Читать книгу Kullmann ermittelt in Schriftstellerkreisen - Elke Schwab - Страница 14
Kapitel 10
ОглавлениеErik hörte, dass sich der Arbeitstag seinem Ende näherte. Nach und nach verstummten die Telefone und das leise Klappern der PC-Tastaturen. Dann erstarben die Stimmen der Kollegen, die sich immer etwas zu erzählen hatten, bis die letzten Schritte auf dem Korridor verhallten. Wie so oft blieb er allein in den Räumlichkeiten zurück. Private Termine, die keinen Aufschub duldeten, hatte er nicht. Auch keine Familie, die auf ihn wartete. Sein Freundeskreis hielt sich in Grenzen. Lag das an seinen Arbeitszeiten? Oder schob er unbewusst die Arbeit vor, um sich nicht auf neue Freunde konzentrieren zu müssen? Er wusste es nicht. Gern übernahm er Dienste für Anke. Sie hatte eine kleine Familie, Menschen, die auf sie warteten. Und ein Pferd. Er gönnte ihr das Glück von ganzem Herzen, wollte seinen bescheidenen Beitrag dazu leisten und ihr einige Arbeitsstunden abnehmen. Leider fühlte er sich dabei nicht wie der fürsorgliche Freund, der er gerne wäre, sondern einsam. Die Stunden im Büro konnte er schon nicht mehr zählen.
Das Läuten des Telefons lenkte ihn endlich von seinen tristen Gedanken ab. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Dr. Kehl. Der Tonfall seiner Stimme verriet, wie enttäuscht er darüber war, nicht Anke persönlich zu hören.
»Wir haben das Ergebnis der DNA-Untersuchung. Es handelt sich zweifelsfrei um ein männliches Opfer.«
»Und?«
»Ich brauche nur noch eine Gegenprobe zum Vergleich. Ich habe mir das Material genau angeschaut. Das Untersuchungsverfahren der Polymerase-Kettenreaktion hat zu einem ausführlichen Ergebnis geführt, sodass Zweifel ausgeschlossen werden können.«
Erik atmete tief durch. Nun mussten sie also die Vermisstendateien nur noch nach Männern absuchen. Das reduzierte ihre Arbeit wesentlich.
Nach Hause fahren wollte er nicht. Dort würde sich seine Einsamkeit nur fortsetzen. Also beschloss er, Anke im Reitstall aufzusuchen.
Zügig fuhr er in Richtung Mandelbachtal. Kaum hatte er den lang gezogenen Anstieg bei Ormesheim hinter sich gelassen, fühlte er sich überwältigt von dem Anblick, der sich ihm bot. Sein Kopf war bis zu diesem Zeitpunkt voll mit Überlegungen über seine Arbeit. Doch mit einem Mal waren alle Gedanken wie weggewischt. Seine Augen erfassten Wiesen, Felder und Wälder, lebhafte Pferde, die über Koppeln galoppierten und Reiter, die auf einem großen Platz direkt an der Straße über bunte Hindernisse sprangen. Eine Schar von Gänsen watschelte majestätisch mit hoch erhobenen Köpfen über den schmalen Zufahrtsweg, womit sie die Autofahrer zum langsamen Fahren anhielten. Anke ging neben ihrem Pferd Rondo auf einem kleinen Sandplatz her. Lisa saß stolz im Sattel.
Was für ein Anblick! Erik schmunzelte.
Er stellte seinen Wagen ans Ende der langen Reihe von parkenden Autos und steuerte auf den kleinen Reitplatz zu. Die späte Sonne verströmte rotes Licht, von Wärme war nichts zu spüren. Lisa trug einen blauen Anorak und einen Reiterhelm. Ihr Gesicht strahlte vor Glück.
»Hallo Erik«, rief Anke überrascht. »Du hier?«
»Ja! Ich wollte unseren Reiternachwuchs bestaunen.«
Die Kleine fühlte sich mächtig stolz. Demonstrativ hob sie beide Arme hoch, um Erik zu zeigen, wie gut sie das Reiten schon beherrschte. Anke fasste schnell die Zügel ihres Pferdes nach, damit es nicht auf die Idee kam, gerade jetzt loszulaufen.
»Sein Bein ist wirklich dick«, stellte Erik mit Kennermiene fest. »Hoffentlich dauert es nicht allzu lange, bis er wieder gesund ist.«
»Na ja! In der Zeit kann Lisa auf ihm reiten. Ihr Gewicht wird seinem Bein nicht schaden.«
Erik übernahm die Aufgabe, das Pferd zu führen.
Mit Rondo in ihrer Mitte drehten sie ihre Runden, während sie das Treiben um sich herum beobachteten. Vom großen Reitplatz hörten sie die laute Stimme des Reitlehrers. Dazwischen ertönte immer wieder das zornige Schnattern der Gänse. Vom Stall erklang in immer kürzer werdenden Abständen das klägliche Wiehern eines Pferdes. Einige Männer versammelten sich vor der Reithalle und lachten. Hunde bellten, Kinderstimmen schallten heiter.
Plötzlich donnerten Hufe so laut, dass Rondo erschrak. Ruckartig blieb er stehen, hob den Kopf und schaute in die Richtung, aus der der Lärm kam.
Im gleichen Augenblick galoppierte ein schwarzes Pferd mit Sattel und Trense – allerdings ohne Reiter – vom großen Reitplatz in einem Wahnsinnstempo den schmalen, asphaltierten Weg hinunter in Richtung Stall. Ein Mutiger versuchte sich dem Pferd in den Weg zu stellen, um es zum Halten zu zwingen. Aber in letzter Sekunde überlegte er es sich anders. Das Pferd wollte sich nicht aufhalten lassen. Hufgetrappel polterte durch die lange Stallgasse. Laute Schreie begleiteten das Donnern der Hufe auf dem Betonboden.
Hinter der langen Stallgasse tauchte der Rappe wieder auf und lief an den Koppeln entlang in Richtung Wald. Reiter kamen ihm im Schritt entgegen.
Mit angehaltenem Atem beobachteten Anke und Erik, was nun geschah. Erstaunlicherweise bremste das wild gewordene Pferd ab, ließ sich von einem der Reiter am Zügel fassen und zurück zum Stall führen.
»Was war das?«, fragte Erik.
»Keine Ahnung!« Anke atmete erschrocken aus. »Für heute reicht es mir. Lisas Reitstunde ist hiermit beendet.«
Trotz Lisas Protest führte Erik das Pferd in den Stall.
»Dr. Kehl hat das Ergebnis der DNA-Untersuchung«, berichtete er, während Anke und Lisa das Pferd versorgten.
Neugierig horchte Anke auf.
»Das Opfer ist männlich. Er braucht jetzt eine Gegenprobe zum Vergleich.«
»Konnte er den Eintritt des Todes inzwischen genauer bestimmen?«
»Er bleibt bei seiner anfänglichen Feststellung, dass der Tote dort fünf bis zehn Jahre gelegen hat.«
»Kullmann hat eine Theorie, wen wir dort gefunden haben könnten. Ob er sich darüber freuen wird, dass aus seinem Mord ohne Leiche ein ungelöster Mordfall aus seiner Dienstzeit geworden ist, werden wir noch sehen.«
Erik spottete: »Solltest du wieder ausreiten, binde dich gut am Sattel fest. Nicht dass du mit deiner Nase auf den nächsten ungelösten Fall stößt.«
Ärgerlich warf Anke ihm einen Striegel an den Kopf. Sie verließen den Stall. Inzwischen war es stockdunkel. Die Mondsichel leuchtete, Sterne funkelten im schwarzen Abendhimmel.
»Wer zuletzt bei dir zuhause ankommt, bezahlt die Pizza!«, feixte Erik.
»Das ist unfair und das weißt du. Mit Lisa im Auto werde ich mich hüten, ein Wettrennen zu starten.«
»Also bezahlst du die Pizza!«, schlussfolgerte Erik.
Hintereinander verließen sie den Parkplatz.
Lisa plapperte vom Fonds des Wagens aus unentwegt über ihre Reiterlebnisse auf Rondo. Die Freude war ihr ins Gesicht geschrieben. Ihre blauen Augen leuchteten, ihre Wangen waren gerötet, ihre blonden Haare standen zottelig vom Kopf ab. Lisa war glücklich. Der Anblick wirkte wohltuend auf Anke.
Die Straße den Hügel hinunter gab einen ungestörten Blick über die hell erleuchtete Start – und Landebahn des Saarbrücker Flughafens frei. Ein Flugzeug startete. Ein anderes landete. Reger Betrieb herrschte. Sehnsüchtig schaute Anke dem Flieger nach, der in Richtung Süden davonflog. Jetzt ein paar Wochen am Strand, zusammen mit ihrer lebhaften Tochter – ach, wäre das schön! Doch leider war ein Urlaub nicht drin. Das Pferd hatte ihre Ersparnisse gekostet – Rondo würde ab sofort ihr Urlaub sein, ihr Freizeitausgleich, ihr Hobby und alles in einem.
Vor ihrer Wohnung wartete Erik auf sie. Mit der Lichthupe blinkend hatte er sie auf der Autobahn überholt. Sie betraten das Appartementhaus und steuerten ihre Wohnung im dritten Stock an.
Dort kam es wie erwartet. Lisa wollte nicht schlafen. Es dauerte lange, bis es Anke endlich gelang, sie davon zu überzeugen. Anschließend ließen sie sich erschöpft auf der Couch nieder und bestellten Pizza.
»Du bist mir eine große Hilfe«, murrte Anke.
»Was habe ich falsch gemacht?«
»Anstatt Lisa konsequent ins Bett zu stecken, hast du dich von der Kleinen einwickeln lassen.«
Erik schaute Anke eine Weile an, bis er reagierte: »Sie hat es gut drauf, mich um den kleinen Finger zu wickeln.«
Spürte Anke in Eriks Worten eine Sehnsucht? Sah er sein eigenes Kind in Lisa? Eriks Augen sprachen Bände, wenn er Lisa ansah. Hoffentlich war das nicht Eriks wirklicher Grund, sich so liebevoll um Lisa zu kümmern. Seit Anke wusste, dass er durch einen Autounfall Frau und Kind verloren hatte, sah sie ihren Arbeitskollegen anders. Sie bewunderte ihn dafür, wie gut es ihm gelang, mit seinem harten Schicksal zurechtzukommen.
Der Pizzabote klingelte. Eine bessere Ablenkung von schwermütigen Gedanken konnte es nicht geben. Während sie ihre Pizza aßen, überlegten sie, was sie in dem Zeitraum gemacht hatten, in dem das Opfer im Koppelwald zu Tode gekommen war.
»Ich habe erst im Jahr 1996 meine Laufbahn als Kriminalkommissarin in Kullmanns Abteilung begonnen«, sagte Anke.
»2002 warst du im Mutterschutz«, erinnerte sich Erik. »Zum Jahresende hatten wir den Stalking-Fall.«
»Stimmt! Im gleichen Jahr ist Kullmann in Pension gegangen – ich glaube, es war kurz vor Sommeranfang. Also müsste der Tote schon im Frühjahr dort abgelegt worden sein, während wir mit dem Polizistenmörder beschäftigt waren.«
»Dann wüssten wir beide davon.«
»Ich lag kurze Zeit im Krankenhaus«, gab Anke zu bedenken.
»In der Zeit ist nichts passiert.«
Schweigend aßen sie den Rest der großen Pizza auf, schoben die Verpackung beiseite und lehnten sich auf dem Sofa zurück.
»Wir sollten morgen mit Theo Barthels über die Gürtelschnalle sprechen«, unterbrach Erik die Stille.
»Glaubst du, er kann heute noch feststellen, wem sie gehört hat?«
»Ich hoffe es. Was mich stutzig macht, ist die Vermutung von Dr. Kehl, dass das Opfer keine Kleider mehr trug.«
»Das ist schrecklich.« Anke nickte. »Aber warum macht dich das stutzig?«
»Wenn er keine Kleider mehr trug, dann bestimmt auch keinen Gürtel mit Schnalle.«
Anke verzog ihr Gesicht zu einer ironischen Grimasse: »Du hast mich auf des Rätsels Lösung gebracht.«
Erik schaute Anke erwartungsvoll an.
»Es ist der Mann, der nichts anhat als den Gurt auf dem Schild an der Straße von zu Hause in die Stadt, wo ich so oft lang fahr.«
Erik ergriff ein Kissen und warf es mit Schwung in Ankes Richtung.
»Und ich dachte, es käme ein geistreicher Beitrag von dir.«
»Deine Beiträge sind auch nicht besser«, hielt Anke dagegen.
»Das Lied handelt übrigens von einer Frau – nicht von einem Mann.«
»Dann passt es aber nicht auf unseren Toten. Der ist nämlich eindeutig ein Mann.«
»Jetzt sind wir so weit, wie wir waren: Wir können nur hoffen, dass Theo Barthels diese Gürtelschnalle jemandem zuordnen kann.« »Vielleicht hat der Mörder sie getragen. Er wird nicht ebenfalls nackt im Wald herumgelaufen sein«, sinnierte Anke.
»Stimmt! Es könnte ein Kampf zwischen Täter und Opfer stattgefunden haben. Dabei hat der Täter die Gürtelschnalle verloren, ohne es zu merken.«
Anke hatte sich das Kissen geschnappt und versuchte jetzt, Eriks Kopf zu treffen. »Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Dass Mörder ihre Visitenkarte am Tatort zurücklassen, kommt nämlich äußerst selten vor.«
Erik fing das Kissen und schleuderte es zurück.
»Außerdem gab es noch einen Schlüssel am Fundort. Vielleicht sollte das eine Einladung des Täters sein, ihn zu verhaften«, trieb er den Spott weiter.
»Stimmt! Jetzt ziehen wir von Haus zu Haus und probieren den Schlüssel aus.«
»Goethe war gut!«, feixte Erik.
»Jetzt fällt mir wieder ein, dass im Jahr 2002 ein großes Unheil aus Köln zu uns gekommen ist«, neckte Anke ihren Kollegen und warf ihm das Kissen zurück. Diesmal traf sie.
Erik nahm es aus seinem Gesicht und legte es hinter seinen Kopf.
»Ich weiß nicht, wovon du redest«, murmelte er, wobei er sein Grinsen unterdrückte.