Читать книгу Lausige Zeiten - Elke Bulenda - Страница 4
Die Zeit mag Wunden heilen, aber sie ist eine miserable Kosmetikerin.
Оглавление(Mark Twain)
Ambrosius Pistillum, der Leiter der Organisation »Salomons Ring«, saß in seinem Büro und litt regelrecht unter dem Gewicht der Verantwortung, die auf seinen Schultern lastete. Im Sommer letzten Jahres übernahm Ambrosius den Posten seines Vorgängers, Sal Ormond. Dieser quittierte den Dienst, weil er sich ausgebrannt fühlte und befürchtete, gänzlich den Überblick verloren zu haben. Zu allem Überfluss bekam Sal eine Identitätskrise; und wie sich herausstellte, war er ein Vampir. Allerdings einer der humanen Sorte. Als hätte Ambrosius es nicht schon vorher geahnt. Jedenfalls outete sich Salvatore Ormond ein wenig später als Cornelius del Monte, einem über tausendjährigen Vampir. Warum Cornelius es ihm nie vorher sagte, blieb ihm nach wie vor ein Rätsel. Ambrosius dachte, er und Sal, alias Cornelius, wären so etwas wie alte Freunde. Jemand, der tagtäglich mit Orks, Ogern, Zentauren, Zyklopen, Engeln, Dschinns, Dämonen, Kobolden und Gespenstern zu tun hatte, konnte wirklich nichts mehr schockieren.
Ansonsten sah sich Ambrosius jeder Situation gewachsen. Bei ihm handelt es sich keinesfalls um einen normalen Menschen, sondern einen Magier der Hohen Schule. Er machte um sein wahres Alter mindestens genauso einen Hehl, wie zuvor schon Salvatore Ormond. Er fühlte sich immer ein wenig geschmeichelt, wenn jemand erwähnte, er sähe dem Schauspieler Peter Cushing ähnlich. Nur im Moment wirkte er alt und abgehärmt und ihm war eher danach, den Kopf tief in den Sand zu stecken. Diese vertrackte Situation war größer als die Summe ihrer Teile.
Er sehnte sich zurück zu den alten Zeiten, wo er einem eher gelangweilten Haufen Schülern, die hohe Kunst der Magie näher zu bringen beabsichtigte. Zumindest konnte er damals noch von so etwas wie Freizeit sprechen, wenn er nach getaner Vorlesung das Auditorium verließ. Doch in seiner momentanen Position, fühlte er sich zurzeit wie in einer nicht enden wollenden Tretmühle.
Sein Handy riss ihn klingelnd aus den Tagträumereien - was den Magus zusammenfahren ließ. Dabei stieß er mit dem Ellenbogen den Kaffeebecher um, was wiederum sein zahmes Stinktier, Edward Mullen, auf den Plan rief. Wie ein Dieb in der Nacht, pirschte das Tier unter seinen Schreibtisch, wo es geduldig im Schatten verharrte.
Fluchend wischte Ambrosius einhändig die Kaffeelache mit einem Wust Kleenex-Tüchern vom Tisch, während er mit der anderen Hand das wild rotierende Handy ergriff; abermals fluchend die Anzeige auf dem Display ablas und sich alles in ihm sträubte, ausgerechnet dieses Gespräch entgegenzunehmen.
Zu seinen Füßen leckte das kleine Stinktier gierig den herabtropfenden Kaffee auf.
»Ja? Hier Ambrosius, was gibt´s?«, fragte der Magus vorsichtig.
»Was ist los mit dir? Ich bin´s Cornelius. Wo brennt´s? Du meine Güte, ich bin echt beliebt, weil du und deine Sekretärin mich mindestens zwölfmal zu erreichen versuchtet. Das muss schon etwas Dringliches sein. Während des Fluges war mein Handy ausgeschaltet«, entschuldigte er sich gleich darauf.
»Tut mir leid. Ich erfuhr erst im Nachhinein, dass du dich im Urlaub befindest. Und das noch nicht mal allein, du alter Schwerenöter!«, neckte Ambrosius zurück.
»Äh, ja... Nachdem die Verhandlung in Oslo platzte, beschloss ich, einen Tag eher nach New York zu fliegen. Während meiner Australienreise habe ich jemanden kennengelernt. Sie ist unglaublich... Äh, aber das steht jetzt nicht zur Debatte. Sag, wo drückt der Schuh?«
Dem Magus lief es eiskalt den Rücken hinunter. »Wie schön für dich, das freut mich. Ähem... Ja, eigentlich hat sich diese Sache von selbst erledigt...«, wiegelte er ab.
»Ach, komm schon, Ambrosius! Mach mir nichts vor. Ich kann es an deiner Stimme hören, dass es so nicht der Fall ist. Sag mal, weißt du eigentlich, wo sich Esther herumtreibt? Sie ist telefonisch nicht zu erreichen, niemand weiß wo sich das Mädel aufhält, und das Flüstern scheint über diese weite Distanz nicht zu funktionieren.«
Ambrosius bekam zusätzlich eine Kopfgänsehaut... »Um ganz ehrlich zu sein, es ist etwas Schlimmes passiert. Es geht um Ragnor...«
»Du meine Güte! Er ist doch hoffentlich nicht betrunken Auto gefahren, oder?«, stöhnte Connie entsetzt.
»Nein, es ist noch viel schlimmer. Soweit wir die Vorkommnisse rekonstruieren konnten, entwendete er mit einem Taschenspielertrick Simons Ausweis, schlich im Stealth-Modus in Simons Labor und wollte mit Hilfe des Teleporters, durch ein Zeitportal in die Vergangenheit reisen. Genauer gesagt, nach Høy Øya, um Amandas Tod zu verhindern. Leider Gottes, hat er das Gerät nicht korrekt bedient...«
»Verflucht! Seit Godfrey an einer Quecksilbervergiftung in Versailles starb, ist Ragnor mein einziger noch existierender Blutsbruder und liegt mir wirklich am Herzen. Aber wenn er Scheiße baut, dann richtig! In dieser Beziehung ist der Kerl ein echtes Ausnahmetalent. Wie konnte er die Wachen vor dem Labor überwinden? Wurde er im Gerät gebraten? Was passierte mit ihm?«, fragte Cornelius beunruhigt, während Pistillum mit einem Gefühl akuter Atemnot kämpfte. Mit zittrigen Fingern zog er sein Asthma-Spray aus der Jackentasche und inhalierte vorsorglich. Dieser Vorgang gab ihm die Zeit, seine Antwort etwas genauer zu überdenken, ehe er sie formulierte.
»Er überrumpelte die Wachen, indem er sich einen Nano-Anzug mit Licht beugender Fähigkeit anzog, dazu fanden wir in seinem Büro eine leere Phiole, die dein Assistent Wilbur, als einen deiner Unsichtbarkeits-Tränke identifizierte.«, erläuterte der Magus. »Den hat Ragnor dir wohl stibitzt. Die Leute vom Sicherheitsdienst sagten aus, sie hätten niemanden nahen sehen. Letztendlich wissen nicht genau, was mit Ragnor danach passierte, er verschwand durchs Portal. Der Wappler war definitiv wieder einmal kaputt. Simon erkannte es an dem typischen Geräusch. Na und? Wenn Ragnor gebraten wurde, machte es ihm nichts aus. Er ist feuerfest. Das Problem liegt woanders.«
»Dieser Halunke, er hat mich schon wieder bestohlen! Ach ja, und was wäre das besagte Problem? Sag mal, wieso habe ich das Gefühl, ich müsste dir jeden Brocken einzeln aus der Nase ziehen?«, insistierte Cornelius leicht gereizt.
»Es ist zum Auswachsen! Ragnor ist in eine völlig falsche Zeit geraten und das ohne Rückfahrkarte! Und du weißt, dass ich in Zugzwang geriet, weil wir alles unternehmen müssen, um unsere Mitarbeiter unbeschadet zurückzubekommen. Logischerweise gefährde ich dann abermals das Leben eines anderen Mitarbeiters«, legte Ambrosius die Situation dar.
»Das bedeutet, du hast nichts unternommen? Wie weit hat Ragnor die von ihm angestrebte Zeit verfehlt?«, hakte Connie nach.
»Sagen wir es mal so, er hat sie um Längen verfehlt. Er befindet sich weit in der Vergangenheit. Zu weit ... Natürlich habe ich etwas unternommen. Wir mussten auf Freiwillige zurückgreifen, denn niemand wollte sich opfern, weil die Zeitreise bisher noch nicht erprobt wurde.«
»Wer?«, drängte Cornelius.
»Molly Flannigan. Plötzlich stand sie im Labor. Anscheinend hat sie einen Riecher dafür, wenn Ragnor in Schwierigkeiten steckt, sie war ja schon immer ganz vernarrt in diesen Burschen. Jedenfalls tauchte sie unerwartet auf und drehte heftig an der Orgel. Sie stellte sich sozusagen selbst wieder als Mitarbeiterin ein.«
»Oh Gott! Das Mädchen ist eine echte Plage! Du hast sie doch nicht allein durch das Portal geschickt, oder?«, fragte Connie besorgt.
»Simon und ich versuchten ihr das Vorhaben auszureden, nun, du kennst Molly, sie gab ums Verrecken nicht nach. Als ich erwähnte, ich dürfe keinen weiteren Mitarbeiter gefährden, kündigte sie sofort wieder, mit der Begründung, ab jetzt keine Mitarbeiterin mehr zu sein. Cornelius, diese Frau ist eine gottverdammte Nervensäge! Simon musste noch den Wappler reparieren und ich versuchte, dich zu finden. Leider ohne Erfolg«, bemerkte Ambrosius.
»Dann ist Molly doch allein durchs Portal?«, tastete er sich vorsichtig voran.
Ambrosius spürte förmlich, wie die Schlinge um seinen Hals ihn zu erwürgen drohte. Er fühlte sich in seine Kindheit zurückversetzt, als sie beim Kindergeburtstag Topfschlagen spielten. Wenn Connie so weitermachte, würde gleich das markante Dengeln des Topfs ertönen. Nur, was er darunter fand, war alles andere als entzückend.
Der coffeingeschwängerte Edward begann unter dem Schreibtisch zu randalieren. Er fand Gefallen daran, seinen eigenen Schwanz zu jagen. Ambrosius verdrehte genervt die Augen und schnippte mit dem Finger. Vor im manifestierte sich ein exotischer Mann, dunkel gekleidet, in Manier eines Geheimagenten. Den Großteil seines Gesichts, verdeckte eine mächtige, schwarze Sonnenbrille, die ihn wie Puck die Stubenfliege aussehen ließ. Er nickte und deutete eine Verbeugung an.
Meine Güte! Bertram hat die Porno-Brille für sich entdeckt!, schoss es Pistillum durch den Kopf. Er deutete mit dem Finger unter den Schreibtisch. Bertram nickte nochmals, nahm das ausgeflippte Stinktier hoch und trug es ins Körbchen. Dann machte der Dschinn eine komplizierte Geste mit der Hand und Edward sah sich überraschenderweise eingesperrt. Bertram warf Pistillum einen fragenden Blick zu. Der Magus schüttelte daraufhin den Kopf und der Dschinn löste sich wieder in Luft auf.
»Ambrosius? Bist du noch da? Was ist los, hast du Handwerker im Büro?«, ertönte Connies Stimme.
»Natürlich bin ich noch da«, schnarrte Pistillum leicht genervt. »Nein, das war Edward, nach einer Überdosis Kaffee. Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja. Nein, Molly ging nicht allein. Äh, sie benötigte natürlich jemanden, der über genügend Erfahrung in dieser Epoche verfügt, kräftig genug ist, Feinden Paroli zu bieten und sie freiwillig begleitete. Selbstredend erst, nachdem der Wappler wieder korrekt funktionierte.«
»Harrr! Sag es mir, deine Hinhalte-Taktik zieht bei mir nicht!«, konstatierte Cornelius ungeduldig.
»Auch sie ließ sich nicht umstimmen. Ich betone es nochmals, sie meldete sich freiwillig! Sie meinte, da du nicht zugegen wärst, müsse sie, als deine Vertretung, deinen Platz als Helfer einnehmen. Ich wusste, das ist eine ganz miese Idee!«, seufzte Pistillum.
»Esther? Reden wir etwa von meiner Esther?«, quietschte Cornelius.
»Kennst du denn noch eine andere Esther?«
»Du hast Esther mit Molly auf eine gefährliche Reise geschickt? Ehrlich, nichts für ungut, aber Esther legt sich schon auf die Nase, wenn sie ihren eigenen Schuh zubindet! Warte mal! Das würde bedeuten... Oh Gottogottogott!...«, stammelte Cornelius.
»Was ist? Ist dir der Allmächtige persönlich erschienen?«, fragte Pistillum verwirrt.
»Sagtest du, Simon hätte den Wappler repariert?« Cornelius Stimme rutschte dabei um eine halbe Oktave nach oben.
»Ja, sonst hätten wir sie nicht gehen lassen. Wegen des Grillens. Wieso, was ist?«
»Da ist dir und Simon eindeutig einen schlimmen Denkfehler unterlaufen! Der Wappler verhindert Paradoxe im Raum-Zeit-Gefüge! Esther existierte aber schon damals, also wird sie mit Molly nicht gemeinsam auf Høy Øya eintreffen, sondern an den Ort zurückversetzt, an dem sie sich zu besagter Zeit befand! Sie kann nicht zu einer Zeit, jeweils zweimal existieren!«, erklärte Cornelius die Fakten.
»Ach du liebes Lieschen! Na toll, heute ist mal wieder so ein Tag, an dem man besser im Bett hätte bleiben sollen! Dann ist das Zeitfenster für die Rückkehr viel zu knapp bemessen! Angenommen, Esther hielte sich zurzeit in Südeuropa auf, so kann sie es unmöglich schaffen, rechtzeitig Høy Øya zu erreichen. Dann sitzt sie wiederum dort in der Zeit fest!«, erkannte Ambrosius verzweifelt. Wieder hatte Ragnor durch sein unbedachtes Handeln eine Lawine losgetreten, die niemand wirklich hatte kommen sehen. Pistillum schmeckte Galle und stand kurz vor einer persönlichen Krise.
»Bist du noch da?«, fragte Cornelius.
»Ich wünschte, ich wäre es nicht! Was soll ich jetzt tun?«
»Leider Gottes sehe ich mich gezwungen, in den nächsten Flieger zu springen und zurückzukommen. Ich werde ebenfalls durchs Zeitportal gehen müssen. Mit neuen Koordinaten, aber sag Simon, er soll sie großzügig berechnen. Wir brauchen mindestens drei Tage, ebenso viele Termine, damit Esther genug Zeit zum Eintrudeln hat.«
»Cornelius, gib mir deine Koordinaten durch, dann können wir dich sofort holen.«
»Nein, nein! Ich will unterwegs nicht auch noch verloren gehen. Gib mir und Simon noch etwas Zeit. Außerdem habe ich hier etwas Wichtiges zu erledigen. Ich bin bald wieder bei euch!«, beendete Cornelius das Gespräch.
Ambrosius, ein Herr der alten Schule, schaute sein Handy an und sagte: »Scheiße!« Danach setzte er sich sofort mit Simon in Verbindung.
*
Cornelius, gerade erst in New York angekommen, warf Cassandra einen traurigen Blick zu. »Es tut mir wirklich leid, ich wäre liebend gern länger geblieben, aber ich muss schon wieder fort. Zuhause läuft die Kacke über.«
»Wie schade. Ich habe Urlaub und könnte eigentlich mal meinen Enkel Dracon besuchen. Darf ich dich begleiten? Wenn du willst, kannst du einen von Gungnirs Fliegern nehmen«, sagte Cassandra und warf dem Vampir einen feurigen Blick zurück.
»Nichts wäre mir lieber, aber ich möchte dich damit nicht belasten... Einen von Gungnirs Fliegern? Du glaubst doch nicht, seine Maschinen wären schneller als die Linienflugzeuge, oder?«
Cassandra lachte rau, dabei entwich ihr ein kleines Rauchwölkchen. »Ach, du bist so süß, ich werde mitkommen. Kennst du die Concorde?«
»Natürlich! Wieso? Hat Gungnir eine?«, fragte Connie verwirrt.
»Nein, aber die ist gegen seinen neuen Fliegertyp eine echt lahme Schnecke. Du kennst ihn doch, er ist ziemlich exzentrisch. Was kauft sich wohl ein sehr reicher Mann, wenn er schon alles hat?«, fragte sie grinsend.
»Etwas, das er noch nicht hat?«, antwortete Connie zögerlich.
»Bingo. Dazu ist der neue Flieger noch energiesparender als gewöhnliche Flugzeuge. Dieses Ding, dieser Star Glider, fliegt schnell wie ein Pfeil durch die Stratosphäre. Du kennst doch Gungnir, er lässt sich nur ungern etwas entgehen. In unserer Branche lautete das Motto: Zeit ist Geld. Deshalb dieses neue Fluggerät. Ein wirklich schönes Spielzeug!«, zwinkerte sie ihm zu.
»Und das würde er mir ohne Zögern geben?«, fragte Cornelius verdattert.
»Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Außerdem hat er ja nicht nur einen davon.«
»Nicht nur einen? Er kann doch nicht in mehreren Maschinen gleichzeitig sitzen!«, merkte Connie irritiert an.
»Das nicht, aber seine Mitarbeiter. Komm, wir fahren zum Flughafen!«, meinte Cassandra. Sie führte Cornelius in die Tiefgarage, wo er in ihrem Wraith Platz nahm, sie selbst geschmeidig hinters Lenkrad glitt und mächtig aufs Gas trat. Es presste Cornelius in den Sitz, wie Teig in ein Waffeleisen, als sie mit einer Beschleunigung von gefühlten 5 G aus dem Gebäude schossen.
»Ach, Cassandra? Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du Gungnir gegenüber Stillschweigen wahren würdest. Ich weiß, es geht um seinen Vater, aber ich will ihn nicht auch noch in diese vertrackte Sache hineinziehen.«
»Kein Problem, Schätzchen. Von mir wird es es nicht erfahren!«
Cornelius war der Drachenfrau sehr dankbar.
*
Ambrosius wäre auch dankbar gewesen, wenn sich ihm nur ein einziger Grund dazu böte. Bisher gab sich das Schicksal ihm gegenüber sehr undankbar und spröde. Ihm wuchsen die Probleme im rasanten Tempo über den Kopf. Zu allem Überfluss, klingelte abermals sein Handy. »Verdammt! Ich hätte dieses blöde Ding einfach ausschalten sollen!«, grummelte er gereizt und nahm das Gespräch an.
»Hallo Ambrosius, hier ist Annie«, ertönte eine reife Stimme. »Sag mal, was ist bei euch nur los? Richte meinem Trottel von Schwiegersohn aus, er soll gefälligst dieses flache Kästchen anmachen, was wir im Allgemeinen Handy nennen! Ragnor wollte mich anrufen und hat es immer noch nicht getan. Kannst du mir sagen, wie die Verhandlung in Oslo gelaufen ist?«
Der Leiter des Rings errötete heftig. Nicht nur, weil er um eine Antwort verlegen war, sondern zusätzlich eine Schwäche für diese energische Frau hegte. Ambrosius nahm bislang seine Arbeit sehr ernst, besaß bis dato ein eher langweiliges und abgeklärtes Gefühlsleben; bis er Annie Ferguson zum ersten Mal sah. Vorher kannte er das Gefühl von Schmetterlingen im Bauch gar nicht. Dieser Magier ist ein seltsamer Mensch. Meistens hochkonzentriert und bei der Sache. Nur in Annies Anwesenheit bemerkte er eine gewisse Unsicherheit, was ihn wiederum noch mehr verunsicherte. »Annie, ich schenke dir lieber gleich reinen Wein ein. Die Verhandlung ist geplatzt. Der Mörder deiner Tochter wurde von einem Dämonen angegriffen und ist seitdem verschwunden. Und glaube mir, ich hege nicht die geringste Hoffnung, ihn jemals wieder auftauchen zu sehen. Daraufhin flog Ragnor zurück in unsere Zentrale«, endete er, und damit auch der Teil des reinen Weins. Er wollte ihr nichts von Ragnors Verschwinden erzählen, Annie und die Kinder mussten in letzter Zeit eine Menge durchmachen. Dr. Dr. Amanda Ferguson, Annies Adoptivtochter, wurde während ihrer Ferien auf der Insel Høy Øya bei einem Bankraub erschossen. Das soll nicht heißen, sie hätte eine Bank ausgeraubt. Nein, sie war zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort und fiel dabei dem hektisch-dilettanten Räuber zum Opfer.
»Bist du dir sicher, dass es wirklich ein Dämon war und kein 2,05m großer Vampir, mit jeder Menge Wut im Bauch?«, hakte Annie nach.
»Selbstverständlich kam mir das in den Sinn, aber ausnahmsweise ist er daran unbeteiligt. Er ist über jeden Verdacht erhaben, hat ein hieb- und stichfestes Alibi. Cornelius war mit ihm zusammen und etwas später, befand sich Ragnor in Polizeigewahrsam. Weil er etwas über den Durst trank und randalierte. Und sollte es sich um einen Auftragsmord handeln, heißt es in diesem Falle ›in dubio pro reo‹, bis alles eindeutig widerlegt werden kann. Wir haben, um den Dämonenvorfall genauer zu untersuchen, ein Team vor Ort entsandt, jedoch bisher noch keine stichhaltige Ergebnisse«, erklärte Pistillum stoisch.
»Das sind wieder einmal ganz entzückende Neuigkeiten! Selbst wenn man ihn nicht aus den Augen lässt, macht er Unfug! Was ist nur wieder in ihn gefahren? Nun, das erklärt längst nicht, wieso er sich bei mir und den Kindern nicht meldet. Woher sollen wir wissen, wann er ankommt und ihn vom Flughafen abholen sollen?«, diagnostizierte Annie.
Krampfhaft überlegte Ambrosius, welche Ausrede er Annie präsentieren könnte. Zu dumm! Jetzt muss ich schon für Ragnor lügen! Groll stieg in ihm hoch. »Annie, bei uns geht es mal wieder drunter und drüber. Wir sind momentan ziemlich unterbesetzt, du weißt, Urlaubszeit und so...«
Schweigen in der Leitung. Pistillum lauschte gebannt und hörte, wie Annie tief Luft schnappte, um zum Gegenschlag auszuholen: »Du willst doch nicht damit andeuten, du hättest Ragnor auf eine Mission geschickt?«, keifte sie stocksauer.
Pistillum vernahm erleichtert, dass Annie ihm die beste Ausflucht lieferte, auf die er selbst nicht so schnell gekommen wäre. Jetzt hatte er einen Grund zur Dankbarkeit.
»Annie? Beruhige dich! Er bekommt die Tage gutgeschrieben und hintenan gehängt. Und du musst nicht befürchten, es könnte etwas Gefährliches sein. Nur eine Observation. Du weißt doch, während einer Operation dürfen keine Kontakte nach außen gehen. Also gedulde dich noch etwas. In ein paar Tagen ist er wieder bei euch!«, wiegelte Ambrosius ab.
»Toll, wirklich toll! Er hätte wenigstens Bescheid sagen können. Ihr großen Jungs nehmt euch immer viel zu wichtig! Und der Schwarze Peter wird mir wieder untergeschoben, weil ich es den Kindern schonend beibringen muss. Sie werden sehr enttäuscht sein! Gut, dann habe ich wenigstens noch ein paar Tage meine Ruhe, ehe Herr Sauertopf wieder auftaucht!«, fauchte Annie ungehalten und beendete das Gespräch.
Ambrosius stierte noch immer in sein Handy, schaltete es gänzlich ab und ging mit sich ins Gericht, ob er weiterhin riskieren sollte, mit dem Feuer zu spielen. Die Antwort blieb er sich schuldig. Stattdessen griff er zum Telefonhörer: »Ägidia? Bitte keine Anrufe mehr durchstellen!«
»Hätte ich sowieso nicht getan!«, keifte die Orkfrau zurück. »Ich habe nämlich schon längst Feierabend!«
*