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Kapitel 5
ОглавлениеAbwechselnd tauchten vor Ankes Augen Bilder vom Gesicht ihrer Tochter und einem kahlen Schädel auf, dessen untere Kieferpartie fehlte. Die helle, muntere Stimme, die sie hörte, passte ganz und gar nicht zu dem Totenkopf ohne Mund. Aber die Stimme war da. Lange wusste sie nicht, was sie ihr sagen wollte. Bis sie plötzlich die Worte klar und deutlich verstand: »Mama, aufstehen! Ich will reiten. Du hast es mir versprochen.«
Erschrocken richtete sich Anke auf. Traum und Wirklichkeit hatten sich vermischt. Vor ihr stand Lisa mit ihrem hübschen, runden Gesicht und den strahlend blauen Augen, die große Erwartungen ausdrückten.
Als Anke aufstehen wollte, schoss ihr ein stechender Schmerz durch den Kopf. Für einen kurzen Moment sah sie nur Sterne. Erschrocken ließ sie sich ins Kissen sinken. Aber Lisa war fest entschlossen, ihre Mutter an ihr Versprechen zu erinnern. Es blieb Anke keine andere Wahl, sie musste raus aus den Federn.
Der zweite Versuch gelang wesentlich besser. Obwohl der Schmerz wie ein dumpfes Pochen in den Schläfen zurückblieb, gelang es ihr, sich bis ins Badezimmer zu bewegen, wo sie ihrem Kreislauf mit kaltem Wasser auf die Sprünge half. In der Küche suchte sie alles zusammen, was zu einem guten Frühstück gehörte. An diesem Morgen war es Lisa allerdings egal, was auf dem Tisch stand. Ihr ganzes Interesse war, so schnell wie möglich zum Pferd zu kommen.
Anke versorgte sich mit einer großen Portion Kaffee, die ihr dabei half, die Kopfschmerzen zu lindern. Die waren wohl das Resultat ihres Sturzes. Zum Glück war es nichts Schlimmeres, dachte sie bei der Erinnerung an das rasante Tempo, mit dem Rondo über den steinigen Weg galoppiert war.
Nach dem Frühstück gingen sie durch den Hinterausgang über den schmalen Pfad in Kullmanns Garten. Das Ehepaar saß dort auf der Terrasse. Sie frühstückten im Schein der Morgensonne, ein harmonisches Bild. Wie immer stellte Anke fest, welch ein wunderbares Paar die beiden waren. Erst als Anke näher kam, sah sie, dass Norbert Kullmann die Zeitung in der Hand hielt. Sie setzte sich auf den Stuhl neben ihm.
Kullmann las ihr vor:
»Mord in der Biosphäre. Der Plan, den Bliesgau als Biosphärenreservat anzuerkennen, wird auf eine harte Probe gestellt. Wie passt ein Toter in ein umweltfreundliches Konzept? Das Skelett im Koppelwald bei Ormesheim wirft viele Fragen auf. Während die Polizei hinter den menschlichen Überresten einen unaufgeklärten Mordfall vermutet, gehen Archäologen von einem jahrtausendealten Fossil der Keltenzeit aus.«
Kullmann schaute Anke über seine Brillengläser hinweg an, während er sprach: »Die Reporter schreiben hier viel dummes Zeug. Ein Toter, der bis zum Skelett verwest ist, ist schon lange tot. Also fällt der Todeszeitpunkt vermutlich nicht in den Zeitraum, in dem die Biosphäre im Saarland schon in Planung ist. Ich sehe da keine Zusammenhänge.«
»Wie lange plant der Bliesgau schon die Anerkennung als Biosphärenreservat?«
»Ich weiß nur, dass sie sich erst in diesem Sommer aus mehreren Kommunen zusammengeschlossen haben, um einen Zweckverband zu gründen, der die hohen Anforderungen erfüllen soll.«
»Und wie lange liegt der Fall zurück, den du ungeklärt zurückgelassen hast?«, fragte Anke.
»Von wegen ungeklärt zurückgelassen! Der Fall wurde mir entzogen, weil wir ohne Leiche nichts hatten, womit wir arbeiten konnten.«
Anke wartete eine Weile, bis sie ihre Frage wiederholte: »Wie lange liegt der Fall zurück?«
»Fünf Jahre. Und ich kann mich nicht erinnern, dass damals schon die Rede davon war, im Saarland eine Biosphärenregion einzurichten.«
»Wo war ich damals?« Die Frage beschäftigte Anke viel mehr.
Kullmann musste überlegen, bis es ihm einfiel: »Du warst auf der psychologischen Schulung.«
Anke erinnerte sich. Kullmanns letzte Amtshandlung für Anke war, sie auf diese Schulung zu schicken, wofür sie ihm heute noch unausgesprochen dankte. Denn nach seiner Pensionierung hatten sich für Anke sämtliche Möglichkeiten der Weiterbildung erschwert.
»Wir wissen noch gar nicht, ob es ein Fall für unsere Abteilung ist«, lenkte Anke ab. »Warum jetzt schon den Kopf zerbrechen?«
Lisa wurde es zu langweilig. Mit lautem Kreischen ging sie auf ihre Mutter zu. »Ich will reiten!«, stellte sie unmissverständlich klar.
»Wir fahren sofort los«, besänftigte Anke ihre Tochter.
Kullmann erhob sich, was Anke mit einem erstaunten Blick registrierte.
»Martha und ich fahren mit«, erklärte er. »Ich will mir gern die Fundstelle ansehen. In der Zwischenzeit kann Martha bei Lisa bleiben und nach den Pferden sehen.«
»Solange Lisa auf Rondo reitet, bleibe ich aber dabei«, bestimmte Anke.
Kullmann verschwand im Haus. Es dauerte nicht lange, da kehrten er und seine Frau mit wetterfesten Schuhen und Windjacken zurück.
»Wir können.«
»Wir fahren mit meinem Auto«, bestimmte Anke. »Am Stall herrschen Schlamm und Dreck. Mein Subaru Forester ist für unwegsames Gelände bestens geeignet.«
Sie bogen in die Saarbrücker Straße ein, die an der Polizeidienststelle Saarbrücken-Land vorbeiführte, passierten die Halberger Hütte und fuhren unter der Autobahnbrücke durch. Dahinter lagen die Dörfer Fechingen und Eschringen, die sie hinter sich ließen, bis eine Häuseransammlung wie zu einer Zitadelle aufgerichtet vor ihren Augen auftauchte, der Ort Ormesheim.
Kurz davor bogen sie rechts ab. Die Straße war von beiden Seiten mit Feldern und Wiesen gesäumt. Es ging steil bergauf. Oben auf dem Berg boten sich ihren Augen riesige Koppeln voller Pferde. Inmitten der schönen Natur stand ein Reitstall, der aus mehreren Gebäuden in unterschiedlichen Baustilen und einer großen Reithalle bestand. Ein Reitplatz, auf dem sich Reiter mit ihren Pferden abmühten, flankierte die stark befahrene Straße.
Anke bog rechts ab, passierte den großen Platz und rollte langsam auf die Stallgebäude zu. Dicht an die Stallmauer grenzte ein kleiner, viereckiger Sandplatz an. Davor stellte Anke ihren Subaru ab.
Sie steuerten den Stalltrakt an, der sich von den anderen Gebäudeteilen darin unterschied, dass er neu aussah. Durch das offene Tor erblickten sie einen langen, breiten Gang. Alles wirkte wie leer gefegt. Zielstrebig ging Anke auf Rondos Box zu.
Kullmann und Martha erschraken über die Größe des Pferdes. Nur Lisa war begeistert. Ihr Eifer war so groß, dass Anke alle Hände voll damit zu tun hatte, sie von Rondo fernzuhalten, während sie ihn sattelte. Rondo beugte seinen langen Hals hinunter und schaute sich Lisa genauer an. Sein prüfender Blick wirkte dabei so lustig, dass Lisa laut lachte. Anke hielt ihre Tochter an, leise zu sein, aber Lisa war zu aufgeregt, um noch auf die Worte ihrer Mutter zu hören. Rondo schien das muntere Geplapper nicht zu stören. Lisa streichelte ihm über die Nase, er ließ sich das gefallen.
Nach der Reitstunde strich Anke mit dem Striegel über Rondos Beine. Da erst sah sie, dass das linke Vorderbein dick angeschwollen war. Erschrocken hielt sie inne. Das fehlte gerade noch! Nun hatte sie seit wenigen Tagen ein eigenes Pferd, schon war es krank. Sofort rief sie den Tierarzt an. Dieser versprach ihr, gegen Abend zu kommen.