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Kapitel 9
ОглавлениеDr. Kehl stand im weißen Kittel vor einer Stahlfläche, auf der ein komplettes Skelett lag. Als er Anke eintreten sah, hielt er mit seiner Arbeit inne, zog seine Latexhandschuhe aus und begrüßte sie mit einer Freundlichkeit, die Anke als Warnung auffasste. Erik bekam nur ein kurzes Kopfnicken.
»Da sind Sie ja endlich.« Ohne seinen Blick von Anke abzuwenden, trat er auf das Skelett zu. »Ich habe die Knochen inzwischen untersucht und zugeordnet. Anhand der Knochennähte, die, wie wir hier sehen können, zusammengewachsen sind, handelt es sich um einen ausgewachsenen Menschen, Alter zwischen dreißig und fünfzig Jahren. Zu Lebzeiten erlitt er eine Fraktur am linken Oberarm. Von seinen Zähnen konnten wir nur einen einzigen finden, an dem wir die DNA–Analyse durchgeführt haben. Das Ergebnis hat das Labor noch nicht ermittelt. Aber im Laufe des Tages werden wir es erhalten.«
»Was ist die Todesursache?«, fragte Erik.
»Unser Opfer wurde doppelt ermordet«, erklärte Dr. Kehl. »Einmal wurde es erwürgt, das erkennt man daran, dass das Zungenbein gebrochen ist.« Er wies mit seiner behandschuhten Hand auf einen kleinen, vorstehenden Knochen zwischen den spärlichen Überresten des Unterkiefers und den oberen Halswirbelknochen, der umgeknickt war. »Weiterhin wurde auf Ober – und Unterkiefer mehrmals eingeschlagen, dass kaum etwas von den Knochen erhalten geblieben ist.« Er hielt kurz inne, schaute Anke eindringlich an. »Allerdings habe ich die erstaunliche Entdeckung gemacht, dass die Knochen bei unserem Opfer so brüchig waren wie bei einem alten Mann.«
»Jetzt wird es kompliziert«, stöhnte Anke.
»Ganz und gar nicht. Ich will damit sagen, dass die Knochen nur dadurch restlos zertrümmert werden konnten. Ansonsten bleibt immer noch etwas erhalten, was wir für Untersuchungen verwenden können.«
»Was heißt das für uns?«
»Entweder war das Opfer nach den Anstrengungen des Erwürgens immer noch nicht tot oder der Täter wollte vermeiden, dass die Identität des Opfers festgestellt werden kann.«
»Wäre das Opfer an der Zertrümmerung der Kiefer gestorben?«
»Bei dieser massiven Verletzung wäre es erstickt.«
»Wurden ihm die Verletzungen vor oder nach seinem Tod zugefügt?«
»Das kann ich nicht mehr feststellen.« Dr. Kehl zuckte mit den Schultern. Wieder blieb sein Blick auf Anke haften, als er anfügte: »Warum übt eine so aufregend schöne Frau wie Sie solch einen morbiden Beruf aus?«
»Das lassen Sie mal meine Sorge sein«, entgegnete Anke schroff und fügte ihre nächste Frage an: »Wie lange lag der Tote an dem Ort, an dem ich ihn gefunden habe?«
»Das ist schwer zu beantworten. Zwischen fünf bis zehn Jahren. Mit Sicherheit wurde er der ungewöhnlichen Hitze und Trockenheit im Sommer 2003 ausgesetzt. So etwas beschleunigt den Verwesungsprozess. Hinzu kommt, dass die Leiche nicht tief genug begraben wurde. Das begünstigt Tierfraß. Außerdem ist von seinen Kleidern nicht mehr viel erhalten geblieben, was vermuten lässt, sie waren blutgetränkt, sonst verrottet eine Hose nicht vollständig.«
»Tote bluten nicht«, funkte Anke dazwischen.
»Das beantwortet deine Frage, ob er noch lebte, als ihm die Verletzungen zugefügt wurden«, reagierte Erik darauf.
»Das sind vage Vermutungen«, schaltete sich Dr. Kehl schnell ein. »Wir wissen nicht, ob das Opfer vollständig bekleidet war, als es im Wald vergraben wurde.«
Die Veranschaulichungen wurden immer schauriger. Anke schüttelte sich bei der Vorstellung, was sich dort abgespielt haben musste, wo sie vom Pferd gefallen war.
»Sie sagten doch, dass Kleidungsreste in der Nähe des Fundorts lagen«, erinnerte Anke Dr. Kehl.
»Nur dürftige Stofffetzen, meine Schöne …«
»Ich bin nicht Ihre Schöne«, unterbrach Anke den Alten.
»… zum vollständigen Bekleiden zu wenig«, sprach der Anthropologe unbeirrt weiter. »Zudem lagen dort eine Gürtelschnalle und ein Schlüssel, gnädiges Fräulein.«
»Für Sie immer noch Kriminalkommissarin Deister. Ihre Verniedlichungen können Sie sich sparen!«
»Ganz schön rebellisch, Ihre Kollegin«, wandte sich Dr. Kehl an Erik, der nur mit einem grimmigen Blick reagierte. »Sämtliche Fundstücke befinden sich bereits im Labor bei Theo Barthels, der die kriminaltechnische Untersuchung daran durchführt.«