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„Hat man jetzt schon Informationen aus dem Krankenhaus?“ Das klang etwas ungeduldig, und die Sekretärin zuckte auch sehr deutlich zusammen.

„Nein, Herr Bürgermeister. Bis jetzt heißt es immer noch, entweder ein Schwächeanfall oder was mit dem Herzen. Möchten Sie noch einen Kaffee?“

„Natürlich! Und hängen Sie sich noch mal ans Telefon. Vielleicht weiß Katzeders Assistent was.“

„Bestimmt. Aber Sie wissen doch selbst, wie zugeknöpft der ist. Der würde uns nicht mal verraten, wie Herr Katzeder mit Vornamen heißt.“

„Stellen Sie sich nicht so an, machen Sie schon!“

Gereizt lief Leonhard Schmieder in seinem Büro auf und ab. Als sich die Tür hinter der beleidigten Frau Schmalfuß geschlossen hatte, hielt er inne und starrte die nachgedunkelten Porträts oberhalb der Holztäfelung an. Lauter Zweite Bürgermeister. Ganz nett, ja. Aber Erster Bürgermeister, das war eben doch etwas anderes. Vor allem für jemanden, der kein gebürtiger Leisenberger war. Sicher, Katzeders Vorgänger, Ludwig Hawlic, war auch nicht von hier gewesen, aber ein Nachkriegsflüchtling, der schon seit 1946 für die Belange der Flüchtlinge und ihre Integration gekämpft, nebenbei einen florierenden Betrieb (Gewerbesteuern! Werkswohnungen!) aufgebaut und etliche Preise für sein politisches Wirken kassiert hatte. Da konnte er nicht mithalten, er lebte erst seit zwölf Jahren hier. Aber gerade deshalb wäre das Amt des Ersten Bürgermeisters die absolute Krönung. Man müsste nur wissen, wie es Katzeder ging… Natürlich war er in aller Frühe voller Besorgnis und mit einem Riesenstrauß Blumen im Krankenhaus aufgetaucht – von der dort herumlungernden Presse beifällig vermerkt – aber man hatte ihn nicht vorgelassen. Immerhin konnte keiner sagen, er hätte es nicht versucht.

Mies eigentlich, fand er insgeheim, aber in der Politik galt der Schein eben doch mehr. Ob er Katzeder mochte oder nicht, war egal, solange er den Betroffenen gab, sobald eine Kamera auf ihn gerichtet war.

Dabei mochte er Katzeder, der gemütlich und bodenständig war und dick und harmlos wirkte, was seine Feinde immer wieder leichtsinnig werden ließ. Katzeder sah zwar aus wie aus dem Bauerntheater entlaufen, aber er war auch bauernschlau. Geradezu ausgefuchst und ein exzellenter Wirtschaftskenner, selbst Geschäftsmann und ein heimtückischer Jurist, der zu allem bereit war, wenn es Leisenberg nur nützte. Obendrein völlig unbestechlich. Er nahm nur, was er legal kriegen konnte, und lieferte es bis auf den letzten Cent bei der Stadtkasse ab. Sein Sparprogramm hatte dafür gesorgt, dass Leisenberg finanziell deutlich besser dastand als manch größere Stadt, er hatte solide Betriebe in die Stadt geholt und erbittert gegen Industriegebiete in den Gemeinden gekämpft, die nicht mehr zu Leisenberg gehörten. Sein letzter Coup war die Privatisierung der Städtischen Buslinien gewesen, die seitdem, da zu zwei Firmen gehörend, nicht nur die Fahrpreise gesenkt, sondern auch noch den Service verbessert und einige neue Fahrer engagiert hatten. Wie er das bloß wieder hingekriegt hatte...

Dem Zweiten Bürgermeister blieben dagegen traditionsgemäß Kulturbelange (die bloß kosteten und die Bürger kaum interessierten) und Repräsentationspflichten. Um die großen Dinge kümmerte sich Katzeder immer selbst, und als Nachfolger hatte er sich wohl diesen jungen Dr. Richter ausgeguckt, der als sein treu ergebener Assistent schon Erfahrungen sammeln konnte und bei allen Insidergesprächen dabei war. Im Gegensatz zu ihm!

Schmieder seufzte frustriert. Wenn er Richter aus dem Rennen werfen wollte, musste er es raffiniert anfangen. Nur wie? Sollte er schon eine Kampagne planen? Wenn Katzeder länger außer Gefecht gesetzt wäre, würde eine Nachwahl angesetzt werden, und dann musste er schneller sein als Richter.

Aber wenn er jetzt vorpreschte, sah es ziemlich nach Leichenfledderei aus. Gut, er konnte betonen, dass er im Sinne des leider verhinderten, allseits verehrten Katzeder weitermachen wollte – aber diese Schiene würde schon Richter fahren. Blöde Situation. Es klopfte. Na endlich, vielleicht hatte die Schmalfuß neue Fakten!

Statt Frau Schmalfuß trat aber seine Tochter ein. Sie küsste die Luft neben seiner Wange und er trat hastig zurück, weil ihm ihr extrem herbes Parfum Kopfschmerzen verursachte. „Was gibt es?“

„Weißt du schon, was du tun willst? Es heißt, Katzeder hat einen schweren Herzinfarkt.“

„Ach ja? Eben noch hieß es, kein Kommentar.“

„Ich habe meine Quellen. Der Herzinfarkt ist ziemlich sicher. Wochen im Krankenhaus, dann Reha, dann Schonung – wir brauchen einen Nachfolger für ihn. Was willst du also tun?“

„Seine Nachfolge antreten, ohne zu gierig auszusehen.“ Er lächelte schief.

Sie setzte sich auf die Schreibtischkante und ließ ein hauchdünn bestrumpftes Bein entspannt hin und her schwingen. „Das heißt, jemand muss dich anflehen, dich zu opfern?“

„Das wäre natürlich ideal. Die Partei - “

„Die Partei wird Richter anflehen, mach dir da mal nichts vor. Das Kerlchen hat Charisma. Andererseits... er wirkt ein bisschen links, wenn man das ausbauen könnte...“ Sie sah nachdenklich vor sich hin.

„Verleumdung?“, fragte Schmieder etwas irritiert.

„Unsinn. Zweckgerichtete Informationsstreuung. Er ist ein bisschen links.“

„Weil er ab und an auch Arbeitnehmerbelange im Auge hat? Übertreib nicht, Ursel.“

„Er ist ein Weichei. Mittelstandsvereinigung und Local Agenda, da lässt sich vielleicht was machen. Ich höre mich mal um. Was ist mit der Agentur?“

„Agentur?“ Ursula Breitl sah ihren Vater mit schlecht verhohlener Ungeduld an. „Die Werbeagentur! Solltest du nicht langsam Kontakt aufnehmen?“

Schmieder zuckte die Achseln. „Mit welcher? Nehme ich die übliche, bin ich pietätlos. Nehme ich eine andere, ist die Partei beleidigt – und unsere Standardagentur sowieso. Was ist das kleinere Übel?"

„Wenigstens hast du dir schon Gedanken gemacht. Die Agentur, die die Partei immer hat, taugt doch sowieso nichts. Ich hab auch schon über einen Wechsel zu XAM! nachgedacht. Die haben deutlich mehr drauf.“

„Für mich?“

Verächtlicher Blick. „Nein, für mich selbst. Dieses Mal will ich mit einer anständigen Mehrheit in den Stadtrat. Und Bildungsreferentin werden.“

„Wieso ausgerechnet Bildung?“

„Meinetwegen auch Kultur. Dann kann man diesen experimentellen Wildwuchs mal kräftig zurückschneiden. Man kann den Bürgern ohnehin nicht vermitteln, dass man mit Steuergeldern subventioniert, wenn sich ein paar Nackte kreischend auf der Bühne wälzen.“

„Heb dir deine Wahlreden für bessere Gelegenheiten auf. Wieso glaubst du, dass du deinen Wahlkampf auf eigene Faust organisieren kannst?“

„Lass mich nur machen. Alles eine Geldfrage!“

„Und eine Frage des einheitlichen Auftritts. Du wirst dich noch wundern.“

„Wart´s nur ab. Und du? Eigentlich ging es doch um deine Kandidatur für Katzeders Nachfolge? Apropos – wenn du Erster wirst, wer soll dann deine Nachfolge antreten?“

Das gierige Funkeln in ihren hellen Augen ärgerte ihn. „Du auf keinen Fall.“

„Ach nein? Ist das nichts für eine Frau? Ich soll wohl zu Hause brüten?“

„Quatsch. Aber Fakt ist -“

„Würdest du dir endlich diese grässliche Wendung abgewöhnen? Das ist dermaßen verräterisch!“

„Na und? Meine Biographie ist doch allgemein bekannt. Meinetwegen, hier die Tatsachen: a) du bist zu jung, b) du bist meine Tochter, das ist Vetternwirtschaft in Reinkultur, c) du hast zu wenig Erfahrung, weil du erst seit drei Jahren im Stadtrat sitzt.“ Ursula verdrehte die Augen. Zwei Punkte waren nicht zu bestreiten, aber der erste? „Ich bin beinahe vierzig, im Alten Rom hätte ich damit schon fast Konsul werden können. Zu jung, also so was!“

„Zu jung, wenn man bedenkt, dass du vor deinem sechsunddreißigsten Geburtstag nie politisch in Erscheinung getreten bist. Und bis jetzt auch nicht gerade so ein Senkrechtstarter warst. Wie sieht das aus, wenn ich eine x-beliebige Jungstadträtin zur Zweiten Bürgermeisterin mache, bloß weil sie meine Tochter ist?“ Das war leider nicht von der Hand zu weisen. Ursula rümpfte ärgerlich die Nase.

Frau Schmalfuß kam herein, mit einem Kaffeetablett und einem Bündel Zettel.

„Ich habe Herrn Dr. Richter erreicht, Herr Katzeder hat einen Herzinfarkt, und Dr. Richter wird erst einmal kommissarisch die Amtsgeschäfte übernehmen.“

„Danke.“ Schmieder nickte gelassen und dachte sich Mist – Mist - Mist – genauso hätte es nicht kommen sollen!

Ursula sah ihren Vater starr an. „Na – soll ich lieber doch?“

Er starrte zurück, dann seufzte er. „Meinetwegen, versuch dein Glück.“

Existenzfrage

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