Читать книгу Lausige Zeiten - Elke Bulenda - Страница 5

Ein Kopf ohne Gedächtnis ist eine Festung ohne Besatzung.

Оглавление

(Napoleon Bonaparte)

Der Morgen graute, - und mir vor ihm. Mein Kopf schmerzte fürchterlich! Ich sollte endlich mal mit der elendigen Sauferei aufhören! Mein Schädel bestand offenbar aus Brei und meine Knochen lösten sich auf; zu allem Übel nahm ich, - als wollten die Götter mich verspotten - Tannenduft wahr. Ist denn schon wieder Weihnachten?, schoss es mir durch die Synapsen. Ich fühlte mich, als sei eine ganze Kompanie auf mir herum marschiert. Da war doch was... Ach, ja... Meine Mission!

»Ich sollte nicht hier sein!«, krächzte ich. »Das fühlt sich nicht richtig an!«

… Meine Fresse! Ich sprach schon mit mir selbst! Folglich musste ich verrückt sein...

Diese Mission... Mission... tja... Nur wollte mir ums Verrecken nicht einfallen, was das für eine dringliche Aufgabe war. Die Windungen meines Hirns waren so glatt, wie der Hintern eines Neugeborenen. Und anscheinend hatte ich nicht nur gesoffen, sondern obendrein Strip-Poker gespielt. Verdammt! Und verloren! Mein Körper juckte grauenvoll, Tannennadeln stachen mir ins Fleisch. Was war nur mit mir geschehen? Schon häufig erlebte ich Blackouts, aber dieser hier, war ziemlich heftig. Mit der Zunge fuhr ich über meine Zähne und schmatzte.

»Ausgeschlossen, ich habe nichts getrunken! Außerdem trüge ich jetzt doppelt so viel Kleidung, ich pokere ausgezeichnet, glaube ich jedenfalls. Nein, es muss eine andere Erklärung dafür geben. Jemand hat mich ausgeraubt! Ja, so wird´s gewesen sein. Hi, hi! Gut, dass wir mal darüber gesprochen haben!«, kicherte ich in mich hinein.

In der Tat, ja, ausgeraubt, denn ich hatte rein gar nichts mehr bei mir. Nicht einmal Stiefel hatten diese gemeinen Strauchdiebe mir gelassen. Sichtlich verwirrt, versuchte ich meine Gedanken zu ordnen.

Wer war dieser seltsame einäugige Kerl, mit dem blauen Schlapphut, der lachend und kopfschüttelnd über mich hinweg stieg? Offensichtlich eine Halluzination, oder der hiesige genius loci.

Gezeter, daran glaubte ich mich genaustens zu erinnern. Nur war ich mir nicht sicher, ob das ein bleischwerer Traum, oder Realität war. Die Stimme kam mir jedoch entfernt bekannt vor. Zumindest erinnerte sich mein Schmerzgedächtnis an sie. Die Stimme gehörte einem Mädchen, einem sehr hübschen dazu, dessen Name mir nichtsdestotrotz entfallen war. Schlimm, mein Namensgedächtnis ist lausig! Wenn jemand etwas über meine Mission wusste, dann diese junge Frau. Klarer Fall, ich sollte ihr folgen! Zuerst musste ich von diesem elendigen und äußerst anhänglichen Baum loskommen.

Mühsam drückte ich die Kiefer zur Seite und kroch drunter hervor. Etwas Warmes rann über meine rechte Schläfe. Als ich das warme Nass abwischte, benetzte Blut meine Fingerkuppen. Kopfwunden bluten fürchterlich.

Schnell machte ich mir eine geistige Notiz: Bei Sturm niemals nackt und besoffen durch den Wald laufen!

Gewissermaßen sah dieser Flecken Erde nach dem Ergebnis eines Unwetters aus. Neben mir ein Krater, der wohl von einem Blitzeinschlag herrührte; überall drumherum, umgestürzte und angebrannte Bäume. Ich versuchte mir selbst einen Reim darauf machen und vermutete, dass etwas ziemlich Schweres während dieses Ereignisses auf meinen Kopf gestürzt sein musste. Dabei war ich mir nicht einmal sicher, ob es nur ein Baum, oder die Keule des Räubers gewesen war. Mein gesamter Körper war schmutzig, geschunden, obendrein mit Schnitt- und Schürfwunden übersät.

»Mens sana in corpore sano! Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper? Das dürfte in diesem Falle wohl nicht zutreffen!«, kicherte ich vor mich hin. »Woher weiß ich das eigentlich so genau?«, bemerkte ich dazu.

Auf einem Ast saßen ein paar Raben, die mich spottend mit ihrem Krächzen ärgerten.

»Ach, haltet eure verdammten Schnäbel!«, keifte ich und warf einen Stein, traf jedoch nichts und niemanden. Das Wurfgeschoss verfehlte die schwarzen Punkte und plumpste irgendwo ungeschickt in die Pampa. Die Raben lachten, - es war genaugenommen lächerlich. Mein Wurf erinnerte an den eines kleinen Kindes, das so etwas zum ersten Mal ausprobierte. Wie gesagt, ein sehr kleines Kind.

Taumelnd kam ich gänzlich auf die Beine und wankte vorwärts. Neugierig, meinen Blick fokussierend, - denn ich sah immer noch sehr unscharf - versuchte ich das ganze Ausmaß der Verwüstung zu erfassen. In der Vertiefung erkannte ich Fußspuren. Zwei kleine und vier große. Also war es mitnichten reine Einbildung gewesen! Um das Mädchen zu finden, musste ich lediglich dieser Spur folgen. Seltsamerweise verschwanden die kleinen Fußabdrücke, die vier größeren vertieften sich wiederum. Mein Hirn arbeitete krampfhaft. Sie trugen sie davon! Ja, so wird es gewesen sein!

Einer der Träger war unverkennbar verletzt, er zog ein Bein nach, so wie ich den Spuren entnehmen konnte...

Während ich am Krater verharrend, alles überdachte, raschelte hinter mir etwas im Gebüsch und ein Zweig knackte, gleich so, als sei eine Stiefelsohle drauf getreten. Irgendetwas in mir schlug Alarm. Schnell pirschte ich gebückt im großen Bogen davon, kroch durch das Dickicht, erklomm in Windeseile einen stabilen Baum und verschaffte mir den Überblick.

… Himmel! Welch seltsames Bild mochte sich einem außenstehenden Beobachter da wohl zeigen? Ein schmutziger, nackter Mann auf einem Baum...

Beinahe hätte ich laut gekichert, aber der Umstand, dass jemand heimlich und mit nicht lauteren Absichten durch das Gebüsch schlich, zog meine ganze Aufmerksamkeit zurück in geordnete Bahnen. Wenn jemand so seltsam durch das Dickicht pirschte, führte er garantiert nichts Gutes im Schilde. Und dabei war nicht von mir die Rede! Vielleicht erwischte ich sogar den Dieb, der mir mein Hab und Gut stahl.

Der Heimlichtuer im Gebüsch war, im Gegensatz zu mir, bis an die Zähne bewaffnet. Mit der linken Hand transportierte er ein kleines Kästchen, sein Schwert umklammerte er rechts; die Armbrust war auf seinem Rücken befestigt. In seinem Gürtel steckte ein Messer und über der Schulter hing ein Beutel mit... mit Proviant?

All das nahm ich in Sekundenbruchteilen wahr.

Leise und zielstrebig kam der Strolch voran. Auf mich machte er den Eindruck, als spähe er jemanden, oder etwas aus. Was beabsichtigte der Schleicher dort unten? Dieses Treiben hätte eine geraume Weile so weitergehen können, wäre es nicht zu einem unschönen Zwischenfall gekommen, der meine Tarnung unvorhergesehen auffliegen ließ. Es ist schon fast peinlich, das zu erwähnen. Mein Magen knurrte wie ein gereizter Polarbär. - Ein böser, verletzter und sehr schlecht gelaunter Polarbär.

Pirscher sah zu mir auf, fluchte und griff hektisch nach der Armbrust. Umständlich fummelte er daran herum und versuchte sie zu spannen. Wieso nahm der Idiot zur Verteidigung, nicht einfach auf die Schnelle das Schwert? Schließlich war ich unbewaffnet und nackt. Mit Pfeil und Bogen wäre er ohnehin in diesem Fall besser bedient gewesen.

Leider spannte der Strauchdieb die Armbrust schneller als gedacht. Gekonnt visierte er mich an und schoss.

»Nein!«, riss ich meine rechte Hand aus reinem Reflex hoch, um meinen Kopf zu schützen, den er eindeutig als Ziel auserwählte. Jede Sekunde erwartete ich die Schmerzen, die der Einschlag des Bolzen verursachen sollte. Die Zeit schien sich auszudehnen...

...Nur kam der Bolzen bei mir nicht an. Erstaunt registrierte ich, wie das Geschoss kurz vor meiner Hand, an etwas Unsichtbaren abprallte. Möglicherweise traf der Pfeil einen Ast, nur fand ich nirgends eine Schramme in der Rinde. Logischerweise wäre der Bolzen nicht abgeprallt, sondern darin steckengeblieben. Fragend glotzte ich meine Hand an. Auch mein Feind sah zuerst verwundert auf meine Pranke, dann auf die Armbrust, die er erneut geschwinde zu laden versuchte. Falls er der Annahme nachgab, alles Gute käme von oben, blieb ihm keine Zeit übrig, seine Meinung zu revidieren.

Als ich ihm grollend ins Kreuz sprang, vernahm ich, wie seine Wirbel laut krachend zu Bruch gingen. Das war gar nicht nett anzuhören und obendrein ungesund. Jedenfalls für ihn. Eins war mir klar: Lieber sollte er dran glauben, als ein nackter, unbewaffneter Mann. Und unter uns: Eigentlich bestand gar nicht die Absicht meinerseits, ihm so derb weh zu tun; betrachtet es eher als Kollateralschaden.

Nebenbei fragte ich mich, ob dies völlig normal sei, dass ein ausgewachsener, nicht gerade leichter Mann, behände wie ein Tier, Bäume hinaufklettern konnte. Nachdenklich betrachtete ich meine Hände, berührte den Baum und als ich mich daran festzuklammern versuchte, tat sich etwas sehr Merkwürdiges mit meinen Fingernägeln... Sie wuchsen nicht aus dem Nagelbett, sondern an der Nagelplatte selbst, wurden dort länger und spitzer... Wie Krallen!... Ein wenig fürchtete ich mich vor mir selbst.

»Himmel! Was ist das denn!?«, reagierte ich bestürzt, ließ den Baum los und die Nägel schoben sich wieder zurück.

Diese Absonderlichkeit musste ich erst mal verdauen.

Unentschlossen stand ich vor dem Niedergestreckten. Dennoch konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, meine frisch gemachte Beute zu filzen. Er führte vieles mit sich, was mir von Nutzen sein konnte. Kleidung, sei nur mal so als Beispiel genannt. Waffen... und Nahrung! Mir war, als müsste ich des Hungers sterben. Neugierig ging ich in die Hocke und untersuchte seinen Beutel: Brot, Käse, Schinken und einen halben Ring geräucherter Wurst. Dazu ein Trinkbeutel mit verdünntem Wein.

Abermals knurrte mein Magen unbarmherzig. Dieser Hunger, er schmerzte regelrecht! Ach, was machte es schon? Der Bursche brauchte den Proviant ohnehin nicht mehr. Hurtig rupfte ich das Messer von seinem Gürtel und schnitt mehrere Scheiben vom Brot ab; dazu gönnte ich mir großzügige Portionen Wurst und Käse. Mit unbändigem Appetit stopfte ich mir alles in den Mund, kaute, schluckte und goss vom Wein hinterher, damit es besser rutschte. Einfach lecker!

Kurz spielte ich mit dem Gedanken, noch vom Schinken zu kosten, als mein Magen zu rumpeln begann und mir schrecklich flau wurde. Leider war das unheilvolle Rumpeln nur der Anfang. Danach begann er sich wild zu drehen, wobei mir der kalte Schweiß aus allen Poren trat. Und dann kamen wieder diese Schmerzen! Einfach grauenhaft!

Vom Leid geplagt, krümmte ich mich, rollte herum und krabbelte zuletzt auf allen Vieren umher. Mein Hirn funkte einen kalten Stich ins Rückenmark, woraufhin ich mich in einem eruptiven Schwall erbrach. Mein geschundener Körper wirkte hinterher geradezu erleichtert, den ärgerlichen Mageninhalt losgeworden zu sein. Nur mein Geist machte sich unsägliche Sorgen.

»Oh, verdammt! Entweder steht es schlimmer um mich als gedacht, oder der Fraß ist vergiftet! Aber das macht doch überhaupt keinen Sinn! Wieso sollte jemand giftige Nahrung mit sich herumtragen?«, keuchte ich ermattet.

Kaum kehrte Ruhe in meinen Magen, überkam mich wieder eine überwältigende Hungerattacke. Ganz wie es ihm beliebte, schien mein Bauch böse Streiche mit mir spielen zu wollen.

»Nein, das mit dem Brot und Käse, sollte ich definitiv lassen!« Zittrig trank ich einen Schluck Wein. »Das ist besser! Aber ich habe immer noch diesen bestialischen Hunger! Argh! Und er tut so weh!«, jammerte ich wie ein kleines Kind und trank abermals vom Wein, in der Hoffnung etwas Linderung dadurch zu erfahren.

Neben mir ertönte ein leises Stöhnen, das mich unerwartet eiskalt erwischte. Daraufhin verschluckte ich mich heftig und der Trinkbeutel drohte zu entgleiten. Als ich mich wieder gefasst hatte, bemerkte ich, wie der Fremde leise jammerte und stöhnte. Dabei sah er mich bittend und zugleich verängstigt an. Allem Anschein nach, plagten ihn große Schmerzen. Sein Gesicht war wachsbleich. Nachdem ich mich nicht weiter rührte, drehte er sein Antlitz schmerzverzerrt weg und versank wieder in Bewusstlosigkeit. Und dann geschah etwas Seltsames... Seine Halsschlagader zeigte deutlich den Puls, wenn auch nicht sonderlich stark. Sie hob und senkte sich. Dieser Anblick war dermaßen faszinierend, dass er mich gänzlich in seinen Bann zog. Sogar einen Herzschlag glaubte ich zu hören. Es war mir nicht möglich, meine Augen von dem pulsierenden Hals abzuwenden. Dabei randalierte mein Magen wie ein wild gewordenes Tier und forderte unverzüglich Nahrung. Jede Zelle meines Leibes verlangte nach Brennstoff. Erst jetzt bemerkte ich, wie mein Körper fiebrig zitterte.

Mir war kalt und heiß zugleich, und dabei dieser alles verzehrende, stets nagende Hunger! Er schwächte meinen Körper und schärfte meine Sinne. Ein animalisches Knurren entwich meiner Kehle. Ehe ich registrierte, was vor sich ging, schlugen meine Zähne in den Hals des Bewusstlosen. Meine Eckzähne schienen zu wachsen und mein Mund füllte sich mit warmen Blut. Und es war nicht meines. Herrlich, es schmeckte wie Nektar! Nach ein paar Schlucken gab mein Magen endlich Ruhe, allerdings sagte mein Kopf etwas anderes. Ich trank und war nicht in der Lage damit aufzuhören. Schließlich ließ ich satt und zufrieden von meinem leergetrunkenen Opfer ab.

Zwar war ich jetzt endlich gesättigt, doch überkam mich ein Entsetzen ohnegleichen.

»Bei den Göttern! Was habe ich nur getan? Das ist einfach nur grauenvoll! Was ist nur los mit mir? Wer macht denn so etwas Widerliches?!«, wimmerte ich reuevoll. Mich ekelte es vor mir selbst. Und überall dieses Blut! Verwirrt sah ich auf meine Hände und den Rest meines nackten Körpers herab. Dennoch sagte eine innere Stimme, das sei völlig in Ordnung. Trotzdem schien meine Welt völlig aus den Fugen zu geraten.

Angewidert steckte ich mir den Finger in den Hals, um alles wieder aus mir heraus zu bekommen. Nur funktionierte es diesmal nicht. Verwirrt raufte ich mir die Haare. Dabei bemerkte ich, dass meine Kopfwunde völlig verheilt war.

»Das kann unmöglich sein! Kopfwunden bluten sehr intensiv. Kann mir mal jemand verraten, in wessen Albtraum ich geraten bin? Bei Odin! Ich bin ein Monster!«, entwich es mir. »Okay, was gerade passiert ist, daran kann ich nichts mehr ändern...«

Ein Gurren unterbrach unverhofft diesen Disput, den ich lautstark mit mir führte.

»Gibt´s noch ein Dessert, oder was?«, fragte ich in den Wald hinein. Als Antwort ertönte wieder Gurren. Erleichtert, weil sich mir angenehme Ablenkung anbot, betrieb ich Ursachenforschung. Zwischen hochgewachsenem Farnkraut wurde ich fündig. Der kleine Kasten enthielt eine Taube. Den musste mein Widersacher abgestellt haben, als er mich ins Visier seiner Armbrust nahm und zu töten beabsichtigte. Scheu musterte mich der kleine Vogel aus großen Knopfaugen.

»Hey! Kleines! Keine Angst!«, redete ich der Taube beruhigend zu.

… Ja, es mag seltsam anmuten, dass ich mit seinem Herren weniger Mitleid empfand, als mit dem Tier selbst. Selbstverständlich ist dem so, dieser Vogel trug keine Armbrust mit sich herum, womit er auf nackte und augenscheinlich verwirrte Menschen schoss...

Die Taube erweichte mein Herz. So eingesperrt, konnte sie nicht wegfliegen. Käme ein Fuchs vorbei, der Vogel wäre ihm hilflos ausgeliefert und im wahrsten Sinne des Wortes, ein gefundenes Fressen. Es mag absurd klingen, aber ich war der Meinung, die Taube könnte ein Augenzeuge meiner unmenschlichen Tat geworden sein. Gewiss würde sie dieses Trauma bis ans Ende ihrer Tage verfolgen. Behutsam öffnete ich den Käfig und nahm das Täubchen heraus. Dabei befleckten meine blutverschmierten Hände ihr glänzendes Gefieder. Die Erinnerung an meine Schandtat blitzten innerlich vor mir auf und verhöhnten mich.

»Los, hau ab! Flieg nach Hause!«, knurrte ich böse und brach daraufhin in ein beängstigend debiles Gekicher aus. »Flieg Vöglein, flieg!«

Diese irren Geräusche befremdeten mich. Alles drehte sich und war so laut!

Der Vogel nutzte die Gunst der Stunde und schoss pfeilschnell davon. Höchstwahrscheinlich erwies sich das als ein ziemlich dummer Fehler, die Taube so ungeschoren davonfliegen zu lassen. Aber ich war zu verwirrt, um mir Gedanken über die daraus erfolgenden Konsequenzen zu machen.

»Damit ich wieder klar werde, sollte ich etwas völlig Normales tun!«, riet ich mir selbst und rannte dabei fahrig im Kreis herum. »Ja, genau, ich nehme jetzt ein Bad und danach bekleide ich mich. Das erscheint mir vernünftig. Schon die Römer sagten: Sanitas per Aquam - Gesundheit durch Wasser!«

Sofort schritt ich zur Tat. Wasser brauchte ich nicht lange zu suchen. Ganz in der Nähe, ergoss sich ein kalter, klarer Wasserfall über einen Felsvorsprung. Darunter befand sich ein natürliches Bassin. Die Szene mutete an, als hätte ein Architekt dieses Fleckchen Erde für würdig empfunden, sein Kunstwerk zu empfangen. Das Auffangbecken wirkte, als hätte jemand liebevoll die schönsten Farne drumherum gepflanzt. Vorsichtig glitt ich ins Wasser. Die Steine waren, durch den ständigen Abrieb, glatt wie feinster Marmor. Der Wasserstand des Beckens betrug nur Knietiefe. Das Bassin lief ständig über und speiste damit einen Bach, der wahrscheinlich im Meer mündete. Was für eine Verschwendung.

Als ich mich hinsetzte, bemerkte ich verschiedene, warme Stellen im Gestein. Was meine Vermutung bestätigte, dass dieses Becken nicht nur oberirdisch gespeist wurde, denn es dampfte ein wenig in der kalten Luft. Dieses Bad erschien wie das erste angenehme Erlebnis meines Lebens. Das Wasser plätscherte und murmelte, wirkte somit äußerst beruhigend auf meine angekratzte Psyche. Unter dem Wasserfall wusch ich mir das Haar und die Spuren meiner Schandtat ab (frei nach dem Motto: Ich kenne dich zwar nicht, wasche dich aber trotzdem). Wie herrlich kühl das Wasser auf meine verspannten Schultern herab prasselte! Ich genoss diese Massage. Meine Verwundungen waren gänzlich geheilt, als hätte es sie niemals gegeben. Wie seltsam. Dieses friedliche Waldbad wirkte fremd und doch so vertraut. Zumindest fühlte ich mich angenehm erfrischt, suchte mir ein wärmeres Plätzchen und überlegte, wie ich weiter vorgehen sollte. Während ich so sinnierte, sah ich im Wasser mein Spiegelbild. Der Kerl wirkte befremdlich auf mich. Er guckte streng fragend zurück. »Gut, Folgendes: Wie kamen wir hier her?«, fragte ich den Fremdling. »Was machen wir hier? Wie lautet unsere Mission? Hm? Keine Ahnung? Geht mir genauso! Okay, wir brauchen einen Plan, denn so was ist immer gut. Da wir offenbar unter Gedächtnisverlust leiden, müssen wir zuerst das Mädchen finden. Nur sie kann uns befriedigende Antworten geben. Wenn wir sie gefunden haben, wissen wir mehr!«

Mein Spiegelbild nickte zufrieden. »Weißt du was? Du könntest eine Rasur vertragen!«, kicherte ich ungehalten. »Noch etwas: Warum schlich der Tauben-Liebhaber so heimlich, still und leise hier im Wald herum? Herrgott nochmal! Du weißt aber auch echt einen Scheißdreck! Du bist nicht hilfreich!«, klatschte ich die Faust ins Wasser und stieg aus meinem liebgewonnenen Spa. Das Bekleiden war alles andere als normal. Einem Toten die Kleidung auszuziehen, ist echte Knochenarbeit. Tatsächlich sind Verschiedene nicht sehr kooperativ dabei und trennen sich nur ungern von ihrem Besitz. Zumindest entdeckte ich eine kleine Geldkatze an seinem Gürtel, gefüllt mit Münzen, ein paar kleinen Schnipseln Pergament und einem Kohlestift.

… Jetzt werdet ihr euch sicherlich fragen, was eine Geldkatze ist. Sie ist mitnichten ein Porzellangefäß, wo man seine Spar-Pfennige hineinsteckt. Nein, sie ist ein kleiner Lederbeutel, in dem man sein Münzgeld, Ringe und kleinere Wertgegenstände verwahrt. Woher der Begriff stammt, weiß niemand so genau. Die einen sagen, der Beutel wäre aus Katzenleder gefertigt, andere, wahrscheinlich gelehrtere Leute, behaupten, der Begriff stamme aus dem Arabischen. Mir allemal egal. Zumindest solltet ihr das zuhause unterlassen, Peterle, Mohrle oder Mietze mit Münzgeld zu füttern, um sie anschließend an eurem Gürteln zu befestigen!... Die Kleidung musste ich gewissermaßen etwas modifizieren. Der vorherige Besitzer dieser Klamotten war zwar kein Zwerg, dennoch bestand in der Hose, nachdem ich sie probierte, Hochwasser. Bei ihm saß sie sehr weit, bei mir dagegen fast hauteng. Der grobe Wollstoff kratzte fürchterlich. Noch komplizierter gestaltete sich das Oberteil. Zuletzt musste ich darauf zurückgreifen, die Ärmel abzutrennen und am Rest, durch seitliche Schlitze für meinen Körper Platz zu schaffen. Das alles hielt ich mit einem Ledergürtel zusammen. Die Stiefel passten überhaupt nicht, weil meine Füße dafür viel zu groß waren. Um nicht weiterhin barfuß gehen zu müssen, griff ich darauf zurück, seinen Fellumhang in passende Streifen zu schneiden und diese wiederum um meine nackten Füße zu wickeln. Das Ganze wurde mit Riemen aus selbigen Fell fixiert. E voilá, fertig! Nicht schön, aber selten. Den Toten legte ich in eine Senke und bedeckte ihn mit herumliegenden Tannenzweigen. Die Waffen und seine restliche Habe nahm ich an mich. Soweit, so gut.

Und jetzt zu meinem Plan: Zuerst musste ich den Spuren der Frau folgen, bzw. ihrer Schlepper. Anschließend herausfinden, um wie viele Leute es sich in der Gesamtheit handelte. Mir erschien es unwahrscheinlich, dass es nur zwei sein konnten. Insgeheim hoffte ich, dass sie zwischenzeitig diesen Ort nicht mit einem Boot verlassen hatten. Über das Meer konnte ich, ganz ohne hinterlassene Spuren, dem Mädchen unmöglich folgen. Falls ich eine Siedlung fand, musste ich mir darüber im Klaren sein, wie ich dort hineinkam. Tatsache ist, ich kann nicht allein eine ganze Festung stürmen, das wäre Selbstmord. Und als Fremder mussten sie mir unweigerlich den Zutritt verweigern. Blieb nur der Schutz der Nacht, um dort hineinzukommen, das Mädchen zu greifen und mit ihr zu fliehen. Das dürfte nicht so einfach sein. Wenn jemand mich entdeckte und Alarm schlug, ging das so sorgfältig geplante Vorhaben gehörig in die Hose.

Wie dem auch sei. Es wurde Zeit herauszufinden, was Sache war. Die Götter meinten es nicht gut mit mir. Von Osten her zog ein heftiger Sturm auf.

*

Lausige Zeiten

Подняться наверх