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Teil IV Frühling 2001

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Stockfinstere Nacht. Von Panik erfasst rannte sie um ihr Leben, sah nicht, wo sie hintrat, lief immer nur weiter in der Hoffnung, ihrem Verfolger zu entkommen. Unter ihren Füßen spürte sie, dass der Boden weicher wurde. Sie hatte den Weg verlassen, ohne es zu bemerken. Wieder nahm sie in den Augenwinkeln den Lichtkegel einer Taschenlampe wahr. Er holte sie ein. Plötzlich glaubte sie, jemand riss ihr den Boden unter den Füßen weg. Mit einem heftigen Aufprall landete sie im Sand, der ihr in den Mund drang. Sie wollte schreien, bekam keinen Ton heraus – wollte sich aufrappeln, wurde jedoch von einem schweren Gewicht heruntergedrückt.

»Du entkommst mir nicht«, hörte sie eine bedrohliche Stimme. »Keine Frau entkommt mir. Ich bin euch allen überlegen!«

Während er sprach, gelang es ihr, sich aus seinem Griff zu befreien. Has­tig sprang sie auf und rannte weiter. Aber die Dunkelheit machte es ihr unmöglich auszumachen, wo sie hinlaufen sollte. Da spürte sie wieder das Licht der Taschenlampe. Ohne es zu wollen, zeigte ihr der Verfolger damit den Weg. Sie erkannte die Mauersteine, die die Umrisse der alten römischen Villa aufzeigten, konnte über jeden Vorsprung springen, ohne zu stolpern. Sie gelangte an den überdachten Bau, der die Heizkammern der alten, römischen Fußbodenheizung zeigte. Dort wollte sie sich verstecken, weil das der einzige Ort war, der sich dazu eignete. Sie duckte sich, bevor der Schein der Taschenlampe sie erfasste. Hoffentlich war sie schnell genug!

Die Zuschauer hielten den Atem an.

Ein Besucher spazierte durch den Europäischen Kulturpark in Bliesbrück-Reinheim. Sein Interesse galt ganz besonders der altrömischen Fußbodenheizung, auf die die Archäologen bei ihren Ausgrabungen gestoßen waren.

Zunächst stieß ihn der unangenehme Geruch ab. Er beschloss, ihn zu ignorieren, weil ihn das Heizungssystem aus der Antike faszinierte. Doch der Geruch wurde immer beißender, bis er plötzlich auf eine halb verweste Frauenleiche stieß.

Er traute seinen Augen nicht. Das Summen von Fliegen und die schlängelnden Bewegungen tausender von Maden ließen keinen Zweifel daran: Diese Frau lag nicht seit über tausend Jahren an dieser Stelle, sondern erst seit wenigen Tagen!

*

Ingo Landrys Stimme schallte geisterhaft durch die Nacht. Wind frischte auf, was noch mehr Grauen in die Gemüter der Zuschauer trieb. Er schaute auf, sah nur kreideweiße, angstverzerrte Gesichter. Niemand bemerkte, wie spät es bereits war. Zum Glück hatte das Wetter mitgespielt, worauf man sich im März nicht immer verlassen konnte. Ein Regenschauer während seiner Lesung auf einer Freilichtbühne hätte seine Veranstaltung verdorben.

Den Ort seiner Buchvorstellung verdankte er seinem Freund Matthias Hobelt – dem er so manches verdankte, was die Entstehung dieses Buches betraf. Die Naturbühne in Gräfinthal als Ambiente für seine persönliche Veranstaltung war überwältigend. Die Wirkung seiner Einladung ebenso, denn die Anzahl der Besucher übertraf seine kühnsten Vorstellungen. Es waren so viele, dass er sie nicht mehr zählen konnte.

Die Stille, die abrupt nach seinem gruseligen Vortrag herrschte, unterstrich den Schauder noch. Die Menschen machten auf ihn den Eindruck, als wollten sie den Augenblick auskosten.

Kaum war der Zauber vorbei, da eroberte eine große, schlanke Frau die Bühne, übernahm das Mikrofon und begann zu sprechen: »Ich bin die Literaturagentin unseres Krimiautors Ingo Landry. Mein Name ist Sonja Fries. Wie ich sehe, hat Ingo Landrys Vortrag Sie gefesselt. Ihr Interesse ist geweckt. Sie können gerne Fragen an den Autor richten. Und wenn Sie erfahren wollen, wie diese spannende Geschichte weitergeht, können Sie das Buch »Emanzipation des Mannes« kaufen. Da steht alles drin.«

*

Damit brachte sie die Zuschauer zum Rasen. Sie stürmten zum Autor auf die Bühne, bombardierten ihn mit Fragen und kauften sein Buch mit großer Begeisterung alle wollten wissen, wie es in seinem Krimi Emanzipation des Mannes weiterging.

»Haben Sie schon ein neues Buch in Planung?«, fragte ein Besucher.

»Nein«, antwortete Ingo, wobei ihn die Sorge beschäftigte, dass er keine Idee für ein weiteres Buch hatte. Er musste alles auf diese eine Karte setzen.

»Wie sind Sie auf so eine spannende Idee gekommen?«, fragte ein anderer.

Nun musste Ingo sich bemühen, einen Schweißausbruch zu unterdrücken. Betont lässig antwortete er: »Bei einem Besuch des Europaparks in Bliesbrück-Reinheim kam mir die Idee.«

»Mussten Sie viel recherchieren, um dieses Buch zu schreiben?«

»Ein wenig.« Ingo grinste dämlich, weil er im Grunde genommen überhaupt nicht nachgeforscht hatte.

»Glauben Sie, dass Sie auf die Bestsellerliste kommen?«

»Ich hoffe es«, antwortete Ingo im Brustton der Überzeugung.

»Haben Sie eine Idee, wie Sie das Ziel erreichen könnten?«, fragte der Besucher weiter.

»Ich weiß genau, was ich dafür tun muss.«

Damit war die Veranstaltung beendet, alle Bücher verkauft.

Nachdem der Besucherstrom abgerissen und Stille auf der großen Bühne eingekehrt war, blieb Ingo Landry noch eine Weile ganz allein dort sitzen und ließ die schönen Erinnerungen an sich vorüberziehen. Es war ein Gefühl der Bewunderung, das er gerade erlebt hatte – ein Gefühl, das süchtig machen konnte. Ein Bick auf seine Literaturagentin Sonja Fries gab ihm die Gewissheit, dass ihm mit dieser Frau noch viel mehr gelingen konnte. Sie war eine aufregende Erscheinung, die ihn an alle Sünden erinnerte, die er noch nicht begangen hatte. Ein Lächeln zog sich über sein Gesicht.

Doch es sah gerade nicht so aus, als hätte er heute eine Chance bei ihr. Mit einem lasziven Kussmund verabschiedete sie sich und fort war sie. Ingo verzog sein Gesicht grimmig. Diese Frau wusste genau, wie sie ihn auf Hochtouren brachte. Sie ließ ihn zappeln. Und zwar aus purer Berechnung, damit er bei ihrem nächsten Stelldichein umso leidenschaftlicher war.

Er schnaufte – bemühte sich, an etwas anderes zu denken. Sein Blick fiel auf Matthias Hobelt, der geduldig auf ihn wartete. Zusammen machten sie sich auf den Weg zum Parkplatz. Erst jetzt bemerkte er den Temperatursturz. Während er vorgelesen hatte, war er so ins Schwitzen geraten, dass ihm das nicht aufgefallen war. Den Zuschauern wohl auch nicht, denn niemand von ihnen hatte es eilig gehabt, niemand wollte vorzeitig die Veranstaltung verlassen.

Am Auto angekommen schauten sich die beiden Männer an und lachten. Matthias Hobelt legte den Arm um seinen Freund, den Krimiautor: »Habe ich dir nicht gesagt, dass mit deiner Schreibkunst Geld zu verdienen ist?«

»Doch!«

»Es war geschickt, meine Beziehungen spielen zu lassen, damit du hier lesen kannst«, sprach Matthias weiter. »Es ist immer gut, wenn man Freunde hat. Seit ich hier ehrenamtlich arbeite, habe ich diesen Traum gehegt – nun ist er wahr geworden.«

»Ich bin froh, einen Freund wie dich zu haben«, gestand Ingo, wobei er sich bemühte, sehr überzeugend zu klingen.

»Ich hoffe, dir ist klar, dass wir den Gewinn teilen«, fügte Matthias an. »Ich kann den Zaster nämlich gut gebrauchen.«

»Klar, Junge! Habe ich dich jemals betrogen?«

»Nein! Ich rate dir auch, es niemals zu tun«, gab Matthias unmissverständlich zu verstehen.

»Du benimmst dich schon wie die Bösewichte in meinem Krimi.« Ingo fühlte sich aus seiner Schwärmerei gerissen.

»Das fällt mir leicht, wie du dir wohl denken kannst. Schließlich habe ich die kriminellen Charaktere entworfen.«

»Hast du sie wirklich nur entworfen?«, fragte Ingo, schlagartig ernüchtert.

Sibylle Kriebig und ihre Freundin Antonia Welsch saßen unter den Zuschauern. Während die Menschenmassen sich in den Bann der Erzählungen ziehen ließen, spürte Sibylle mit jedem vorgelesenen Wort größere Unbehaglichkeit. Es dauerte eine Weile, bis Antonia Sibylles Erregung registrierte. Sie fragte im Flüsterton: »Was ist los mit dir?«

Sibylle murrte: »Das ist ein Plagiat!«

»Pst! Nicht so vorschnell mit deinen Behauptungen«, bremste Antonia Sibylles Erregung.

»Wenn ich es dir sage«, beharrte Sibylle, doch Antonia ließ sie nicht weiter sprechen.

*

Geduldig lauschten sie dem Rest der Lesung. Als die Literaturagentin Sonja Fries die Bühne betrat, flüsterte Antonia ganz aufgeregt: »Die kenne ich.«

»Woher?«

»Sonja hatte großes Interesse daran, dein Buch zu vermarkten«, antwortete Antonia. »Aber du hast ja mich.«

»Davon weiß ich ja gar nichts.«

»Ich habe meinen Job verteidigt«, fügte Antonia grinsend an.

Als die Zuschauer auf die Bühne zusteuerten, um den Buchautor zu feiern, wurde es Sibylle zu bunt. Sie steuerte die entgegengesetzte Richtung an. Im Eilschritt verließ sie die große Tribüne der Freilichtbühne.

»Kannst du dich noch an die beiden Männer erinnern, die ganz zum Abschluss meiner Lesung in Saarlouis mein Buch gekauft hatten?«, fragte Sibylle, während sie ihr Auto in der Dunkelheit auf dem Schotterparkplatz suchte.

Antonia überlegte eine Weile, konnte aber nur den Kopf schütteln.

»Einer von beiden hieß Ingo Landry.«

»Warum ärgert dich das? Du willst doch, dass die Leute deine Veranstaltung besuchen und dein Buch kaufen.«

»Bist du so begriffsstutzig oder tust du nur so?« Sibylle wurde ungehalten. »Sein Kumpel hat mich ausgefragt, wie ich auf die Idee gekommen bin und solche Sachen. Der kleine Zwerg, der mir damals schon unheimlich vorkam, war heute auch dabei. Also hatten sich die beiden schon damals den Plan zurechtgelegt. Sie haben mein Buch gelesen und siehe da, schon war alles da: Ingo Landry brauchte nur meine Idee zu übernehmen, einige Namen zu ändern und das Ganze als Produkt seiner Fantasie zu verkaufen.«

Antonia wehrte ab: »Was ich hier gehört habe, ist für mich nur der Beweis dafür, dass er einen Krimi schreibt, in dem ein Mord vorkommt und Spannung und so. Alles andere spinnst du dir zusammen.«

Wütend entgegnete Sibylle: »Vielleicht wollte auch Sonja Fries die Idee klauen. Und du willst deiner Kollegin nicht in den Rücken fallen.«

»Ich glaube, jetzt gehst du zu weit.«

Sibylle stieg in ihren Wagen und bemerkte: »Stimmt! Entschuldige bitte! Zuerst werde ich das Buch wohl oder übel lesen müssen, bevor ich Anschuldigungen erhebe.«

»Willst du dir das wirklich antun?«

»Ja!«

»Du ärgerst dich jetzt schon. Also wird es eine Zerreißprobe für deine Nerven werden, dieses Buch zu lesen.«

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