Читать книгу Das nächste Opfer: Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 13

10

Оглавление

Niemand verlangte das von ihr. Es wäre ein Leichtes gewesen, jemanden zu bitten, für sie einzuspringen. Faktisch erwarteten sie das sogar, sowohl der Pfarrer als auch die Küsterin und der Kirchendiener und damit auch die Gemeinde.

Aber sie hatte die Hoffnung, dass es ihr gut tun und sie hier, auf ihrer Orgelbank, hoch über der Gemeinde, ja, sogar über dem Pfarrer auf seiner Kanzel, einen Halt finden würde. Sie hatte gehofft, eine Verbindung herstellen zu können, wenn sie sich nur genug Mühe gab. Die Musik half ihr gewöhnlich. Die Musik und die Worte.

Karens Finger fanden die Töne zu Max Regers Präludium in F-Dur. Die Füße in den Orgelschuhen glitten über die Pedale. Die Orgelpfeifen öffneten und schlossen sich, und die Töne strömten in die Skjoldhø-Kirche, ein Meisterwerk von einem modernen Gotteshaus, entworfen von den Architekten Friis und Moltke.

Die Kirche war gut besucht. Aber nicht so gut wie zu den Gottesdiensten. Die Leute mussten sich erst daran gewöhnen. Lichtmess war zu einem Fremdwort geworden, seit der alte Feiertag mit den anderen zu Buß- und Bettag zusammengelegt worden war. Aber der Pfarrer war von ihrem Vorschlag, das Licht zu feiern und die Gemeindemitglieder zu bitten, die sieben Lesungen vorzutragen, begeistert gewesen. Es würde schön aussehen, wenn jeder nach beendeter Lesung zum Altar hochstieg und eine weiße Kerze im Leuchter anzündete.

Sie hatten viel geübt. Die Rolle des Chors war schwierig. Vor allem der Kyriesatz. Vor dem Norwegenurlaub hatten vier Proben stattgefunden, und sie hatte um den Klang gekämpft, den hellen Klang, der den Winter beenden sollte.

Und jetzt saß sie hier, während die Küsterin Henny Dahl unten stand und das Eingangsgebet betete. Die Musik hatte sie nicht berührt. Sie hatte die Verbindung nicht herstellen können, konnte sich anscheinend nicht mehr mit Gott unterhalten. Und die einzigen Worte, die in ihrem Kopf rumorten, stammten aus einem Psalm, den sie hasste, wenn man so etwas von Psalmen sagen durfte. Oder überhaupt von irgendetwas. Denn genau darum hatte sie gekämpft – nicht zu hassen. Das war ihr Lebensziel und der direkte Grund, warum sie den Weg gewählt hatte, den sie gewählt hatte. Die Kirchenmusik.

Aber die Worte drangen doch in ihr Bewusstsein, und die Wut begann wie Haferbrei zu brodeln, der zu kochen anfängt.

Es waren die Worte Kingos, des Bischofs und Kirchenliederschreibers. Sie war kein Fan von Kingo und dem Barock, und vielleicht störten seine Worte sie deshalb. Er war so melodramatisch. Oft arbeitete er mit etwas, das sie als billige Tricks bezeichnen würde. Denn mehr waren sie nicht, diese Worte, als billige, rührselige Tricks. Trotzdem verfehlten sie ihre Wirkung nicht.

Ohne einen Einfluss darauf zu haben, formten ihre Lippen den ersten Vers. Das waren keine Worte, die an einem Tag wie dem heutigen gebraucht werden sollten, es waren Worte der Finsternis. Aber sie war ja auch nicht vergangen, die dunkle Nacht, obwohl sie später genau diesen Psalm singen würden. Die dunkle Nacht war hier, mitten in dieser Kirche und in ihrem Gemüt. Sie konnte ihr nicht entkommen, wie sehr sie sich auch bemühte.

»Dunkelheit die Erd umhüllet, und die Nacht ist nun vorhand. Dunkelheit die Sonne trübet, Jesus legen will in Band. Solche Nacht ward nie davor, zu ist nun das Himmelstor. Jesus, unsre Sonn und Ehren, wird der Nachte Schande lehren.«

Sie wiederholte zwei der Strophen, während eine Frau aus der Gemeinde aufstand und aus dem Lukasevangelium vorlas. Simons Lobgesang.

Die Worte rotierten in ihrem Kopf. »Solche Nacht ward nie davor, zu ist nun das Himmelstor.« Und sie spürte den Griff um ihr Inneres, hart, fast schon brutal, und die Kälte, die sich um ihre Füße ausbreitete. Ihr Herz schien zu schlagen aufgehört zu haben. Als existierte es nicht länger, sondern wäre in dem Augenblick aus ihr herausgerissen worden, als sie erfahren hatte, dass Inger tot war. Nicht nur tot. Ermordet.

Denn sie wusste, dass es ihre Schuld war. Ausnahmslos ihre Schuld, obwohl sie darum gekämpft hatte, das Richtige zu tun. Sie hatte versagt. War nicht imstande gewesen, auf ihre eigene Schwester aufzupassen. Da war es wohl nicht so verwunderlich, dass der Herrgott ihr nie ein eigenes Kind geschenkt hatte.

Nach der Lesung und der ersten angezündeten Kerze setzte der Chor ein. »In Fried und Freud dahin ich fahr«, sang er, und ihr Spiel wurde mechanischer, was die Sänger natürlich merkten, aber auch verstanden. Sie wussten, was passiert war, und glaubten, dass es ihr deshalb so schlecht ging.

Sie konnte sie geradezu untereinander flüstern hören, wenn sie ihnen den Rücken zuwandte. Ihre eigene Schwester. Im Moor gefunden. Erwürgt und der Kopf mit der Axt gespalten. Die arme Frau, darüber kommt sie nie hinweg.

Ein weiteres Gemeindemitglied stand auf und las aus dem Matthäusevangelium, 5,13–16. »Ihr seid das Licht der Welt.« Darauf folgte ein Kirchenlied, Nummer 314: »Mach dich bereit, o Christenheit.«

Ob Inger bereit gewesen war, ihrem Schöpfer gegenüberzutreten? Sie bezweifelte es.

Inger, die immer auf der Suche und so verwirrt gewesen war. In der letzten Zeit hatten sie hin und wieder zusammen in der Bibel gelesen. Es war ihre Idee gewesen. Sie hatte Inger etwas Grundlegendes geben wollen anstelle ihrer ewigen Streifzüge in andere Glaubensrichtungen. Wie dem letzten. Der mit ihrem Zusammenbruch geendet hatte. Natürlich hatte sie der Polizei davon erzählt, aber nicht alles. Denn schließlich war da noch Lise, und Inger hätte gewollt, dass Lise beschützt wurde. Die Tochter der Nachbarin erinnerte sie an Lise. Der schlanke Teenagerkörper. Das lange Haar, das an die Sechzigerjahre mit den Hippies und Friedenssymbolen erinnerte. Selbst die Augen. Groß und blau.

Sie hatte gesagt, dass sie nicht wisse, wo Lise sich aufhalte, und so gesehen stimmte das auch. Aber sie würden sie finden, natürlich würden sie das. Und sie wagte sich nicht vorzustellen, zu welchen Schlussfolgerungen sie kommen würden.

Die Polizei hatte sie nicht beeindruckt. Vor allem die zwei geschäftigen jungen Beamten nicht, die mit ihr und Søren gesprochen hatten, als der Stall brannte. Sie hatten so einen gleichgültigen Eindruck gemacht. Aber da war dieser andere, nachdem sie Inger gefunden hatten. Er hatte sich als Kriminalkommissar John Wagner vorgestellt. Mit ihm konnte man reden. Er sang selbst im Chor, hatte er erzählt – und auch in welchem. Sie hatte anerkennend genickt. Das war ein guter Chor. Sie kannte den Dirigenten von der Kirchenmusikschule.

Wagner hätte sie alles erzählen können. Er hatte gütige, ruhige Augen. Er hatte auf der Sofakante gesessen und sich zu Søren und ihr vorgebeugt. Feinfühlig und freundlich.

»Wir müssen etwas über Inger wissen. So viel wie möglich«, hatte er gesagt.

Sie hatte verständnisvoll genickt.

Er sah sich kurz im Wohnzimmer um, in dem noch immer Chaos herrschte, wenn auch das Schlimmste beseitigt war. Die Bilder hingen wieder an der Wand oder standen auf der Anrichte. Die Möbel waren auf ihren Platz gerückt und die Scherben aufgefegt worden.

»Wie lange hat sie hier gewohnt?«

»Drei Wochen.«

Sie wusste, was kommen würde, bevor er die Frage gestellt hatte. Natürlich musste er fragen.

»Warum? Wo wohnte sie sonst?«

Sie wand sich. Wog das Für und Wider ab. Dachte, dass er es müsse sehen können, aber das war ihr egal.

»Sie hatte einen Zusammenbruch. Vielleicht könnte man von einer unglücklichen Liebesbeziehung sprechen.«

»Wie ist das zu verstehen?«

Sie würde nichts sagen. Nicht alles. Sie dachte an Lise.

»Da war Gewalt im Spiel«, sagte sie schließlich.

Wagner hob fast unmerklich eine Augenbraue. Sie konnte sehen, was er dachte, und war zufrieden.

»Haben Sie den Namen des Mannes?«

»Anders Langballe.«

»Und wo finden wir ihn?«

Sie schluckte und sah zu Søren hinüber, der ganz unglücklich aussah. Erst jetzt sah sie, dass er sein Hemd falsch zugeknöpft hatte und sein Haar ungekämmt war. Immer musste sie hinter ihm her sein. Sie sah Wagner an. Man konnte ihm vieles erzählen, aber er war trotz allem ein Polizist.

»Im Staatsgefängnis in Horsens. Da sitzt er ein, wenn er nicht abgehauen ist, aber dann wären wir wohl informiert worden.«

Sie sah, dass er versuchte, die Fassung zu bewahren. Er atmete ein und langsam und kontrolliert wieder aus. Löste die Krawatte ein wenig, obwohl er ansonsten sehr korrekt gekleidet war. Zivil, genau wie die Kriminalpolizei in Filmen immer auftrat.

»Anders Langballe«, murmelte er und griff nach der Kaffeetasse auf dem Tisch, entschied sich dann jedoch anders und setzte sie mit einem vorsichtigen Klack wieder ab. »Ich erinnere mich an den Namen und auch wieder nicht. Weswegen sitzt er?«

Zum ersten Mal sah sie ihn direkt an.

»Wegen eines sadomasochistischen Mordes.«

Sie waren bei der sechsten Lesung angekommen. Sie war aus dem Epheserbrief. »Licht im Herrn.«

Die Frau aus der Gemeinde war nervös und stolperte über die Worte. Die Kerze ließ sich mit dem Feuerzeug nicht anzünden, sie ging immer wieder aus. Schließlich nahm sie eine der anderen Kerzen und zündete sie damit an.

Der Chor sang »Jedes Licht in der Nacht des Lebens«, und plötzlich sehnte sie sich nach Inger, mit einem starken, physischen Schmerz. So würde es sein, das wusste sie. Manchmal würde er sie überfallen. Manchmal sich unwirklich anfühlen. Aber er würde immer da sein und ihr wie ein Schatten folgen.

Die siebte Lesung war aus einem der Psalmen: »In deinem Lichte sehen wir das Licht.« Darauf folgte ein Kirchenlied: »Zum Himmel reicht deine Gnade, o Gott.« Und dann das Glaubensbekenntnis und der Segen, und nach dem Schlussgebet sang noch einmal der Chor, und sie konnte ihre Noten und Schuhe einpacken. Am liebsten wäre sie hier geblieben, in dem stillen Raum. Sie dachte an ihren Vater und wünschte, es ließe sich aufschieben, aber sie sah ein, dass es an der Zeit war.

Wieder saß er in der Sonne. Sie sah, dass er schwitzte, und nahm die Decke fort, die über seinen Knien lag.

»Hast du Kuchen mitgebracht?«

Sie nickte.

»Natürlich. Das mache ich doch immer.«

Sie packte ihn aus. Holte Kaffee. Er versank in sich selbst und verkleckerte Himbeerfüllung aus dem Brötchen. Sie säuberte ihn mit einer Serviette und nahm Anlauf.

»Vater.«

Die wasserblauen Augen zeigten keine Reaktion. Sie musste sich hinsetzen, damit er sie ansah, musste seinen Verstand ansprechen und hoffte gleichzeitig, ihn nicht erreichen zu können.

»Inger ist tot.«

Zuerst sah sie keinerlei Reaktion. Dann schien sich etwas in ihm zu regen. Seine Lippen formten ein Wort. Die Augen wanderten an der Wand hinauf zu den farbigen Bildern, die die Alten aufmuntern sollten.

»Tot.«

Das Wort klang so hohl, als es endlich kam. Nicht wie eine Frage, sondern wie eine Feststellung.

»Man hat sie im Moor gefunden. Tot«, sagte sie und vermied es bewusst, »ermordet« zu sagen.

»Tot«, wiederholte er verwundert, und ihr kamen Zweifel, inwieweit er sie verstanden hatte.

»Tot«, erklärte sie noch einmal, weil er es sonst von jemand anderem erfahren würde. »Inger ist tot, Vater.«

Sekunden vergingen. Sie konnte nahezu hören, wie der Sekundenzeiger an seiner Uhr die Zeit in kleine Teile zerteilte. Dann richtete er endlich den Blick auf sie, und sie sah die Jahre darin ausgelöscht. Für ihn gab es nur das Hier und Jetzt. Alles andere war fort, und sie fragte sich, ob es jemals zurückkehren würde.

»Wer ist Inger?«, fragte er.

Das nächste Opfer: Skandinavien-Krimi

Подняться наверх