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Teil II Winter 2000

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Die Wolken wurden immer schwärzer. Eiskalter Wind pfiff ihm um die Ohren. Regentropfen peitschten in sein Gesicht. Er hatte Mühe zu erkennen, wohin er lief. Dabei versuchte er sein Tempo zu beschleunigen, aber seine Beine packten ihn nicht mehr. Er begann zu stolpern, rappelte sich wieder auf, taumelte weiter. Vor ihm lag die schmale Brücke zur Vauban-Insel. Das Ziel strebte er an, getrieben von der Hoffnung, sich dort vor seinem Verfolger verstecken zu können.

Was geschah nur mit ihm? Er wollte sich einen vergnüglichen Abend mit einer Frau machen, hatte sich ein erotisches Abenteuer versprochen, doch nun rannte er um sein Leben.

Eilig überquerte er die schmale Brücke.

Ein Donner ertönte. Vor Schreck zuckte er zusammen, weil er schon glaubte, es sei ein Schuss gefallen. Warum war hier alles menschenleer? Niemand zu sehen, den er um Hilfe bitten könnte. Auf der Insel angekommen stand er vor einer Wegegabelung. Schnell musste er sich entscheiden, Zögern könnte seinen Tod bedeuten. Er wählte den linken Pfad, passierte den alten Bunker, in dem sich das Restaurant Contregarde befand. Zu allem Pech sah er, dass es geschlossen war – vermutlich schon seit Jahren, denn Efeu wuchs an der Eingangstür hoch. Er sprang die mit Hecken überwucherte Böschung hinunter und rüttelte an den Gittern vor den Fenstern, aber sie waren viel zu stabil. Da fiel sein Blick auf einen weiteren Bunker, der sich eine Ebene tiefer befand, ganz nah am äußeren Rand der Halbinsel, die zur Seite des Saarlouiser Stadtparks zeigte. Mit großen Schritten eilte er darauf zu, sprang über die Absperrung und robbte sich durch die dichten Hecken. Dort angekommen zerrte er gleich am ersten Gitter. Er hatte Glück. Es war locker. Gerade wollte er hineinspringen, da hörte er etwas ganz dicht hinter sich. Erschrocken drehte er sich um.

Vor ihm stand eine vermummte Gestalt.

Sibylle blickte auf und schaute in ein Publikum voller verängstigter Gesichter. Einige wischten sich den Schweiß von der Stirn, andere atmeten tief durch, weil sie genau im richtigen Augenblick aufhörte vorzulesen.

Nur wenige Sekunden der Stille verstrichen, dann ertönte der Applaus.

Hinterher erhob sich Antonia Welsch, stellte sich als Literaturagentin vor und verkündete, dass das Buch nun zu kaufen sei.

Der Rest des Abends verging wie im Flug. Viele Bücher der Autorin Sibylle Kriebig wechselten ihren Besitzer. Die Gäste zeigten Begeisterung, waren von großer Neugierde gepackt und lobten Sibylles Vortrag, der Lust auf mehr gemacht habe.

Der Lärmpegel sank.

Nach und nach verließen die Besucher die Buchhandlung. Sibylle rieb sich ihr Handgelenk. Es schmerzte vom Schreiben der vielen Widmungen. Verträumt schaute sie sich um, bis sie zwei Männer sah, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Der eine war groß, schlank und elegant gekleidet. Ihn umgab eine Aura, die Sibylle sofort in ihren Bann zog. Ihre Blicke trafen sich. Sie fuhr zusammen, als habe ihr jemand in den Magen geboxt. Was bedeutete das?

Sein Begleiter wirkte neben ihm winzig, dick und ungepflegt. Dafür blitzten seine Augen hellwach. Ausgerechnet der war es, der vor ihren Tisch trat. Er hielt ihr das Buch entgegen und fragte: »Wie sind Sie auf diese tolle Idee gekommen?«

Verärgert über die Frage schaute Sibylle auf. Der Blick dieses Mannes löste in ihr das Gefühl aus, er könnte in sie hineinschauen. Das verunsicherte sie.

Was bezweckte der Zwerg mit seiner Frage?

»Ich habe einfach viele Ideen. Dafür gibt es wohl kein Geheimrezept«, wich sie aus.

Ihre Angst, dass er ihr etwas entlocken könnte, was sie nicht sagen wollte, wuchs. Der Mann wirkte auf sie wie ein Fuchs.

»Haben Sie schon mehrere Bücher geschrieben?«

Was wollte er wirklich? Fragen wollte sie nicht, weil sie sich einen potenziellen Leser vergraulen könnte.

»Nein, das ist mein erstes.«

»Kommen noch weitere?«

»Ich hoffe es.« Sibylle lachte nervös. »Aber zuerst muss ich die noch schreiben.«

»Richten Sie bitte Ihre Widmung an Ingo«, bat er Sibylle.

Die Autorin schaute ihn prüfend an.

»Sind Sie das?«

»Nein! Ingo Landry ist mein Freund«, dabei zeigte er auf seinen Begleiter.

Neugierig schaute Sibylle wieder in die Richtung des Fremden. Er wandte ihr sein Gesicht erneut zu – wenn auch nur kurz. Aber das reichte schon, in Sibylle eine ganz Flut an gemischten Gefühlen hervorzurufen. Kannte sie diesen Mann?

»Und Sie? Wollen Sie nicht auch ein Buch kaufen?«, fragte Sibylle hastig, damit ihr Glotzen nicht auffiel.

Sie bekam keine Antwort.

Die beiden Männer waren die letzten Gäste gewesen. Nach ihrem Weggang gähnte die erste Etage der Buchhandlung leer.

Sibylle zögerte nicht und verließ zusammen mit Antonia das große Gebäude, in dem es plötzlich so still geworden war. Sie traten hinaus in eine sternenklare Nacht. Nur noch wenige Autos standen auf dem Parkplatz am Großen Markt. Alles wirkte jetzt ruhig und friedlich, die Hektik des Tages war vorüber.

Auf dem Heimweg durch das nächtliche Saarlouis begann Sibylle ungeduldig, das Make-up aus ihrem Gesicht zu wischen. Sie entfernte die vielen Spangen, die ihre roten Haare davon abgehalten hatten, wie Borsten abzustehen.

»Kannst du damit nicht noch ein bisschen warten?«, schimpfte Antonia. »Jetzt siehst du aus wie Frankensteins Monster.«

»Dann fällt auch niemand über mich her.« Die beiden lachten laut auf und konnten sich gar nicht mehr einkriegen.

*

Matthias Hobelt und Ingo Landry stiegen in ihren Wagen und fuhren auf die Autobahn in Richtung Mandelbachtal. Zur späten Stunde herrschte wenig Verkehr auf der sonst stark befahrenen Straße. Stille breitete sich im Wagen aus. Es dauerte lange, bis Matthias das Schweigen brach: »Die Lesung hat mich auf eine gute Idee gebracht.«

»Und die wäre?«

»Du kannst doch fantastisch schreiben.«

»Ich weiß!« Ingo nickte.

»Was hältst du davon, wenn du ein Gegenstück zu dem Krimi ›Frauen an die Macht‹ schreibst und veröffentlichst?«

»Ich soll ein Buch schreiben?« Ingo zweifelte.

»Hast du Bedenken, so etwas fertigzubringen?«, fragte Matthias.

Eine Weile hörten sie nur das leise Brummen des Motors. Ingo steuerte den alten Jaguar seines Vaters, dessen 6-Zylinder-Maschine nach wie vor wie ein Uhrwerk lief. Eine gute Limousine, die ihn an Komfort denken ließ. Bei kaltem Wetter zog er diesen Wagen den sportlichen Modellen vor. Gelegentlich leuchteten Scheinwerfer von entgegenkommenden Autos auf. Hier und da versuchte jemand zu überholen, was Ingo Landry mit seinen 250 PS unter der Motorhaube nicht zulassen konnte. In Sekundenschnelle beschleunigte er, was andere Autofahrer zum Aufgeben zwang, und in Ingo jedes Mal einen Triumph auslöste.

Mit dem Gedanken, ein Buch zu schreiben, könnte er sich anfreunden. Das würde Anerkennung für ihn bedeuten, etwas, womit es sich gut leben ließ. Bisher hatte er allerdings nur Aufsätze im Deutschunterricht in der Schule geschrieben. Sie sind von seinem Lehrer zwar ausgezeichnet worden, weil sie auffallend gut waren. Aber genügte das wirklich, ein ganzes Buch fertigzustellen?

Beruflich hatte er nichts aus seinem Leben gemacht.

Solange seine Eltern – seine Pflegeeltern – gelebt hatten, brauchte er das nicht. Das Ehepaar war steinreich, sie konnten ihm jeden Wunsch erfüllen. Es war für ihn nie nötig geworden, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Sein Vater war über mehrere Legislaturperioden Kultusminister und seine Mutter Dozentin für Chemie an der Universität in Saarbrücken. Es grenzte an Wunder, dass sie Ingo trotz seiner Untätigkeit immer hoch geschätzt hatten. Womit hatte er sich ihre Bewunderung verdient?

Inzwischen waren seine Pflegeeltern gestorben – und mit ihnen das erhebende Gefühl, etwas Besonderes zu sein.

Heute überkam ihn der Eindruck, dass sein Werdegang mehr Ähnlichkeit mit dem eines verhinderten Künstlers, oder besser gesagt eines Lebenskünstlers, besaß als mit dem eines angehenden Buchautors. Von Kindesbeinen an gehörte das Basteln von schönen Spielzeugautos zu seinen Leidenschaften, bis er erkennen musste, dass er kein einziges Modell fertiggestellt hatte. Er hatte keine Motivation, keine Ideen. Er konnte sich nie auf das Ganze konzentrieren. Etwas niederzuschreiben war nicht schlecht. Aber trotz seiner vielfältigen Überlegungen sah er das unüberwindliche Hindernis darin, es bis zum Ende zu bringen. Wie beim Basteln von Autos waren es die Details, die ihn im Sumpf der Engstirnigkeit versinken lassen würden, während ihm das eigentliche Konzept entglitt. Wie sollte er es schaffen, ein komplettes Buch zu schreiben?

Er wollte ehrlich zu seinem Freund sein, das war er ihm schuldig. Matthias hatte eine falsche Meinung von ihm, hielt ihn in der Kunst des Schreibens für begnadet, eine Haltung, die Ingo nicht gerne korrigierte. Sie behagte ihm – wie alles, was ihn auf das Podest stellte, auf das er eigentlich nicht gehörte.

»Nein, habe ich nicht«, kam es Ingo über die Lippen, als hätten sie ein Eigenleben. Gerade noch hatte er einen vernünftigen Gedanken, wenn er auch einem Gang nach Canossa glich, nämlich ehrlich zu seinem Freund zu sein. Welcher Teufel ritt ihn, sich auf dieses gewagte Spiel einzulassen?

»Nur, was soll ich schreiben?« Mit der Frage gab er seine Bedenken preis.

»Ganz einfach: Wir lesen das Buch von Sibylle Kriebig, entnehmen die Ideen, verändern sie ein wenig, indem wir die Männer an die Macht lassen und schon ist ein fantastischer Krimi fertig«, erklärte Matthias. »Und du wirst sehen, dass dein Buch sich besser verkaufen wird.«

»Warum?«

»Weil du mich hast.«

Ingo warf seinem Freund einen ungläubigen Blick zu.

»Also«, drängte Matthias. »Was hält dich davon ab? Schreib dein Buch und du wirst sehen, die Medien machen einen großen Erfolg daraus.«

»Du bist dir aber ganz schön sicher.«

»Natürlich bin ich das! Ich habe mir alles gut überlegt«, gestand Matthias. »Ein Buch von einer namenlosen Autorin wird sich auf dem Markt nicht behaupten.«

»Trotzdem kommt die Idee von ihr und nicht von mir«, zweifelte Ingo immer noch.

»Wen interessiert das? Bestseller werden nicht geschrieben, sondern von den Medien gemacht!«

»Also, wenn ich mir deinen Plan anhöre, gelange ich zu der Überzeugung, dass besser du das Buch schreibst. Du steckst voller Ideen – im Gegensatz zu mir.«

»So ein Unsinn«, wehrte Matthias ab. »Ich kann keine drei Sätze fehlerfrei schreiben. Du bist in Deutsch richtig gut, hast schon in der Schule die besten Noten bekommen. Also musst du das Buch schreiben.«

Sie verließen die Autobahn an der Abfahrt am Flughafen Ensheim, fuhren weiter über die Landstraße in Richtung Ormesheim.

Kurz bevor sie den Ort erreichten, traf Ingo seine Entscheidung: »Du hast Recht. Wir werden das Buch schreiben.«

»Klasse, Kumpel! Hand drauf!«, jubelte Matthias.

Ingo parkte seinen Jaguar vor dem Elternhaus. Feierlich schlug er mit seinem Freund auf ihre Abmachung ein. Dabei fühlte er sich wieder wie der kleine Junge, der einen Streich ausheckte.

»Das Geld teilen wir«, stellte Matthias klar und setzte damit dem Freudentaumel ein Ende.

»Wenn wir welches verdienen«, gab Ingo zu bedenken.

»Wir werden immer Mittel und Wege finden, den Verkauf anzukurbeln.«

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