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Kapitel 11

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Der Konferenzsaal füllte sich. Angenehmer Kaffeeduft zog herein. Das leise Gemurmel und Tassenklirren verstummte, Ruhe kehrte ein. Genau in diesem Augenblick öffnete sich die Tür und gab den Blick auf die Staatsanwältin Ann-Kathrin Reichert frei. Alle starrten sie an. Fürstlicher konnte ihr Auftritt nicht sein. Ihre giftgrünen Augen wanderten über die Kollegen, bis sie bei Jürgen Schnur aufblitzten. Sie steuerte ihn an.

Der Stuhl neben Schnur wurde sofort frei gemacht. Der Dienststellenleiter wartete, bis sie Platz genommen hatte. Dabei bemühte er sich, nicht auf die Staatsanwältin zu schauen, was ihm schlecht gelang. Sie trug ihre feuerroten Haare offen. Ihr sommersprossiges Gesicht wirkte schelmisch. Die Bluse zeigte ein offenherziges Dekolleté.

Alle warteten. Die Spannung stieg an. Plötzlich ertönte in voller Lautstärke Je t‘aime ... moi non plus, das französische Liebeslied von Jane Birkin und Serge Gainsbourg.

Schnurs Gesicht färbte sich dunkelrot. Hastig zerrte er an der Brusttasche seines Hemdes und zog sein Handy heraus.

»Scheiße«, murmelte er. »Wenn ich meinen Sohn in die Finger kriege, erschlage ich ihn.«

Brüllendes Gelächter brach aus. Schnur meldete sich, aber niemand interessierte sich dafür, wer der Anrufer war. Die Stimmung war zu ausgelassen. Als er auflegte, verstummten alle und schauten ihn erwartungsvoll an.

»Unsere Sekretärin bringt die Unterlagen des forensischen Anthropologen«, erklärte er.

Kaum hatte er ausgesprochen, betrat eine füllige Dame mit grellbunten Kleidern und starkem Make-up den Besprechungsraum. Sie legte jedem Polizeibeamten eine Kopie auf den Tisch und eilte wieder hinaus.

»Hier steht, dass es sich bei dem Skelett um ein männliches Opfer handelt«, begann Schnur. »Es genügt, wenn Sie den Bericht später lesen.«

Alle Augen richteten sich auf ihn. Ihre Belustigung stand immer noch in ihren Gesichtern.

»Theo Barthels hat einige Fundstücke untersucht, die in der Nähe des Skeletts lagen«, sprach Schnur weiter, wobei er sich bemühte, seinen Ärger über die aufgeheiterten Mienen nicht zu zeigen. »Theo, bitte erklär uns, was in deinem Bericht steht!«

Der Angesprochene erhob sich mit einem Bündel Papiere in der Hand. Sein Anzug sah so aus, als sei er schon mehrmals getragen worden, weshalb er eher gemütlich als elegant wirkte. Seine Haare waren mit vielen grauen Strähnen durchzogen, seine buschigen Augenbrauen dagegen behielten ihre dunkle Farbe, was ihm schon bei einigen Kollegen den Spitznamen Theo Waigel eingebracht hatte.

Mit fester Stimme begann er zu sprechen: »Die Untersuchungen an der Gürtelschnalle ergaben keine Hinweise auf einen früheren Besitzer. Eine Herstellerfirma ist nicht mehr darauf abzulesen, da die Schnalle zu stark verrostet ist. Der Eigentümer ist leider nur durch Zeugenbefragungen zu ermitteln.« Er atmete kurz durch und setzte seinen Bericht fort: »Auf dem Schlüssel, der neben dem Skelett lag, ist keinerlei Nummer zu erkennen, sodass wir darüber auch nichts herausfinden können. Entweder hat der Rost alle Hinweise aufgefressen oder aber es gibt keine Nummer, weil der Schlüssel nachgemacht wurde. Weiterhin haben wir die Fundstelle untersucht, nachdem Anke Deister dort verdächtige Bewegungen beobachtet hat. Bei der Untersuchung konnten wir keine Spuren herausfiltern. Durch die lange Trockenheit ist der Boden zu hart und hinterlässt keine Abdrücke. Tut mir leid, dass ich keine besseren Ergebnisse vorlegen kann.«

»Können wir von einem Verbrechen ausgehen?«, fragte Ann-Kathrin Reichert.

»Der Anthropologe Dr. Kehl stellte am Skelett fest, dass das Zungenbein gebrochen ist. Außerdem wurden Ober – und Unterkiefer bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert«, antwortete Schnur. »Leider ist nicht festzustellen, ob die Zertrümmerung vor oder nach dem Tod stattfand.«

»Nach den von Ihnen zusammengetragenen Fakten handelt es sich also um ein Tötungsdelikt.«

»Deshalb kommen wir nicht umhin, den Fall zu bearbeiten.«

Alle nickten.

»Die Medien haben schon fleißig berichtet. Sie stellen diese Tat als Anschlag auf das Biosphärenreservat hin. Können wir dem etwas entgegensetzen?«

»Ja, die Leichenliegezeit. Der Tote ist nach Dr. Kehls Berechnungen seit mindestens fünf Jahren tot.« Dabei wies Schnur auf den Bericht des forensischen Anthropologen.

»Die Öffentlichkeit hat ein großes Interesse an dem Fall. Ich gehe davon aus, dass Sie mit der Situation fertig werden«, merkte die Staatsanwältin an. Damit hatte sie die Sympathien sämtlicher Männer der Abteilung gewonnen. Die Bewunderung, die bereits für sie gehegt wurde, stieg noch weiter an; eine gehörige Portion Respekt mischte sich darunter.

Den letzten Satz hatte Schnur als Aufforderung aufgefasst, nun sein weiteres Vorgehen zu besprechen. Er richtete seine Frage an seine Mitarbeiter: »Habt ihr Übereinstimmungen von vermisst gemeldeten Personen gefunden?«

Bernhard Diez antwortete: »Ein Mann wurde in Ormesheim vermisst gemeldet. Die Übereinstimmungen sind folgende: Der Mann war zum Zeitpunkt des Verschwindens achtunddreißig Jahre alt und lebte in der Nähe des Fundortes. Sein Name ist Ingo Landry.«

»Gute Arbeit. Das ging wirklich schnell!«

»Anke hat mir einen Tipp gegeben«, gab Bernhard zu.

Schnur schaute Anke fragend an, die daraufhin erklärte: »Kullmann hat mich auf einen ungelösten Fall aus seiner aktiven Dienstzeit hingewiesen. Die Tatsache, dass der Tote in Ormesheim gefunden wurde, erinnerte ihn daran, dass damals Ingo Landry als vermisst gemeldet worden war.«

»Das ist interessant«, staunte Schnur. »Warum kann ich mich nicht daran erinnern?«

»Ich war damals auf einer kriminalpsychologischen Schulung«, brachte Anke schnell ihre eigene Entschuldigung vor. »Das war im September 2001.«

»Zu dem Zeitpunkt war ich mit meiner Familie in einem langen Urlaub.« Schnur war es mit der Angabe des Datums wieder eingefallen. »Wir waren sechs Wochen auf einer Safari.«

Amüsiertes Geraune ging durch die Runde.

»Sind Sie Großwildjäger?«, fragte Ann-Kathrin Reichert, wobei sie Mühe hatte, ernst dreinzublicken.

»Ich musste mir damals etwas einfallen lassen, was meine Kinder reizte, zusammen mit ihren Eltern in Urlaub zu fahren.«

»Und? Haben Sie dort das Jagen gelernt?«

»Nein! Mir taten die Elefanten leid – ich hätte niemals einen erschießen können.«

»Das spricht für Sie.« Die Staatsanwältin nickte anerkennend.

»Gibt es etwas, was die Identität Ingo Landrys bestätigt?«, richtete Schnur seine nächste Frage an Bernhard.

»Ja, Ingo Landry passt von seinem Alter her, vom Zeitpunkt des Verschwindens – außerdem hatte er sich vor etwa zwanzig Jahren bei einem Autounfall den linken Oberarm gebrochen. Eine zusammengeheilte Fraktur an der gleichen Stelle fand Dr. Kehl am Skelett.«

»Wo wohnte Ingo Landry bis zu seinem Verschwinden?«

»In Ormesheim, in der Adenauerstraße.«

»Wir werden überprüfen müssen, ob der Schlüssel, der bei der Leiche lag, zu dem Haus passt«, bestimmte Schnur. »Außerdem übergibst du Dr. Kehl das Untersuchungsmaterial zu Ingo Landry, damit er den genetischen Vergleich machen kann!«

Bernhard nickte.

Grewe räusperte sich und verkündete: »Ich habe mich über Ingo Landry bereits informiert.«

»Was kam dabei heraus?«

»Er hat einen Kriminalroman geschrieben, der im Saarland veröffentlicht wurde.«

»Hat er darin schon mal die Rolle des Opfers geübt?« Schnurs Tonfall klang sarkastisch.

»Könnte sein«, gab Anton Grewe zurück.

»Jetzt hast du mich am Haken. Los, erzähl schon! Gibt es darin etwas Wichtiges für uns?«

»In seinem Buch werden mehrere Frauen erwürgt und im Europäischen Kulturpark in Bliesbrück-Reinheim halb vergraben aufgefunden. Darin beschreibt er das Stadium der Verwesung sehr detailliert.«

Kurzes Schweigen trat ein, das Schnur mit seiner nächsten Bemerkung unterbrach: »Ich habe den Krimi Ich töte von Giorgio Faletti gelesen. Darin wird den Opfern die Gesichtshaut abgezogen. Soweit ich informiert bin, hat Giorgio Faletti seine noch.«

»Trotzdem klingt Grewes Beobachtung interessant«, meldete sich Anke. »Das erinnert mich daran, in welchem Zustand das Opfer war, das ich gefunden habe.«

Schnur rieb sich über sein rasiertes Kinn, nickte und meinte: »Du glaubst also, dass es Parallelen gibt?«

»Genau das! Unser Toter wurde erwürgt. Ich fand ihn im Zustand völliger Verwesung halb vergraben im Wald. Das könnte doch bedeuten, dass einer seiner Leser seine eigene Mordmethode an ihm praktizierte.«

Allgemeines Staunen ging durch den Raum.

»Also müssen wir nur herausfinden, wer das Buch gelesen hat«, schlussfolgerte Bernhard schnippisch. »Eigentlich ganz einfach.«

»Du bist hier der geschulte Kriminalpsychologe«, erinnerte Schnur den vorlauten Mitarbeiter an seine erst kürzlich absolvierte Schulung. »Also kannst du den Täterkreis eingrenzen.«

Bernhard schluckte.

»Wie sieht es mit einem Motiv aus?« Die Frage richtete Schnur an Grewe. »Hat der Täter in seinem Buch ein Motiv, die Frauen zu töten und wäre es mit seinem eigenen Tod in Verbindung zu bringen?«

»Er schreibt von Frauen, die versuchen, die Männer in der Gesellschaft lächerlich zu machen. Der Mörder entwickelt einen ausgeprägten Frauenhass.«

»Das erinnert mich an etwas«, überlegte die Staatsanwältin.

Alle horchten auf. Eine Weile schaute sie nachdenklich in ihre Kaffeetasse, bis sie den roten Lockenkopf schüttelte und meinte: »Ich komme nicht dahinter. Sprechen Sie nur weiter, ich höre Ihnen zu!«

Schnur übernahm wieder das Wort: »Sollte es sich wirklich um eine Kopie der Handlung aus dem Krimi von Ingo Landry handeln, müssen wir in Erfahrung bringen, wer das Buch verlegt hat und wer mit Ingo Landry daran gearbeitet hat. Vielleicht bringt uns das weiter.«

»Ich kann mich darum kümmern«, meldete sich Bernhard Diez.

Schnur nickte und sprach Anke an: »Du wirst den Krimi unseres verstorbenen Autors ebenfalls lesen. Vielleicht kannst du noch andere Details darin erkennen!«

Anke stimmte verdrossen zu. Erik grinste Anke hämisch an. Weiter kam er nicht, denn da sprach Schnur ihn direkt an: »Du wirst zusammen mit Anton Grewe nach Ormesheim fahren, um den Schlüssel zu überprüfen. Sollte er tatsächlich passen, gibst du mir sofort Bescheid und beginnst unverzüglich mit einer Befragung der Leute im Dorf. Ich will so viel wie möglich über unser Opfer erfahren – was für ein Mensch er war, welche Interessen er hatte, mit wem er Kontakt hatte. Du weißt schon.«

Nun war es an Anke, Erik anzugrinsen.

Nach der Besprechung verließen alle murmelnd den Raum.

Anke wollte gerade die Tür zu ihrem Zimmer schließen, als sich Erik hastig hineinzwängte und fragte: »Hättest du Lust, mich nach Ormes­heim zu begleiten? Das Buch kannst du auch während der Fahrt lesen.«

»Da verlangst du ganz schön viel von mir«, gab Anke zu bedenken.

Erik schaute seine Kollegin eindringlich an.

»Ich gehe nur unter einer Bedingung auf deinen Vorschlag ein!«

»Alles, was du willst!«

»Ihr bringt mich an den Stall zu Rondo! Ich muss sein Bein neu verbinden. Und kein Wort zu Jürgen Schnur!«

»Deine Bedingung in allen Ehren. Wir werden uns mit dir gemeinsam auf unerlaubtes Gebiet vorwagen.«

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