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Sissi fühlte sich einigermaßen müde, aber zufrieden, als sie nach Hause kam. Lange Meetings, die Lösung des lästigen Pfister-Problems, Verhandlungen mit dem Betriebsrat und eine geniale Idee, die Personalverwaltungssoftware viel zeitsparender einzusetzen – ein erfolgreicher Tag. Die Mittagspause war allerdings durch die lästige Frau Koch beeinträchtigt worden, die wieder einmal versucht hatte, ihr ein Zeitschriftenabonnement aufzuschwatzen, um eine von diesen blöden Prämien zu kassieren. Schließlich war sie beleidigt abgezogen, und Sissi hatte sich endlich ungestört ihrem Salat mit Entenbruststreifen widmen können.

Doch, ein guter Tag, das konnte man nicht bestreiten. Und jetzt hatte sie sich einen friedlichen Feierabend verdient – ein entspannendes Bad, die Nelkenduftkerze, den Krimi – vielleicht ein bisschen Herumsurfen, das eine oder andere Telefonat mit Nadine oder Vera, leise Musik im Hintergrund. Dass man sich so schnell auf das Heimkommen freuen konnte, obwohl das Haus doch wirklich schauerlich war? Egal, zu Hause war einfach, wo das Bett mit dem eigenen Bettzeug bezogen war.

Und der Keplerweg hatte eigentlich eine nette Atmosphäre, so friedlich und altmodisch – die Reihenhäuser aus den späten Zwanzigern nebenan, das verwunschene Fachwerkhaus schräg gegenüber... sogar das graubraune Scheusal, das nun ihres war. Sie ließ den Motor laufen, während sie das Gartentor aufschloss und die quietschenden Flügel festhakte, aber bevor sie wieder ins Auto steigen konnte, rief jemand „Hallo?“

Sie seufzte, fuhr den Wagen in die Einfahrt und stellte den Motor ab, dann stieg sie wieder aus. Auf dem Bürgersteig stand eine ältere Frau. „Hallo?“, wiederholte sie.

„Guten Abend“, antwortete Sissi in leicht fragendem Tonfall. Ging die Abonnementwerbung jetzt nahtlos weiter? „Entschuldigen Sie, aber ich weiß im Moment nicht...“

„Wohnen Sie jetzt hier?“

„Ja“, bestätigte Sissi knapp. „Frau – äh -“, die Passantin verrenkte sich kurz den Hals, um auf das Türschild zu gucken, „Dalberg?“

Sissi lachte. „Nein, ich habe das Haus von Herrn Dalberg gemietet. Mein Name ist Hassfurter. Und Sie sind - ?“

„Müller. Einfach Frau Müller. Ich wohne nebenan. Hoffentlich fühlen Sie sich hier wohl! Bleiben Sie lange hier? Mit Familie?“

Gott, war die Frau neugierig! „Herr Dalberg hat nur für sechs Monate vermietet“, antwortete sie deshalb nur. „Ach ja, der arme Mann. Es hätte mich nur gefreut, wenn er so eine nette Frau hätte, er wirkt so traurig. Ich hab ihn ja nur einmal gesehen, aber da hat er wirklich unglücklich ausgeschaut.“

Sissi schloss langsam, aber nachdrücklich die schmiedeeisernen Torflügel. Frau Müller reagierte nicht beleidigt, sondern stützte sich gemütlich auf die Verzierungen. „Eigentlich ja ein komisches Haus – so finster. Da ruht kein Segen drauf.“

„Ach ja?“ Spukte es hier womöglich? Sissi fühlte sich, als sei sie in einen dieser unsäglichen Ladythriller geraten, die Doro früher immer verschlungen hatte.

„Ja, wissen Sie – der Herr Dalberg hat das Haus ja auch erst im Oktober gekauft, und vorher, der Herr Freudenreich -“

„Hübscher Name“, kommentierte Sissi, nun doch interessiert.

„Ja, aber er passte überhaupt nicht.“ Die Kunstpause erforderte wieder einen Beitrag. Sissi spielte mit: „Ach ja? Wieso denn?“

„Na, die Freudenreichs haben das Haus, ich glaube, 1970 gekauft. Da war er noch recht jung, die Frau war bildhübsch, er hat gut verdient -“

Typische Arbeitsverteilung, ärgerte Sissi sich im Stillen, zog aber weiterhin ein interessiertes Gesicht. „- und sie hatten schon ein Baby. Süßer Fratz. Hat zwar ziemlich viel geschrieen, aber das ist ja wohl normal, das weiß ich noch von meinen eigenen Kindern. Dann haben sie ziemlich rasch noch zwei Kinder gekriegt.“ Bis jetzt klang das noch nicht direkt nach einer Katastrophe; Sissi fragte also: „Und dann ging etwas schief?“

„Sozusagen. Es war nichts Plötzliches... die Kinder wurden größer, und dann ist die Älteste, die Manuela, plötzlich verschwunden. Da war sie vierzehn, das muss dann dreiundachtzig oder vierundachtzig gewesen sein...“

Sie verstummte und sah Sissi misstrauisch an. „So alt wie Sie! Sie sind nicht zufällig...?“

Sissi schüttelte den Kopf. „Soll das heißen, sie ist nie wieder aufgetaucht?“

„Genau. Die Eltern waren fix und fertig, Aufrufe im Fernsehen, Polizei – nichts. Und vor lauter Theater um die Manuela haben sie wohl die anderen beiden ein bisschen aus den Augen verloren – bis die Polizei ins Haus kam. Polizei im Keplerweg – das war neu, und viele Nachbarn waren sauer deshalb. Ich ja nicht, man muss immer offen sein, nicht?“

„Außerdem konnten die Freudenreichs doch wohl nichts dafür, wenn ihre Tochter verschwindet“, empörte Sissi sich. Das schien ja eine bescheuerte Nachbarschaft zu sein!

„Ja, schon, aber die kamen nicht deshalb. Der Helmut, der mittlere, war in eine Bande geraten, die Automaten aufgebrochen hat. Mit fünfzehn! Na, er hat sich nicht gebessert und musste dann in ein Erziehungsheim, und die Jüngste, die Brigitte, ist dann nach dem Abitur auch weg. Nach Berlin, glaube ich. Da muss es ja kurz nach der Wende noch wüst zugegangen sein. Die Eltern haben sich solche Sorgen gemacht!"

„In Berlin geht es immer wüst zu, dafür ist es die Hauptstadt“, kommentierte Sissi. „Immerhin hat sie ihr Abitur geschafft, oder?“

„Ja, und sie wollte irgendwas Komisches studieren, mit Computern oder so.“

„Informatik?“

„Ich glaube. Was immer das ist. Sie hat nicht viel von sich hören lassen. Na, der Kummer mit den Kindern war wohl zuviel für die Eltern, jedenfalls ist Frau Freudenreich krank geworden...“ Sie senkte die Stimme und hauchte: „Krebs!“ Sissi zog ein mitfühlendes Gesicht.

„Na, und als sie dann unter der Erde war, kamen zwar die Kinder kurz vorbei, aber der Vater hat sie angeschrieen, sie seien an allem Schuld, mit ihren Verbrechen und weil sie sich nie gekümmert haben. Ich hab´s genau gehört, ich war gerade im Garten, und bei denen war die Terrassentür offen... jedenfalls hat er seine Kinder enterbt.“

„Und dann hat er das Haus verkauft?“

„Aber nein!“ Frau Müller schenkte Sissi einen mitleidigen Blick. „Jetzt doch noch nicht!“

„Ach so.“

„Erst hat er alleine gelebt. So alt war er ja auch noch nicht, gerade mal Mitte fünfzig vielleicht. Sozusagen in den besten Jahren. Er hatte dann wohl auch mal eine Freundin, aber das scheint nichts Rechtes geworden zu sein. Die Kinder kamen ab und zu vorbei, aber er wollte sie nicht sehen, und dann haben sie irgendwann aufgegeben. Kann man auch wieder verstehen. Ich meine, die größten Sorgen hatten sich die Eltern ja wohl um die Manuela gemacht, und dann werden die anderen beiden beschuldigt, nicht? Erst dieses Frühjahr hat er beschlossen, dass ihm das Haus zu groß wird. „Frau Müller“, hat er zu mir gesagt, „was soll ich mit all den Zimmern? So viel Arbeit. Dabei genügen mir doch zwei Zimmer. Mich strengt das alles bloß an, und dann die Erinnerungen...“ Ja, und dann ist er raus. Hat fast alles verkauft und ist in ein Appartement in Moosfeld gezogen, direkt am Waldrand, richtig schön ruhig. Die Kinder waren sauer, von wegen Elternhaus und so, aber es war schließlich sein Haus. Und er wollte das Geld für das Haus wohl auf jeden Fall noch zu Lebzeiten ausgeben, damit die Kinder nichts kriegen.“

Der schien ja ein ziemlicher Rabenvater zu sein! Sissi war er jedenfalls nicht allzu sympathisch. „Bisschen hart gegen die Kinder“, bemerkte sie also.

„Ja, finde ich auch. Sie sehen – Freudenreich ist für diese Familie nicht sehr passend. Na, und dieser Dalberg – wie gesagt, ich hab ihn ja nur einmal gesehen – ich denke: schön, reich und unglücklich.“

„Ach ja?“

„Ja. Ein hübscher Kerl, wirklich. Etwas dunkel vielleicht, richtig verdüstert. Na, Sie kennen ihn wohl besser.“

„Ich habe ihn nie gesehen. Das lief alles über das Maklerbüro. Aber vielleicht hat er bloß den Kauf bereut – an dem Haus wäre wirklich eine Menge zu machen. Ich hätte ja keine Lust darauf, hier jahrelang herumzuwerkeln. Wann ist das Haus eigentlich gebaut worden?“

Frau Müller legte den Kopf schief und dachte so intensiv nach, dass ihre Augen glasig wurden. „Vierunddreißig, glaube ich. Meine Schwiegermutter, Gott hab sie selig, hat da mal was erzählt... das müssten die Gerbers gewesen sein. Er war was in der Partei und sie war ein bisschen schwermütig. Vier Söhne... die sind später alle im Krieg geblieben.“

„Alle vier?“

„Ja. Hart, was? Jedenfalls haben die sich bei Kriegsende erschossen, ob wegen dieser Nazisachen oder wegen der Kinder, weiß man nicht. Ich sag ja, auf dem Haus ruht kein Segen.“ Sissi fror und spürte, wie die Nässe langsam in ihre Businesspumps kroch, aber jetzt wollte sie es doch noch genauer wissen.

„Möchten Sie nicht hereinkommen? Dann könnten wir uns im Warmen unterhalten.“ Frau Müller wehrte entsetzt ab. „Nein, nein, ich hab ja gar keine Zeit, ich wollte doch bloß schnell noch etwas Aufschnitt – wo war ich stehen geblieben?“

„Die Gerbers haben sich erschossen.“

„Ja, genau. Meine Schwiegermutter hat ja damals schon hier gewohnt... unser Haus war ziemlich beschädigt, das Gerberhaus komischerweise gar nicht, da sind nicht einmal die Scheiben rausgeflogen, als vorne am Waldburgplatz die Luftmine runtergekommen ist... Es hat jedenfalls einige Wochen gedauert, bis man die Leichen gefunden hat...“

„Äh“, konnte Sissi nicht unterdrücken. Frau Müller zuckte die Achseln.

„Da lagen doch überall Leichen unter den Trümmern, ich denke, an den Gestank waren die Leute gewöhnt. Ich hab damals noch gar nicht hier gewohnt, bei Kriegsende war ich ja auch noch ein Baby... und meine Schwiegermutter eine blutjunge Frau... Witwe, mit einem kleinen Sohn...“ Sie lächelte wehmütig.

„Jedenfalls, das Haus haben dann die Quenkes bewohnt, aber denen gefiel es hier nicht. Die waren aus Berlin, geflohen, denke ich mal, und haben hier keinen verstanden, die sind schnell wieder zurück nach Berlin. Danach kamen die Kästles, aber er hatte dann einen Autounfall – komisch, in den Fünfzigern gab es doch noch gar nicht so viel Verkehr, nicht? – und sie alleine konnte das Haus nicht halten. Kein Wunder, mit zwei kleinen Kindern. Wo die wohl hin sind? Dann ist es eine Zeitlang leer gestanden... ja, genau, und dann kam der Jungerer, der hat es gründlich saniert, richtige Bäder rein und so, das muss in den mittleren Sechzigern gewesen sein. Aber er hat sich wohl übernommen, jedenfalls wurde es zwangsversteigert, und so sind die Freudenreichs billig an das Haus gekommen. Seit dem Jungerer hat auch keiner mehr was an der Fassade gemacht. Die war mal beige – kaum zu glauben, nicht?“

„Tatsächlich“, murmelte Sissi. „Ich hätte nicht gedacht, dass hier so viel Dreck in der Luft liegt.“

„Jaja – so ein Haus macht viel Arbeit, da muss man schon regelmäßig was tun... wir lassen alle zehn Jahre streichen.“ Sie wies mit stolzer Geste auf das Haus nebenan, das in blassem Grau erstrahlte.

„Sehr gepflegt“, lobte Sissi. „Hat mich sehr gefreut, Sie kennen zu lernen, Frau Müller, aber ich glaube, wenn Sie sich nicht beeilen, wird es nichts mehr mit dem Aufschnitt.“ Rascher Blick auf die Uhr. „Oder haben die Läden hier draußen bis um acht auf?“

„Nein, du lieber Himmel, ich muss jetzt aber wirklich... so geht´s, wenn man sich verplaudert, nicht? Aber es ist doch immer schön, wenn man nette neue Nachbarn kriegt, nicht? Bis bald mal!“ Sie eilte mit ihrer Einkaufstasche davon; Sissi lehnte sich gemütlich auf das Gartentor und sah ihr erheitert nach. Nette Frau, recht kontaktfreudig. Wahrscheinlich würde das mit der Zeit lästig werden, aber so ganz ohne Bekannte – das war schließlich auch nichts.

„He, Sie da! Wohnen Sie hier?“ Ein älterer Herr war vor ihr stehen geblieben. „Sieht so aus“, antwortete Sissi und lächelte.

„Werden Sie nicht frech, junge Frau! Wissen Sie nicht, dass Sie den Bürgersteig sauber halten müssen? Hier kann man ja ausrutschen!“ Sissi schielte über das Tor. „Da liegt doch gar nichts! Worauf wollen Sie denn da ausrutschen?"

„Auch noch widersprechen? Sehen Sie das Laub nicht?“ Er deutete mit der Spitze seines Stocks erbost auf ein einzelnes vertrocknetes Ahornblatt.

Sissi öffnete das Tor, warf ihm einen spöttischen Blick zu, hob das Blatt mit spitzen Fingern auf und ließ es in ihre Mülltonne fallen. „Zufrieden?“

Er lief puterrot an. „Das gehört auf den Kompost! Und machen Sie sich ja nicht über mich lustig!“

„Das würde ich doch nie wagen...“ Sissi verbiss sich mühsam das Grinsen, bis der wütende Passant nach einem letzten zornigen Schnaufer weiter gezogen war. So Unrecht hatte er leider gar nicht. Nicht wegen dieses vereinsamten letzten Blättchens – aber wahrscheinlich musste sie auch in aller Herrgottsfrühe Schnee schippen, wenn es erst einmal so weit war. Gab´s hier überhaupt eine Schneeschaufel? In der Garage? Im Gartenschuppen?

Sie stellte ihre Aktentasche im Hausflur ab und machte sich auf die Suche. Einen Gartenschuppen gab es schon mal gar nicht, obwohl man noch erkennen konnte, wo in den Fünfzigern einer gestanden haben musste. Außer den Resten des Fundaments und zwei morschen, abgebrochenen Brettern war nichts mehr zu sehen. Ein Komposthaufen übrigens auch nicht.

Und die Garage war abgesperrt. Sissi probierte alle Schlüssel durch und wurde schließlich belohnt -–die Seitentür öffnete sich quietschend und enthüllte einen großen, dunklen BMW. Sie tätschelte anerkennend den schimmernden Lack und machte sich auf die Suche, fand aber nur ein windschiefes, offenbar selbst gebasteltes Regal mit allerlei verrostetem Zubehör – und einen absoluten Klassiker: Jetzt helfe ich mir selbst – VW K 70. Völlig verschossen natürlich, und vom Umschlag blätterte die Schutzfolie ab. Keine Schneeschaufel, kein Rechen, kein Besen. Sissi seufzte und beschloss, dem Baumarkt einen Besuch abzustatten. So viel zum gemütlichen Feierabend – das Dasein als Hausbesitzer hatte eindeutig seine Tücken. Vor allem, wenn einem die Hütte noch nicht mal gehörte, ärgerte sie sich auf dem Rückweg, Schaufel, Besen, Rechen und einen Sack Rollsplitt im Kofferraum. Die Rechnung würde sie diesem Dalberg aber präsentieren!

Existenzfrage

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