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Kapitel 1

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Anke Deister konnte ihr Glück nicht fassen. Seit sie Mutter einer wunderbaren Tochter war, hatte sie sich nicht mehr auf ein Pferd gewagt. Dabei hatte ihr das Reiten immer große Freude gemacht – ganz besonders auf dem Schulpferd Rondo. Inzwischen zählte Lisa drei Jahre und neun Monate, eine Zeit, die für Anke wie im Flug vergangen war. Während Anke stets vom Reiten geträumt hatte, war Lisa fleißig dabei, es zu lernen. Lisas Kindergartenfreundin hatte ein kleines Pony – für sie genau das Richtige.

Aber das Träumen hatte für Anke ein Ende. Das Schulpferd Rondo gehörte ihr. Einerseits hatte sie immer darüber nachgedacht, sich eines Tages ein Pferd zu kaufen. Doch, dass es Rondo sein würde, das Pferd, auf dem sie reiten gelernt hatte, wäre ihr nicht in den Sinn gekommen. Das verdankte sie ihrem Arbeitskollegen Erik Tenes. Unmissverständlich hatte er ihr erklärt: »Entweder du kaufst ihn jetzt sofort oder er geht in andere Hände. Interessenten gibt es genug.«

Sie hatte nicht gezögert.

Mit diesen wohltuenden Erinnerungen ritt Anke im Schritt durch den Wald bei Ormesheim im Bliesgau. Sie hatte einen Platz in einem Reitstall gefunden, in dem sie ihr Pferd in guter Obhut wusste, auch zu Zeiten, in denen sie sich nicht um ihn kümmern konnte. Ihr Beruf als Kriminalkommissarin hielt oft Überraschungen für sie bereit, nämlich Ermittlungsarbeiten, die sie voll und ganz in Anspruch nahmen. Deshalb war es ihr wichtig, dass Rondo durch ihren Beruf keinen Nachteil erlitt. Das war hier nicht der Fall. In diesem Reitstall gab es viele Koppeln, wo er täglich mit anderen Pferden in einer Herde laufen konnte.

Das Mandelbachtal lag im Südosten des Saarlandes und war geprägt durch seine lothringische Nachbarregion auf der einen und die benachbarte Pfalz auf der anderen Seite. Durch weite offene Täler entlang des Mandelbaches, dem das Gebiet seinen Namen verdankte, wirkte es für das Auge wie eine endlose, grüne Weite. Es lag rund zehn Kilometer östlich von Saarbrücken und grenzte an die Städte St. Ingbert und Blieskastel. Die Lage war traumhaft, ein Anblick, der in Schwärmereien versetzen konnte. Ringsum nur Natur. Aber leider hatte Anke bisher noch keinen Reitweg entdeckt, der diesem Traumbild gerecht wurde. Kaum losgeritten, erkannte sie, dass der Weg, den sie eingeschlagen hatte, schon wieder zum Stall zurückführte. Kurzerhand beschloss sie, noch einen Bogen anzuhängen.

Dafür wählte sie einen schmalen Seitenpfad zu ihrer Linken.

Die Luft wurde schlechter. Hinter dem hohen Wall, der den Wald wie einen Kessel eingrenzte, befand sich eine Mülldeponie – der Grund für den Mief. Der war unangenehm.

Sollte sie den Weg fortsetzen oder umkehren?

Der Boden wurde steiniger.

Befand sie sich überhaupt noch auf einem Reitweg? Rondo kam ständig ins Stolpern, was mit der Wucht seines Gewichtes von sechshundert Kilogramm jedes Mal eine heftige Erschütterung für Anke bedeutete.

Plötzlich erschrak Rondo. Anke spürte, dass er angespannt war. Es dauerte nur eine Schrecksekunde, schon rannte Rondo wie von der Tarantel gestochen los. Anke konnte ihn nicht halten. Auf ihre Versuche, ihn mit den Zügeln abzubremsen, reagierte er nicht. Im Gegenteil: Er wurde immer schneller.

Die Äste hingen tief. Anke duckte sich, klammerte sich um seinen Hals, damit sie bei dem Tempo nicht auf den harten Boden fiel. Funken sprühten an den Stellen, an denen Rondos Hufeisen auf Steine trafen.

Dann strauchelte er. Die Reiterin verlor das Gleichgewicht. Im Höllentempo kam die steinige Erde auf Anke zu. Ein dumpfes Donnern, dann verschwand alles in undurchdringlicher Schwärze.

*

Anke öffnete die Augen. Sie schaute auf Baumkronen.

Wo war sie?

Sie spürte, dass sie lag – auf dem Boden. Waldboden.

Wie war sie dorthin gekommen?

Es fühlte sich kalt an – alles fühlte sich kalt an.

Etwas schimmerte vor ihren Augen. War das ein Schein? Ein Heiligenschein?

Anke spürte nichts, nur Kälte. Keine Arme, keine Beine, keinen Körper.

Ein übler Gestank drang ihr in die Nase.

Vorsichtig testete sie, ob sie den Kopf bewegen konnte. Sie konnte. Ganz langsam drehte sie ihn nach links.

Mein Gott, wie lange liege ich schon hier?

Der Schreck der Erkenntnis traf sie hart.

Ihr Arm bestand nur noch aus Knochen!

Bestürzt schaute sie hoch. Alles leuchtete golden. Der Anblick beruhigte sie nicht. Sah so der Himmel aus?

Wieder richtete sie ihren Blick nach links.

Deutlich sah sie ihren Oberarmknochen, ihre Elle, ihre Speiche, die Mittelhandknochen und die vielen kleinen Röhrenknochen der Fingerglieder. Ungläubig ließ sie ihren Blick von den Fingern nach oben wandern. Dort erkannte sie ihr Schlüsselbein. War das ein Schulterblatt, was sie da zu erkennen glaubte? Verzweifelt schloss sie ihre Augen.

Wie wohl der Rest von ihr aussah? Erklärte das den Gestank? Roch sie ihre eigene Verwesung? Sie wagte nicht, an sich selbst herunterzuschauen. Die Angst vor dem, was sie noch zu sehen bekäme, siegte.

Sie schlotterte. War das vor Angst oder vor Kälte?

Aber warum klapperte es nicht? Wenn Knochen aufeinanderschlugen, musste es doch klappern. Wieder richtete sie ihren Blick auf den linken Arm. Vorsichtig hob sie ihn an.

Was sie nun sah, erstaunte sie noch mehr: Sie sah keine Knochen, sondern einen Arm, der in einem Jackenärmel steckte, voller Sand und Laub. Die Fingerknochen waren mit Haut überzogen. Zur Sicherheit bewegte sie die Finger vor ihren Augen. Es waren ihre eigenen und sie funktionierten noch.

Endlich kam ihr der Gedanke, sich aufzurichten.

Als sie auf ihren Füßen stand, erinnerte sie sich an ihren Sturz von Rondo. Er war im Wahnsinnstempo über einen steinigen Weg galoppiert.

Was sollte sie jetzt tun? Nach Rondo suchen oder nach den Knochen Ausschau halten? Sicherlich hatte ihr Bewusstsein nur verrückt gespielt. Die Knochen hatte sie sich eingebildet.

Sie klopfte den Sand von ihrer Reithose ab, wollte sich gerade auf die Suche nach ihrem Pferd machen, als sie tatsächlich ein menschliches Skelett vor sich liegen sah. Genau auf diesen Knochen war sie gelandet. Das erkannte sie daran, dass das Skelett auseinandergerissen worden war.

Sie erschrak und war sich nicht sicher, was nun schlimmer war: die Tatsache, auf einen Toten gefallen zu sein oder die Tatsache, dass sie mit ihrer Ungeschicklichkeit wertvolle Spuren verwischt hatte?

Ein Scharren ertönte.

Sie wandte ihren Blick von den Knochen ab und schaute in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Da stand Rondo in der Herbstsonne – sein Fell so golden wie das Laub am Baum direkt neben ihm. Er hatte auf sie gewartet.

Obwohl sie ihm für den Abwurf am liebsten in seinen großen Hintern getreten hätte, freute sie sich doch, dass er an einem sonnigen Plätzchen stand und ihr kauend entgegenschaute. Die Zeit, die Anke bewusstlos war, hatte er sich damit vertrieben, das goldgelbe Laub von den Bäumen zu fressen.

Mit zitternden Händen klopfte Anke ihm den Hals. Rondo schnaubte zufrieden. Geduldig harrte er aus, während Anke sich mit Mühe wieder auf das große Tier setzte. Ihre Beine waren wackelig durch den Sturz. Ihre Courage hatte auch gelitten. Aber sie wusste genau, dass man sich nach einem Abwurf sofort wieder in den Sattel setzen musste, um die Angst zu besiegen. Genau das tat sie jetzt.

Mit jedem Schritt, den sie sich von der Sturzstelle entfernte, wurde der unangenehme Geruch schwächer. Ihr Verstand registrierte, dass sie nicht Verwesung gerochen hatte, sondern die Mülldeponie, die direkt hinter dem Hügel lag.

Kullmann ermittelt in Schriftstellerkreisen

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