Читать книгу Von Blüten und Blättern - Elisabeth Göbel - Страница 12
9. Januar, Sonntag
ОглавлениеDie Sonne scheint, der Schnee geht weg. Die Menschen wenden ihr Gesicht zum Licht und machen die Augen zu. Ich erzähle jetzt eine Geschichte von meinem Enkel.
Die Sonne scheint, nein, in meiner Geschichte regnet es, richtig garstiges Wetter, obwohl es Frühling ist. Im alten Apfelbaum hat in einem Loch, das der Specht schlug und der Kleiber bewohnte, schließlich ein Starenpaar genistet. Wir haben uns am Metallglanz ihres schwarzen Kleides erfreut, haben zugesehen, wie sie Nistmaterial anschleppten, wie einer der beiden im Loch verschwand um zu brüten, wie sie schließlich unermüdlich Futter brachten. Wir haben um den Baumstamm einen Kranz aus Dornenzweigen gewunden, um die Nachbarskatze vom Kinderraub abzuhalten. Wir lauschten dem Starenlied, dem Schwätzen, Pfeifen, Schnalzen, Zischen im blühenden Apfelbaum und – hör’ mal ganz gut hin, sage ich zum Enkel – das Piepsen und Zitschern der hungrigen Brut. Der Enkel, der noch nicht lange zur Schule geht, liebt Fußball mehr als alles andere, achtet aber darauf, dass der Brutbaum immer verschont bleibt, und er liebt es, uns mit neuen Wörtern und besonderen Sätzen zu erschrecken oder zu irritieren; Gott gibt es nicht, zum Beispiel, das gehört zu den harmloseren.
An diesem grauenvollen Regentag, an dem es nicht nur Nässe, sondern auch immer wieder beigemischtes Schneegriesel und einen eisigen Wind gibt, ausgerechnet an diesem Tag sind die jungen Stare soweit, dass sie das Nest verlassen. Einer nach dem anderen erscheint am Loch, sieht sich um nach rechts und nach links, hopst eine Etage höher, probiert das Fliegen, das Landen und Töne, die Gesang werden wollen. Auch der Kleinste traut sich heraus, der kommt zuletzt. Sein graubraunes Federkleid ist noch nicht glatt, sein Schnabel noch ein Babyschnabel. Er schafft den Absprung, landet auf dem Boden. Hockt mal hier, mal da, hält den Kopf schief und blinzelt. Schließlich flüchtet er sich in eine Ecke unterm Vordach der Haustür, sitzt da und sieht alles andere als happy aus. Behutsam legt der Enkel einen aufgespannten Regenschirm auf die Treppenstufe, damit der Wind dem Tier nicht so kalt in sein Federhemd bläst. Es hilft nicht.
Gegen Mittag ist der Vogel tot und seine Beerdigung wird vorbereitet; ein Pappkarton bekommt ein Innenpolster, eine Papierserviette dient als Leichenhemd, der Deckel kommt drauf. Zwischen den Wurzeln der serbischen Fichte, neben dem Eichhörnchengrab, schaufeln wir eine Grube. Die Beerdigungszeremonie ist einfach, auf das Wesentliche – was ist das eigentlich – reduziert. Unser Singen klappt nicht so recht. Ich schau nach oben in die Fichte und sage: Horch mal, die anderen Vögel singen ihm ein Tschüss, zwitschern ihr Lied für den kleinen Star. Das Kind klopft einen schuhkartongroßen Hügel. Kreuz oder Grabstein?, frage ich, denn es soll ja doch ein bisschen so sein wie im echten, im Menschenleben. Wir finden einen flachen hellen Stein, ich bringe einen Filzstift. Soll ich etwas schreiben?, frage ich. Nein, sagt das Kind und malt auf den Stein mit sauberen Buchstaben: »Grüß Gott«.
Leider hat der nächste Regenguss den frommen Wunsch zu schnell wieder weggewaschen.