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20. Februar, Sonntag
ОглавлениеDer Hühnerstall, in dem schon lange keine Hühner mehr sind, wurde 1941 gebaut. Gemäß den Vorschriften der Nazizeit hatten Stallgebäude aus Holz zu sein. Andere Baumaterialien waren »kriegswichtig« und deshalb anderweitig zu verwenden. Trotz des Gebots, »aus luftschutztechnischen Gründen dunkle, gegen Fliegersicht schützende Farben« zu wählen, wurde das Häuschen in hellem Gelb gestrichen. Es gab einen Scharrraum mit Ausschlupf in den Hühnerhof, der Boden unter den Sitzstangen war aus gestampftem Lehm. Unter einer Holzbank mit aufklappbaren Sitzen hatten die Hühner ihre Gelegeplätze. Ich war Kind und sah den Hennen beim Eierlegen und beim Brüten zu. Das rote Giebeldach bot Platz für eine große Menge Heu, das durch eine Klappe in der Holzdecke zum Dachboden hinaufgeschoben wurde.
Zehn Quadratmeter Hühnerstall und eine Bauzeichnung auf durchscheinendem Pergamentpapier, angefertigt von dem bekannten Kleinmachnower Architekten Friedrich Blume, der im Ort die Eigenherd- und die Weinbergschule baute.
Aber es ist Sommer fünfundvierzig. Der Krieg ist aus, aber noch nicht zu Ende. Die Russen sind da, die Russen sind irgendwie überall. Sie machen Musik und schnitzen Vögel aus Holz, die sie bunt bemalen. Die Frauen haben Angst, und ich bin noch kein schwieriges Kind. Die Frauen tun sich nachts zusammen, schlafen zu viert im Ehebett, Hedwig, schon sechzehn, versteckt sich im Kinderbett und zieht sich die Decke bis über die Ohren. Immer die Angst, immer das Horchen, der angespannte Schlaf. Einmal schleppen die Frauen Decken und Matratzen auf den Heuboden überm Hühnerstall. Sie warten, bis es dunkel ist, dann tappen sie aus dem Haus, ich an der Hand meiner Mutter, gehen nicht auf dem Weg, sondern leise übers Gras, legen im Stall die Leiter an die Bodenklappe, eine nach der anderen tastet sich im Dunkeln hinauf. Aber es hat uns einer gesehen. Als die Letzte den Fuß auf die Leiter setzt, packt sie von hinten der Russe. Sie will noch hinauf und die Frauen ziehen sie hoch, halten sie fest an den Armen, den Händen, unten packt sie der fremde Soldat. Er reißt sie weg, drückt sie auf den Lehmboden. Jemand macht die Klappe zu. Jemand legt mir die Hand auf den Mund. Horchen, Atemanhalten. Durch die dünne Wolldecke sticht das Heu. Was unten geschieht, weiß ich nicht. Warten, bis der Morgen kommt.
Vieles weiß ich nicht; ich war sechs und man sprach nicht mit den Kindern über diese und andere Dinge.