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Peter hasste Pressekonferenzen, dabei erfuhr man fast nie mehr, als die Leute einen wissen lassen wollten. Und die Konkurrenz bekam genau das gleiche zu hören. Ein Interview unter vier Augen brachte da ungleich mehr. Aber wenn Irrgang ihn hierhin scheuchte, musste er wohl froh und dankbar sein: Wenigstens war es Politik – oder etwas Ähnliches.

In den letzten Tagen hatte er Schultheater, eine Hundeausstellung, zwei Auffahrunfälle (ausgeschmückter Polizeibericht) und eine Diskussion des Pfarrers von St. Korbinian mit einem Medienfuzzi über den Verfall moralischer Werte gehabt und ziemlich intensiv bereut, dass er nichts Anständiges gelernt hatte, Metzgereigehilfe zum Beispiel. Oder Tankwart.

Dagegen war doch eine Pressekonferenz, die Schmieder und Richter gemeinsam gaben, direkt ein aufregendes Ereignis!

Peter hatte immer schon gewusst, dass er nicht Lokalreporter bleiben, sondern entweder Politik oder – eindeutig zweite Wahl – wenigstens Kriminalfälle zu seinem Spezialgebiet machen wollte. Außerdem wollte er nicht beim MorgenExpress bleiben – dieses beschränkte Provinzblatt! – sondern eines Tages bei einem überregionalen Politikmagazin arbeiten, und da kam eigentlich nur eine einzige Redaktion in Frage. Einmal, als er die Privatgeschäftchen eines Stadtrats aufgedeckt und an die Öffentlichkeit gebracht hatte, hatte er sich schon fast am Ziel seiner Wünsche gewähnt; Kollegen des verehrten Magazins hatten ebenfalls über den Fall berichtet, sich sogar mit ihm besprochen (Irrgang hatte geknurrt), aber das erhoffte ehrenvolle Angebot aus Hamburg war ausgeblieben.

Na gut, hatte er sich gesagt, beim MorgenExpress kann man auch was lernen, und man spezialisiert sich nicht zu früh. Immerhin war er noch nicht mal dreißig! Aber bald. Und an seinem dreißigsten Geburtstag, das hatte er sich fest vorgenommen, würde er

a) das Rauchen aufhören

b) etwas Besseres als Lokalreporter sein, egal, wo.

c) die Frau seiner Träume kennen gelernt haben.

Er hatte noch sieben Monate Zeit, aber bis jetzt sah es nicht so aus, als würde er auch nur einen dieser Vorsätze rechtzeitig verwirklichen können. Silvia konnte er haben, Silvia, die die Horoskope und die Lokalglosse machte und Peter seit zwei Jahren anschmachtete, aber die wollte er nicht. Zu weich und warm und willig. Genau wusste er nicht, was er wollte, aber Kratzbürsten reizten ihn auf jeden Fall mehr als diese heiratsgeilen Schnecken mit ihrer biologischen Uhr. Ecken und Kanten und ein zynisches Mundwerk, so eine Frau hatte er noch nie getroffen. Wahrscheinlich gab es so was bloß im Film. Toughe Kommissarinnen oder so – ihm fiel nicht einmal da ein konkretes Beispiel ein.

Vorne machte sich Unruhe breit, anscheinend tauchten die beiden Kandidaten auf. Nachdem nun klar war, dass Katzeder sich längere Zeit sehr schonen musste, hatten sich endlich beide dazu bekannt, seine Nachfolge anzustreben, und der Fraktionsvorsitzende im Rathaus, Eberhard Loos, hatte diese Pressekonferenz einberufen – in dem offenkundigen Irrglauben, so die Sache unter Kontrolle halten zu können. Warum entschied die Partei das nicht einfach? Wollte man einen auf basisdemokratisch machen?

Schmieder und Richter traten auf und setzten sich an den mit Mikrofonen gespickten Tisch, Loos saß dazwischen, was den Eindruck erweckte, er wollte sie von Handgreiflichkeiten abhalten. Guter Gedanke! Peter kritzelte fleißig und kontrollierte noch einmal sein Aufnahmegerät.

Richter und Schmieder warfen sich unfreundliche Blicke zu und lächelten dann verkrampft im Blitzlichtgewitter.

Ziemlich ähnlich äußerlich, die beiden, stellte Peter fest, beide schmal und hungrig, eher dunkel im Typus, schmallippig, helläugig, ein bisschen asketisch. Nicht, was man hier so schätzte. Katzeder war eher der Prototyp eines bayerischen Bürgermeisters, wenigstens so, wie der Rest der Welt ihn sich vorstellte.

Soweit der Rest der Welt sich für diese Frage überhaupt interessierte. Es hatte ja schon was von dem legendären Sack Reis, der in China umfällt... Wieder nichts mit der internationalen Berühmtheit!

Erst einmal verkündeten beide ihre Pläne, Schmieder als amtierender Zweiter Bürgermeister zuerst. Hochinteressant – mehr Geld in die Stadt, geringere Steuern für alle, Ausbau des Stadtrings im Süden, wo seit zwanzig Jahren noch ein Stückchen fehlte (Zwischenruf: „Wozu denn?“), neue Kindergärten, Rauchverbot an den Bushaltestellen (schallendes Gelächter im Saal), Verbot des Nacktbadens im Prinzenpark (erheitertes Geraune), Kulturförderung.

Bevor die Journalisten nachbohren konnten, ergriff Dr. Richter das Wort. Zehn Jahre jünger als Schmieder, „von hier“, aber ansonsten der gleiche Bürokrat. Nur sein zögerndes Lächeln sorgte dafür, dass zumindest die Mädels dahin schmolzen. Sein Programm hörte sich kaum anders an, nur hatte er den Ausbau des Stadtrings durch eine neue Fußgängerzone rund um den Klosterplatz ersetzt und wollte statt neuer Kindergärten lieber die Gymnasien der Stadt sanieren, wo nötig. Außerdem – und das würde ihn kaum populär machen – wollte er mit einem kräftigen Rotstift die Liste der Städtischen Zuschüsse durchgehen: „Damit ließen sich vielleicht sogar die Großprojekte meines geschätzten Konkurrenten finanzieren...“ Sein Lächeln war ansteckend, es gab Gekicher im Saal und Schmieder lief vor Ärger rot an.

Und schließlich wollte Richter ein neues Wohnungsbauförderungsprogramm für junge Familien auflegen, was spontanen Beifall auslöste.

Peter war ratlos. Beide waren ganz vernünftig, aber nicht sehr spannend, beide hatten mit der Stadt nichts übermäßig Aufregendes vor. Die Sache mit dem Stadtring war allerdings wirklich Quatsch, gerade im Süden der Stadt war der Verkehr eher gering und die Ersatzstrecke war immerhin ein Stück Bundesstraße, das reichte ja wohl. Und die Wohnungen – sicher sinnvoll, aber wahrscheinlich zu teuer oder nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Die ersten Fragen hielten sich im Rahmen – wie Schmieder seine Projekte finanzieren und zugleich die Steuern senken wollte, wo doch die Gewerbesteuereinnahmen ohnehin schon so abgesunken seien? Ob Richter bei jungen Familien etwa auch an Alleinerziehende denke? (Dies von einem sehr konservativen Sonntagsblatt, bei dem sich Peter immer wunderte, wer das überhaupt noch las.) Ob die beiden ihren Wahlkampf gemeinsam betreiben würden? Höhnisches Gelächter im Saal und auf dem Podium.

„Kaum“, antwortete Richter und lächelte in bewährter Manier, „ich werde mich an die Agentur halten, die bisher immer für unsere Partei so gut gearbeitet hat, und Herr Schmieder möchte neue Wege einschlagen.“

Das klang wie ein Treuebruch.

Plötzlich öffnete sich die Tür und ein sehr jung aussehendes Mädchen kam herein, mit langem blondem Zopf und in Jeans und Pullover. Sie sah sich suchend um, neugierig beobachtet von allen Anwesenden, und kletterte dann aufs Podium. „Markus!“

Dr. Richter erhob sich verwirrt, und im nächsten Moment warf sich das Mädchen ihm an den Hals. Aufgeregtes Geraune im Saal. Richter entfernte die Hände des Mädchens vorsichtig von seinem Nacken und fragte: „Wer sind Sie denn, bitte?“ Sie brach in Tränen aus. „Wer ist das?“, rief sofort einer aus dem Publikum, aber er wurde niedergezischt – nicht, dass man noch etwas verpasste! „Markus! Du verleugnest mich?“

Eigenartige Wortwahl für ein so junges Ding, fand Peter insgeheim und passte weiter gespannt auf. „Du hast doch gesagt, du liebst mich!“

„D-das muss eine Verwechslung sein, Frau – äh. Ich habe Sie doch noch nie gesehen!“ Das hatte einen neuen Tränenstrom zur Folge. „Und jetzt, wo ich dich so dringend brauche, lässt du mich einfach im Stich! Markus, du bist wirklich ein Schuft!“

Peter schrieb das alles mit und wunderte sich immer mehr. Schuft? Eine Achtzehnjährige – so sah das Mädchen wenigstens aus – hätte doch Schwein gesagt, Drecksack, total gemein, die letzte Ratte – es gäbe jede Menge passende Schimpfwörter, aber Schuft? Wie aus einem altmodischen Roman! Sie weinte jetzt still vor sich hin, von Dr. Richter nachdrücklich auf einen Stuhl gesetzt. „Meine Damen und Herren“, rief er, ganz verstört dreinblickend, „bitte glauben Sie mir – ich kenne die junge Dame wirklich nicht. Sicher handelt es sich um eine Verwechslung, Richter ist ja kein so seltener Name...“ Seine Stimme erstarb, das Argument war ja auch ziemlich bescheuert, fand Peter. Trotzdem war das Ganze ein bisschen seltsam.

„Wie heißt denn die junge Dame?“, rief er nach vorne und erhob sich von seinem Stuhl. „Lachner, MorgenExpress.“

„Ach ja, Herr Lachner. Ich weiß es auch nicht.“ Er beugte sich zu der schluchzenden Gestalt herunter, erhielt aber keine Antwort; nur ein Aufjaulen und pathetisch vors Gesicht geschlagene Hände waren die Reaktion.

„Kriegt sie ein Kind?“, rief jemand anderes, der es nicht für nötig zu halten schien, Namen und Zeitung zu nennen, wie es hier eigentlich üblich war.

Das Mädchen ließ die Hände sinken, jaulte „Ja!“, und schluchzte weiter.

Schmieder und Loos wirkten fast genauso verstört wie Richter – obwohl doch Schmieder seinen Nutzen daraus ziehen konnte. Hatte er das noch nicht kapiert? Peter hatte gute Lust, noch mal aufzustehen und das Mädchen zu fragen, wer ihm den antiquierten Text aufgeschrieben hatte, aber dazu brauchte er wohl bessere Beweise als bloß sein unbestimmtes Gefühl, dass hier etwas faul sein konnte. Um das Gleichgewicht wieder herzustellen, erhob er sich nun doch und fragte Schmieder, ob er jemals von der Stasi belästigt worden sei. Schmieder sah wie vom Donner gerührt drein, und im Publikum wurde es wieder still, so dass das leise und arg gleichmäßige Schluchzen des Mädchens im ganzen Raum zu hören war.

„Nun, nein – ja, wahrscheinlich. Ich muss gestehen, ich wollte meine Unterlagen nicht einsehen. Wissen Sie“ – jetzt wurde er flüssiger – „man erfährt ja doch nur, welche guten Freunde gar keine so guten Freunde waren, und wozu soll das noch gut sein? Man muss ein Kapitel auch einmal beenden können.“ Peter nickte. „Und Sie wurden auch nie aufgefordert, andere auszuforschen?“ Schmieder lachte unfroh. „Kaum! Sie wissen ja, ich stand eher auf der anderen Seite...“

Peter bedankte sich und setzte sich wieder. Nicht unglaubhaft – und Schmieder hatte sich gleich geschickt als Kämpfer die für Freiheit präsentiert. Trotzdem... Peter glaubte ihm nicht. Aber das konnte auch eine Art von Sippenhaft sein; er fand die Breitl einfach so entsetzlich - Leisenbergs Antwort auf Maggie Thatcher.

Richter war immer noch fix und fertig und versuchte, das Mädchen zu beruhigen; die meisten im Publikum erkannten wohl schon, bevor Loos die Konferenz für beendet erklärte, dass hier nichts mehr zu holen war, packten zusammen und schoben sich dann Richtung Ausgang. Peter blieb noch. Er wollte ohnehin etwas anderes schreiben als die Leute von Hot! und der Bildzeitung, und das Mädchen interessierte ihn, also drückte er sich draußen vor der Tür herum. Vielleicht passierte ja etwas Aufschlussreiches?

Zunächst sah es nicht so aus, halblautes, ärgerliches Gemurmel, aus dem sich ab und zu die tiefe, ratlose Stimme Richters erhob, aber dann flog die Tür auf und das Mädchen rannte nach draußen. Peter schaffte es, mit ihr zusammenzuprallen. Sofort entschuldigte er sich aufs Ehrerbietigste, half ihr wieder auf und sammelte auch alle Habseligkeiten ein, die ihr aus der Handtasche gefallen war.

Sie bedankte sich verschreckt und rannte weiter; Peter folgte ihr langsam nach draußen, zündete sich dort eine wohl verdiente Zigarette an und setzte sich auf einen Betonpoller, um aufzuschreiben, was ihm aufgefallen war.

Zunächst war die Kleine mitnichten achtzehn, sondern gut zehn Jahre älter, oder sie musste eine extrem trockene Haut haben. Die Fältchen um die Augen und in den Mundwinkeln waren recht aufschlussreich. Und dann hatte er einen Moment lang ihren Führerschein in der Hand gehalten. Fürs Geburtsdatum hatte es nicht gereicht, aber für den Namen – Heidi Fallmerayer.

Er sah auf die Uhr. Um vier musste der Artikel fertig sein; jetzt war es Viertel vor zwölf. Um zwei hatte er noch einen Termin, nichts Weltbewegendes, wie meistens. Also ran ans nächste Telefonbuch! Es gab tatsächlich eine Heidi Fallmerayer – nur eine. Hoffentlich war sie das. Adresse in Selling... Peter notierte sie sich und überlegte, wo er seinen Wagen gelassen hatte.

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