Читать книгу Das nächste Opfer: Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 5

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Die Redaktion in der Frederiksgade sah ganz wie immer aus. Die vollen Alu-Aschenbecher standen strategisch platziert auf dem Sofatisch; eine Tüte mit Brötchen war aufgerissen wie nach einem unblutigen Kaiserschnitt, und die Thermoskanne zischte, weil irgendjemand sie nicht richtig zugemacht hatte. Mäntel und Jacken lagen überall, nur nicht über dem stummen Diener in der Ecke, und Zeitungen bedeckten wie aus großer Höhe abgeworfene Flugblätter Tische und Boden.

Vier Leute waren anwesend. Ein als freier Mitarbeiter arbeitender Fotograf rumorte in der Dunkelkammer, und drei Journalisten richteten die Augen auf sie, als sie Viertel nach zehn mitten in eine Redaktionsbesprechung platzte.

»Hast du schon davon gehört?«

Cecilie, die Sportjournalistin, warf die Frage wie einen Tennisball quer durch den Raum, noch bevor Dicte den Mantel ausgezogen hatte.

»Wovon?«

Von dem Brand? Wussten sie es schon? Es waren kaum sechs Stunden vergangen, und sie spürte den mangelnden Schlaf und ihre kenternde Liebe wie einen Druck im ganzen Kopf. Bo war direkt zu seiner Exfrau gefahren, um Probleme zu lösen. Er hatte wie das reinste Lagerfeuer gerochen.

»Von den Kürzungen«, referierte Cecilie. »Jeder vierte redaktionelle Mitarbeiter wird gefeuert.«

Dicte fragte sich kurz, wie es wohl sein mochte, gefeuert zu werden. Das sichere Standbein zu verlieren.

»Und warum?«

Sie hatten doch gerade zwei Neue eingestellt, die für Kriminalfälle und Wirtschaft zuständig sein sollten. Außerdem war die Redaktion in Århus zur Ausbildungsstätte für Praktikanten erklärt worden. Sie selbst hatte man in den so genannten Nachrichtenbereich beordert. Sehr zu ihrem Missfallen, weil das bedeutete, dass sie jetzt zu Kaisers Leibeigenen gehörte, obwohl ihr der Abstand zu dem Redakteur in Kopenhagen nicht groß genug sein konnte.

»Der Jahresabschluss«, murmelte Davidsen, der nicht mehr so großmäulig wirkte wie in der vergangenen Woche, als er zum Leiter des Büros in Århus ernannt worden war.

»Ein enormes Defizit«, vertiefte er seine Aussage. »Zweihundertfünfzig Millionen.«

»Ja und?«, fragte sie. »Seit wann sollen Zeitungen Gewinne machen? Dann können sie auch gleich Tangas oder Tretroller produzieren.«

Von Holger Søborg, dem bald fertig ausgebildeten Praktikanten, war ein Kichern zu hören. Er sah wie ein amerikanischer Footballstar aus. Viereckiger Kiefer, dicker Hals und ein Minimum an Gehirnzellen, so hatte Davidsen es einmal ausgedrückt und zumindest dieses eine Mal ein Quäntchen Humor bewiesen.

»Tangas«, wiederholte Holger und warf Cecilie einen lustvollen Blick zu, mit der er ein Wochenendverhältnis hatte. Dieses Verhältnis war das am schlechtesten gehütete Geheimnis der Redaktion – neben der Tatsache, dass Cecilie seit der Mitarbeiterkonferenz in Kopenhagen, die sich über ein ganzes Wochenende hingezogen hatte, bei dem Chefredakteur Karl Juhl hoch im Kurs stand.

»Oder Kondome«, fügte Dicte böse hinzu.

Holger wurde rot. Cecilie funkelte sie wütend an.

»Bestimmt werden die zuletzt Eingestellten gefeuert.«

Dicte seufzte. Sie schmeckte Rauch wie schon seit Stunden, obwohl sie sich mindestens zehn Mal die Zähne geputzt hatte. Sie versuchte nachzurechnen. Wen betraf das? Rein technisch gesehen, war sie die Letzte, weil sie bei dem Umzug von Kopenhagen nach Århus eine neue Mitarbeiternummer bekommen hatte. Aber insgesamt gesehen, war Cecilie noch nicht so lange bei der Zeitung wie sie.

»Das kommt wohl darauf an, wie man rechnet«, sagte sie, warf die Randers Amtsavis vom Stuhl und setzte sich. Sie fand in dem Durcheinander auf dem Couchtisch eine saubere Tasse und griff nach der Thermoskanne. Davidsen schnupperte.

»Warst du auf einem Grillfest? Du riechst wie ein gebratenes Hähnchen.«

Sie dachte an die Pferde, an ihre Augen, in denen das Weiße nach außen gekehrt war, und an das Wiehern der Tiere in ihrer Todesangst. Sie wünschte, nicht darüber reden zu müssen, aber sie würden es ohnehin bald in den Meldungen der Nachrichtenagentur Ritzau lesen.

»Der Stall des Nachbarn ist heute Nacht abgebrannt.«

»Ach, du meine Güte.« Cecilie klang, was man ihr zugute halten musste, ehrlich schockiert. »Hoffentlich hat es nur Materialschaden gegeben?!«

Journalisten. Was konnten sie schön mit technischen Ausdrücken um sich werfen, dachte Dicte. Materialschaden. Personenschaden. Worte, hinter denen sich echte Katastrophen und ein Gefühlschaos verbargen.

»Zwei Pferde sind zu Schaden gekommen«, informierte sie, als läse sie die Nachrichten vor. »Vier konnten wir retten.«

»Schrecklich«, sagte Holger mit runden Stielaugen. »Warst du involviert?«

Ja und nein. Sie schloss einen kurzen Moment die Augen. Wann war man involviert? Sie trank von dem schwarzen Kaffee, der furchtbar schmeckte.

»Ich kenne die Nachbarn kaum. Sie sind in Skiferien.«

»Und Bo?«

Davidsen konnte es nicht lassen. Sie nickte. Sie wusste, wonach er in Wirklichkeit fragte. Nicht, ob Bo bei ihr gewesen war, sondern ob er die Tragödie fotografiert hatte.

»Er hat ein paar Fotos gemacht, als die Feuerwehr da war. Ich weiß nicht, ob sie brauchbar sind.«

Davidsen nickte und sagte, genau wie erwartet und wie ein Echo von Kaiser, dessen Geist offenbar immer über allem zu schweben schien: »Eine super Story.«

Eine Weile fühlte sie sich wie in einem Vakuum. Sie spürte die Übelkeit und den Rauchgeschmack und hörte die Stimmen der Kollegen, war aber trotzdem nicht Teil des Ganzen. Sie dachte an Rose, die sie anrufen und warnen musste, damit sie nicht aus dem Gymnasium nach Hause kam und angesichts des heruntergebrannten Stalls einen Schock bekam. Brandstiftung hatten die Feuerwehrleute schnell festgestellt. Das verwüstete Wohnhaus sprach ebenfalls eine deutliche Sprache. Rose würde schockiert sein. Rose, die bald kein Kind mehr war und sich immer wieder eine Übernachtung bei ihrem Freund erschlich.

Ein wohl bekanntes, herunterziehendes Gefühl machte sich in Dicte breit, und sie klammerte sich an die Kaffeetasse. Man sollte es nicht für möglich halten, dachte sie. Man glaubt, es dauert ewig, und dann sind sie eines schönen Tages groß und treffen ihre eigenen Entscheidungen und machen, was sie für richtig halten. Nur durch die Erziehung und das, was in der Kindheit angelegt worden ist, hat man noch ein ganz klein wenig Einfluss auf das, was die eigenen Kinder tun. Man kann nur hoffen, dass es gelungen ist, ihnen ein gutes Rüstzeug mitzugeben, denn was soll aus ihnen werden, wenn man sie nicht mit Vernunft und einem kritischen Verstand und all dem anderen Lebenswichtigen ausstatten konnte? Welche Katastrophen passieren können, wenn man sie ins Leben loslässt ...

Was trugen diejenigen wohl für einen Ballast mit sich herum, die den Stall abgefackelt hatten? Oder derjenige? Wie hatten so gefährliche Dämonen in ihnen Wohnung beziehen können? Gab es wirklich Bosheit in reinster Form? Sie konnte sich versucht fühlen, das zu glauben.

»Dicte?«

Davidsens Stimme unterbrach ihre Gedanken.

»Kannst du dich darum kümmern? Um den Brand?«

Jemand musste es schließlich tun. Sie nickte.

»Hat Kaiser sich gemeldet?«

Der Nachrichtenredakteur pflegte in der Regel anzurufen und eine ganze Reihe von Spezialaufgaben zu verteilen, was Davidsens Job als Leiter des Büros in Århus zu einer leeren und sinnlosen Farce machte. Davidsen rutschte demzufolge auch ein wenig unruhig hin und her, zündete sich eine Zigarette an und hüllte sich in Rauch ein. Er hatte den Mund aufgemacht, um etwas zu sagen, als das Telefon auf ihrem Tisch klingelte und sie gerade noch die Enttäuschung in seinen Augen sehen konnte, weil sie erriet, wer dran war.

»Svendsen!«

Kaiser kaute am anderen Ende der Leitung auf etwas herum. Garantiert Schokoladenkuchen.

»Keine Geringere«, sagte sie in dem Versuch, witzig zu klingen.

»Dein Kriminalfreund. Der dürfte doch jetzt alle Hände voll zu tun haben.«

Sie wartete. Hin und wieder sprach er in Rätseln.

»Und das bei dem Ruf, verdammt!«

»Bei wessen Ruf?«

»Dem der Polizei in Århus natürlich«, vertiefte er seine Aussage. »Zuerst streichen sie ihre eigenen Knöllchen, und dann schießen sie in Tilst ein paar Autodiebe über den Haufen.«

»Die Reihenfolge war umgekehrt.«

»Na schön. Und jetzt haben sie den Brand am Hals«, sagte er.

So eine Riesenstory war das nun auch wieder nicht, dachte sie. Brachte Ritzau wirklich schon die Nachricht von dem Stallbrand? Wenn im Laufe des Tages noch etwas Besseres hereinkam, landete sie vermutlich als kleine Notiz auf Seite vier.

»Welcher Brand?«, fragte sie vorsichtig.

»Habt ihr das nicht gesehen? Informiert ihr euch nicht?«

Bei Kaiser lief immer Ritzau, und im Fernsehen wechselten sich CNN, BBC World und SKY ab. Und bevor der Tag herum war, würde er alle großen Zeitungen durchforstet haben, dänische und ausländische.

»Eine Schule!«, brüllte seine Stimme in ihr Ohr, in dem noch immer das Wiehern der Pferde klang. »Sie haben in der Innenstadt eine ganze Schule abgefackelt. Und zusätzlich alles verwüstet. Die Møllevang-Schule, im Übrigen.«

»Wann?«, fragte sie dümmlich.

»Heute Nacht. In der schwärzesten, dunkelsten Nacht«, fügte er Unheil verkündend hinzu. »Ruf deinen Kripofreund an! Besorg mir, was du kriegen kannst! Kinder fackeln ihre eigene Schule ab«, skandierte er. »Das ist eine super Story. Der Albtraum aller Lehrer und Eltern. Morgen bist du auf der Titelseite, Svendsen.«

Das nächste Opfer: Skandinavien-Krimi

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