Читать книгу Das nächste Opfer: Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 11

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Es war wie ein Siegel, das aufgebrochen worden war. Als platzte all das, wovor man lieber die Augen verschloss, plötzlich heraus.

Das waren Dictes Gedanken, als sie im Moor die Autos mit Blaulicht sah und die Männer, die mit lauten Stimmen wie die Fliegen um ein totes Tier schwirrten. Es war inzwischen dunkel, und starke Scheinwerfer beleuchteten das Gebiet, das mit Flatterband abgesperrt war. Nackte Bäume standen im Eis, und das mannshohe Gras des Moores ragte wie umgedrehte Eiszapfen empor. Hier und da lag ein umgekippter Baum im Weg, die Äste im gefrorenen Schlamm, und von irgendwo in den Baumspitzen hörte man das hohle Heulen der Eule.

Sie verkroch sich in ihren Mantel und zog die Kapuze über den Kopf, weil von den das Moor umgebenden Feldern ein eisiger Wind wehte.

»Was für ein einladender Ort.«

Wagner stand neben ihr. Mit leicht hängenden Schultern. In dem Licht der Scheinwerfer sah er plötzlich zehn Jahre älter aus.

»Ein romantisches Abendessen zu zweit wäre vorzuziehen«, sagte sie. »Mit Kerzen auf dem Tisch und so.«

Sie wusste, dass sie mit ihrem Anruf bestimmt in seinen Freitagabend mit Ida Marie geplatzt war.

Wagner zuckte mit den Schultern.

»Die Arbeit geht vor. Und du hattest Recht.«

Er sagte es ein wenig resigniert. Als bedeutete es einen Sieg für sie und somit eine Niederlage für ihn. Aber das hatte nichts mit Kleinlichkeit zu tun, dachte sie. Eher mit Frust. Das wusste sie, weil sie selbst so empfand.

»Solltest du nicht zu Hause sein und deine Tochter trösten?«

Jetzt war es an ihr, mit den Schultern zu zucken.

»Rose geht es gut. Ihr Freund ist bei ihr.«

»Gut, wirklich? Braucht man heutzutage keine Krisenhilfe?«

Sie sah ihn von der Seite an, unter der Kapuze hervor.

»Dann nenn es okay. Sie ist okay. Sie will keinen Psychologen.«

Als er nichts sagte, fügte sie hinzu: »Sie ist doch kein kleines Kind mehr, verdammt.«

Wagner brummte irgendetwas. Ein weiteres Auto kam, wahrscheinlich der Gerichtsmediziner. Wagner ging zu ihm hinüber. Sie dachte, dass es jetzt an der Zeit wäre, sich eine Zigarette anzuzünden. Jetzt sollte das Ende einer Zigarette im Dunkeln glühen. Sie griff in die Tasche und zog ein Päckchen Kaugummi heraus. Zuckerfrei. Rose hätte sie gelobt.

Rose.

Wie viele Male hatte sie vor der Wahl zwischen ihr und ihrem Job gestanden? Wie viele Male hatte sie sie im Stich gelassen? Sie konnte sie nicht einmal zählen.

Sie hatte die Worte ihrer Tochter noch im Ohr: »Geh ruhig. Das ist schon okay, Mama. Ich habe Jan angerufen.« Aber das Gesicht hatte nichts Erwachsenes mehr gehabt. Es war das Gesicht eines Kindes, das sie jetzt vor sich sah, wie sie auf dem gefrorenen Boden im Dunkeln stand. Die weit aufgerissenen Augen, die den direkten Blick in die Seele freigaben, als Rose in eine Decke gehüllt auf dem Sofa gesessen und eine Schale mit warmer Suppe in den Händen gehalten hatte; aus einem Würfel Knorr Bouillon, von der fürsorglichen Mutter aus der untersten Küchenschublade hervorgezaubert. Das Einzige, das ihr eingefallen war. Abgesehen davon natürlich, das Mädchen in die Arme zu nehmen und festzuhalten, bis das Weinen verstummt war. Aber sie hatte ihre Mutterpflicht schnell erfüllt. Rose hatte sich sanft frei gemacht, als müsse sie, Dicte, getröstet und umsorgt werden.

»Das ist dein Job. Los, ab mit dir. Die Polizei ist doch schon da«, beharrte das Kind mit klappernden Zähnen.

Jan kam, und sie war überflüssig in ihrem eigenen Haus. Der Gerichtsvollzieher, wie Bo ihn konsequent nannte, wenn sie außer Hörweite waren und manchmal auch dann, wenn sie es nicht waren. Rose beruhigte sich in seiner Gegenwart, wenn auch die kleine, sorgenvolle Falte, die sich tiefer in ihre Stirn gegraben hatte, nicht verschwand.

»Es war so merkwürdig«, hörte sie sie auf dem Weg aus der Tür sagen. »So still.«

Jan murmelte irgendetwas Verständnisvolles.

»Der Tod«, fuhr Rose fort. »So lautlos. Das Geräusch des Nichts. Und das nach all dem anderen.«

Sie starrte in die Luft. Selbst von weitem konnte Dicte sehen, dass die Pupillen unnatürlich groß waren.

»Nach all dem Hass.«

Hass, dachte Dicte und sah zu der Absperrung hinüber. Es war ihr gelungen, den Tatort in Augenschein zu nehmen. Bevor das Bereitschaftsteam der Polizei eingetroffen und das Flatterband angebracht worden war, um Spuren zu sichern, hatte sie wie ein Voyeur dagestanden und das dünne Kleid betrachtet, das so eng anlag, dass sich die Konturen des Körpers deutlich abzeichneten. Die Füße. Das Haar, steif von Blut und Frost. Bevor es ganz dunkel geworden war, hatte sie gesehen, was sie sehen musste. Die Axt. Den zu einem Henkersknoten gebundenen Strick. Die Wut.

Aber woher die Wut kam, war eine andere Frage. Vielleicht aus einem abgrundtiefen Hass. Aber vielleicht, dachte sie, auch aus dem Gegenteil.

»Habt ihr Reifenspuren gefunden?«

Sie fragte Wagner, der wieder ein wenig abseits stand und gedankenvoll zum Tatort hinübersah, während der Gerichtsmediziner und die Techniker ihrer Arbeit nachgingen.

Er nickte.

»Sie haben einen Gipsabdruck genommen.«

»Demnach ist ein Auto hier gewesen. Vor kurzem?«

Er zuckte mit den Schultern.

»Es kann eins vom Wasserwerk gewesen sein«, sagte sie. »Du weißt doch, dass hier sonst keine Autos fahren dürfen, nicht? Das ist ein beruhigtes Gebiet. Ein Naturreservat.«

»Wir sehen uns das an«, sagte er kurz angebunden.

Eine Weile standen sie linkisch schweigend da. Polizei und Presse waren wie eine unheilige Allianz, ließen einen an Sünde und Untreue denken, dachte sie. Man musste aufpassen, weil die Grenze zwischen ausnützen und sich ausnützen lassen haarfein war. Sie spürte immer wieder die fundamentale Nervosität der Polizei, sich eine Blöße zu geben, Informationen preiszugeben, die hätten von Nutzen sein können, wären sie unerwähnt geblieben. Mit dem Vertrauensbruch blutrünstiger Journalisten konfrontiert zu werden, deren Augen nur auf die Titelgeschichte für den nächsten Tag fixiert waren. Und sie ärgerte sich, weil sie wusste, dass das Misstrauen nicht ganz unberechtigt war. Und weil sie jetzt noch einmal von vorne anfangen musste. Nach all dem, was über die Polizei geschrieben worden war, musste sie erneut sorgsam Vertrauen aufbauen.

Wagner wäre es natürlich am liebsten, wenn sie nicht hier wäre. Bis jetzt waren noch keine anderen Journalisten aufgetaucht, obwohl sie den Polizeifunk abhörten. Aber sie waren ja auch weit draußen auf dem Land, dachte sie. Draußen im Moor, wohin die Presse normalerweise nicht kam. Hierher kamen nur Hundebesitzer und Ornithologen und Männer mit Stricken und Äxten.

»Sollen wir uns jetzt auch noch für ein Gruppenbild aufstellen?«, fragte Wagner.

Er nickte zu der Gestalt hinüber, die aus dem Dunkel in das Licht der Scheinwerfer trat. Bo hatte wie immer zwei Kameras über der Schulter und trug irgendeine Militärjacke, die einen an pfeifende Kugeln und Bürgerkrieg denken ließ. Sein Atem stand wie eine Wolke in der Luft.

»Du brauchst nicht zu lächeln«, versprach Dicte und beobachtete Bo, der sich mit langen Cowboyschritten näherte. Wo war er den ganzen Tag gewesen? Sie wusste nicht, wie sie ihn danach fragen sollte, denn genau genommen gehörte er ihr nicht und würde es sicher auch nie tun. Ein freier Vogel, um gar nicht erst von den acht Jahren zu sprechen, die er jünger war als sie.

Sie dachte das, während er auf sie zukam und sie seine Wachsamkeit spürte; den Blick, der zwischen den Bäumen auf Entdeckungsreise ging und den Tatort genau in Augenschein nahm, die rastlose Energie. Bo konnte man nicht einfach Rede und Antwort stehen lassen, aber Arbeit war Arbeit, und sie hatte ihn angerufen und unter seiner Handynummer erreicht.

»Guten Abend im Wald.«

Wagner nickte kühl.

»Was für ein Aufgebot«, fuhr Bo unangefochten fort. Er streifte Dictes Wange mit einem Kuss, und sie roch Bier, gemischt mit dem Rauch des morgendlichen Brandes. Ihr wurde klar, dass sie auch nach Rauch riechen musste. Dass sie sicher – genau wie Bo und Wagner – total geschlaucht aussah.

»Sie liegt da drinnen.«

Sie nickte in Richtung des Bachs, wo Techniker sich in ihren weißen Overalls und mit den Latexhandschuhen wie Gespenster bewegten. In dem Moment traf der Leichenwagen der Feuerwehr ein, ein ausgedienter Krankenwagen ohne Blaulicht und Sirene. Hier gab es kein Leben zu retten. Zwei Männer stiegen mit einer Trage aus, und Bo entfernte sich von ihr und begann ganz automatisch zu fotografieren, sodass der Blitz im Dunkeln leuchtete.

»Kannst du etwas über die Todesursache sagen?«, fragte sie Wagner.

Er schüttelte den Kopf.

»Hin und wieder habe ich das Gefühl, dass die Gerichtsmediziner überflüssig sind.«

Sie wusste genau, was er meinte. Oberflächlich betrachtet, stand die Todesursache fest. Der Strick oder die Axt. Aber warum war sie zweimal ermordet worden? Was hatte er zuerst benutzt und wann war der Tod eingetreten? Nur die Gerichtsmediziner konnten diese Fragen beantworten.

»Hier zitierst du mich hoffentlich nicht«, fügte er hinzu.

Sie drehte sich zu ihm um.

»Glaubst du an eine Verbindung?«

»Zwischen was?«

»Zwischen den beiden Bränden und dem Mord.«

»Auf jeden Fall zwischen den Bränden. Und das ist sogar offiziell, das kannst du schreiben.«

Ihre Gedanken überschlugen sich. Wie weit war es von Brandstiftung und Vandalismus zu Mord? Wie maß man den Abstand und wer war imstande, ihn in einer einzigen Nacht zu überschreiten?

»Ihr habt also etwas gefunden?«

Sie hörte die Gereiztheit in seinem Seufzer. Natürlich, dachte sie. Sie hatten nichts anderes, als dass Graugaards Wohnhaus ein potenzieller Tatort für einen Mord war. Die Polizei hatte das Haus zwar auf Fingerabdrücke und offensichtliche Spuren untersucht, aber durchkämmt hatten sie es nicht, das wusste sie genau. Und inzwischen hatte Karen Graugaard gestaubsaugt und geputzt.

»Wir haben in der Schule ein paar Fußabdrücke gefunden«, sagte Wagner. »Ein Feuerlöscher ist zertrümmert worden, und irgendjemand hat in dem Schaum herumgetrampelt.«

»Sehr professionell.«

Er nickte.

»Ich glaube, das ist nicht gerade ein Einstein, mit dem wir es hier zu tun haben.«

»Und im Wohnhaus? Das Gleiche?«

Wieder nickte er, und sie freute sich für ihn. Sie fühlte sich plötzlich schuldig, den Mord beinahe vorausgesagt zu haben.

»Das Gleiche. Im Rotwein von einer zerbrochenen Flasche.«

Die Sanitäter trugen die Trage mit Inger Graugaards zugedeckter Leiche über den Bach. Sie gaben sich alle Mühe, dass nichts schief lief. Bos Fotografieren klang wie ein Maschinengewehr mit Schalldämpfer, während er auf der Jagd nach dem besten Winkel zwischen den Bäumen herumsprang.

»Idiot«, murmelte Dicte.

»Jeder nach seinem Geschmack«, sagte Wagner freundlich.

Sie drehte sich ganz herum, um ihm in die Augen sehen zu können.

»Den mit den Schuhen meine ich.«

Wagner nickte ernst, aber zum ersten Mal sah sie den Ansatz eines Lächelns und war sonderbarerweise dankbar.

»Natürlich«, sagte er und stiefelte zu den anderen hinüber.

Das nächste Opfer: Skandinavien-Krimi

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