser Frau etwas zustieß...? Er musste etwas an sich haben, was Unglück anzuziehen schien, Unglück, das ihn selbst stets nur indirekt traf. Ächzend suchte er sich wieder eine bequemere Position, strampelte die Decke weg, bis es ihn wieder an den nackten Gliedmaßen fror. Vielleicht sollte er sich doch mal einen Pyjama kaufen.

Nein. Das half gar nichts, er konnte nicht schlafen, weil er unglücklich war, nicht, weil ihm abwechselnd zu heiß und zu kalt war. Wenn er nur endlich einschlafen würde! Lieber ein wilder, erotischer, verstörender Traum als diese quälenden Gedanken. Und sobald wie möglich zurück nach Hause – die Flucht war gescheitert, eindeutig.

Existenzfrage

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