Читать книгу Das nächste Opfer: Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 8
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ОглавлениеDer erste Gedanke galt ihrem Vater.
Ob er die Nachricht verkraften konnte. Ob er Zuflucht in den Ecken des Gemüts und des Vergessens suchen würde, wie er es nach dem Tod ihrer Mutter für kurze Zeit getan hatte.
Karen dachte wieder daran, als sie Timbo hinausscheuchte und mühselig die zertrümmerte Küche aufzuräumen begann. Sie hatte nicht einen Augenblick gezweifelt, dass er es heute erfahren sollte. Sonst würde es ihm über Umwege zu Ohren kommen, oder er würde es in der Zeitung lesen. Aber wie? Wie sollte sie ihm erzählen, dass sein Lebenswerk abgebrannt und sein Elternhaus dem Vandalismus zum Opfer gefallen war? Ihr Elternhaus, was das anging, aber daran dachte sie nicht weiter. Sie war es gewohnt, zuerst an ihn zu denken. Und an Inger.
Während sie in dem unüberschaubaren Durcheinander der Küche stand, spürte sie wieder den stechenden Schmerz, als würde jemand eine Ahle in ihr Fleisch bohren. Sie schien mit der Sorge um Inger geboren worden zu sein. Als höre die Verantwortung für die kleine Schwester nie auf. Inger erinnerte sie an das Mobile mit den Glasvögeln, das über der Heizung gehangen hatte. Die warme Luft hatte die Vögel in konstanter, rastloser Bewegung gehalten, in einer Bewegung, die immer nur zum Ausgangspunkt zurückführte. Einer Suche nach dem Glück, der Liebe, dem Glauben. Offen und verwundbar, süß und verwirrt. Und verdammt gefährlich für sich selbst. So war ihre Schwester, und Karen fühlte, wie die Kälte sich bis in die Knochen ausbreitete. Was um alles in der Welt war mit Inger geschehen?
Die Polizei war gerade gegangen. Sie wollten sie zur Fahndung ausschreiben, schienen aber seltsam gleichgültig. Sie hatten gefragt, ob es nicht möglich sei, dass ihre Schwester woanders übernachtet habe. Ob sie einen Freund oder eine Freundin habe, die man anrufen könne.
Zumindest schienen sie Inger nicht der Brandstiftung zu verdächtigen. So dumm waren sie nun doch wieder nicht. Sie meinten, dass ein Jungenstreich ein böses Ende gefunden habe. Die Täter waren von der Rückseite in die Scheune eingedrungen. Sie hatten etwas Diesel über einen Heuhaufen geschüttet und das Ganze mit Petroleum abgebrannt. Vielleicht hatten sie noch eine Weile dagestanden und zugesehen. Vielleicht hatten sie nicht damit gerechnet, dass das Feuer sich bei dem Frost breit machen, vielleicht hatten sie geglaubt, dass der Schnee die Flammen bremsen würde.
Vielleicht, vielleicht, vielleicht.
Sie hörte, dass die Tür geöffnet wurde und Søren sich im Windfang die Stiefel auszog. Seine schweren Schritte näherten sich der Küche, an deren einem Ende sie angefangen hatte, die zerbrochenen Tassen und Teller aufzufegen und sich einen Weg durch das Chaos zu bahnen.
»Was hat der Tierarzt gesagt?«
Kjeldsen war glücklicherweise sofort gekommen, als sie angerufen hatten. Er hatte auch geholfen, einen Stellplatz für die Pferde zu finden.
Søren blieb kurz in der Küchentür stehen. Einen Augenblick meinte sie, er schwanke leicht, aber das war bestimmt nur Einbildung, auch wenn er es schwer nahm, besonders das mit den Tieren. Was für eine Heimkunft nach den Ferien.
»Natürlich sind sie gestresst und unruhig, aber keins hat ernsthafte Verbrennungen. Ein paar Wunden und versengte Schweife, das ist alles. Aber die anderen ...«
Seine Stimme brach. Er holte tief Luft.
»Hier. Setz dich.«
Sie schob ihm einen Küchenstuhl hin. Er setzte sich schwerfällig und starrte in das Durcheinander und ins Nichts zugleich. Eine Tasse Kaffee, dachte sie. Ich mache eine Tasse Kaffee. Oder eine warme Suppe.
»Ich will mich nur eine Weile setzen«, murmelte er. »Es ist viel zu tun. Auch hier drinnen.«
Sie wandte ihm den Rücken zu, auch wenn es ihr widerstrebte, ihn nicht ansehen zu können. Aber er war ein erwachsener Mann und musste diesen Schlag verkraften, genau wie er die anderen verkraftet hatte. Sie wusste auch, dass er das würde.
»Und gerade jetzt«, sagte sie, ihm den Rücken zugewandt. »Zu Lichtmess.«
»Hmm?«
Sie drehte sich um. Natürlich dachte er nicht an so etwas. Sie war diejenige, die die Religion brauchte und woanders Trost suchen konnte als hier. Er hatte seinen Boden und seine Tiere.
»Lichtmess«, wiederholte sie. »Die Messe des Lichts. Am zweiten Februar wird gefeiert, dass wir die Mitte des Winters erreicht haben, und die Kerzen, die im Kirchenjahr gebraucht werden, werden geweiht.«
Er sah sie verständnislos an, und ohne weiter darüber nachgedacht zu haben, flossen die Worte des Psalms in ihrem Mund zu Tönen zusammen, die selbst er kennen musste.
»Vergangen ist die dunkle Nacht, der Tag schon erhellt die Gefilde. Nun scheint die Sonne in voller Pracht, die Vögel, die singen so milde.«
Zu ihrer großen Verwunderung mischte sich in den letzten beiden Strophen seine raue Stimme mit ihrer: »Gott gebe Gedeihen und gutes Glück, uns send das Licht seiner Gnade.«
Er lächelte sie bleich an, und sie wusste, dass er sich ihretwillen zusammennahm. So war es schließlich immer gewesen, sie hatten sich nie hängen lassen.
»Ich hoffe, der da oben hat sein Hörgerät an«, sagte er und wandte die Augen zur Decke.
Sie dachte an die lange Nacht und dass sie noch lange nicht vorbei war, dass sie mittendrin standen. Wieder spürte sie die Verlassenheit, als hätte sie keine Verbindung mehr zu dem Gott, an den sie geglaubt hatte. Die Verlassenheit, die sie bereits gespürt hatte, als sie mit dem Auto auf den Hofplatz eingebogen waren und der Anblick der Verwüstung sich ihnen dargeboten hatte. Der heruntergebrannte Stall und die Feuerwehrleute. Und vielleicht war es in Wirklichkeit dieses Gefühl, das ihr am meisten zu schaffen machte, zusätzlich zu ihrem Vater und Ingers Verschwinden.
Sie schauderte, setzte aber trotzdem Kaffeewasser auf, um etwas Normales zu tun.
Sie hatte bisher erst zweimal erlebt, dass Gott sie verlassen hatte, sodass sie nicht einmal ihre üblichen Gespräche mit ihm führen konnte. Beide Male, als sie im fünften Monat eine Fehlgeburt hatte.
Aber das lag zwanzig Jahre zurück, und sie hatte den Kontakt wiederhergestellt und mit Müh und Not Glauben und Licht wiedergefunden. Konnte man das noch, wenn man über die fünfzig war? Konnte man sich davon überzeugen, dass das Böse den Kampf verlieren und das Licht über das Dunkel siegen würde?
Sie dachte wieder daran, als sie sich ins Auto setzte, um nach Tilst zu fahren. Vorsichtig versuchte sie, die Verbindung zu Gott wahrzunehmen, die sie sonst immer spürte; als wäre sie eine Puppe, die an einer Schnur hing. Nicht fest, aber auch nicht locker. Ausreichend, dass sie auf vernünftige Weise durch den Tag und die Stunden kam.
Aber die Schnur schien gekappt.
Ihr Vater saß in seinem Rollstuhl in der Sonne, eine Decke über den Knien. Halb hoffte sie, dass er sie heute nicht erkennen würde und ihre Worte ihn nicht erreichten. Aber dann hob er den Kopf, und sie sah das Licht in den hellblauen Augen und wusste, dass er sich freute, sie zu sehen, und dass sie jetzt seine Freude trüben würde.
»Hallo, Vater.«
Sie beugte sich zu ihm hinunter und griff nach seiner Hand, die schlapp in seinem Schoß lag. Umarmungen und Küsschen waren bei ihnen nie üblich gewesen.
»Da bist du ja«, brummte er.
Sie kam zweimal die Woche.
»Wir waren in Urlaub. Ski laufen. Daran erinnerst du dich doch.«
Er nickte ärgerlich.
»Ich bin doch nicht senil.«
Sie kommentierte das nicht weiter, sondern zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.
»Es ist eiskalt draußen. Aber schön. Die Fenster sind ideal, so bekommt ihr etwas Sonne.«
Er fuchtelte ärgerlich mit der Hand herum. Jetzt sah sie, wie der alte, ungeduldige Blick sich regte, und sie sah die Runzeln in seiner Hand und die Leberflecken, die schmutzigen Regentropfen glichen.
»Ich muss dir etwas erzählen, Vater«, sagte sie und wusste nicht, wie sie die Nachricht behutsam überbringen sollte. Deshalb platzte sie damit heraus. »Es geht um den Hof. Der Stall ist heute Nacht abgebrannt, und jemand hat das Wohnhaus verwüstet.«
Sie beobachtete ihn. Eine goldene Haut schien sich über seine Augen zu legen. Sie sah seine Wut und keuchte, als seine Hand nach ihrem Arm griff und zudrückte.
»Diese Teufel. Das ist die Rache.«
Er schlug mit der anderen Hand auf die Armlehne des Rollstuhls. Sie sah, wie Spucke aus seinem Mundwinkel tropfte, dort, wo die Hirnblutung die Nerven betroffen hatte.
»Die Polizei ermittelt«, sagte sie und versuchte, die Stimme ruhig zu halten, während sie ihre Hand freimachte. »Sie meinen, dass es ein Lausbubenstreich war.«
Ein Laut kam aus seiner Kehle, den sie als Missbilligung interpretierte. Er hatte nie Vertrauen in die Autoritäten gesetzt, dachte sie.
»Wo ist Inger?«, fragte er plötzlich. »Sollte sie nicht auf das Haus aufpassen?«
Hin und wieder hatte er ein Gedächtnis wie ein Computer. Sie nickte langsam. War nicht darauf vorbereitet, auch das zu erklären.
»Aber vielleicht ist sie ja mit irgendeinem Mann abgehauen. Mit so einem Wundertäter«, meinte er. »Mit einem, der ihre Seele retten soll.«
Er schwitzte. Karen sah, wie Schweißtropfen an seiner Stirn hinunterliefen. Sie stand auf.
»Hier ist es zu warm. Ich fahre dich ins Zimmer.«
Er protestierte nicht, als sie die Bremse löste und mit ihm den Gang hinunterfuhr. Auch andere Heimbewohner saßen in der Sonne, und sie nickte ihnen zu. Manche hatten Besuch. Das Heim in Tilst war gut, und trotzdem fühlte es sich falsch an. Trotzdem sollte niemand so enden, ohne seine Angehörigen, dachte sie wie immer. Empfand es als unmenschlich, selbst für die Menschen, die in ihrem Leben nicht immer menschlich gehandelt hatten.
Das Zimmer war hell und freundlich, das Bett gemacht. Sie parkte ihn und setzte sich an den kleinen Sofatisch. Von hier aus hatte man Aussicht auf den Rasen, den jetzt mehr der Frost als der Schnee zudeckte – jeder einzelne Grashalm ein weißes Stäbchen.
Er blickte zum Bett hinüber, und sein Blick wurde nachdenklich. Dann sah er sie mit einer Mischung aus Schläue und kindlicher Unschuld an, die sie hin und wieder an ihm erlebte.
»Wer schläft dort?«
Sie schluckte und wusste, dass die Vernunft sich erst einmal verabschiedet hatte.
»Du, Vater. Das ist dein Bett. Und dein Zimmer.«
Er nickte verständnisvoll. Einen Moment saß er ganz still, aber dann sah er sie wieder an.
»Schlafe ich alleine?«
Sie musste trotz allem lächeln. Ihre Mutter war seit über dreißig Jahren tot, aber man konnte ja nie wissen. Irgendwo hatte sie gelesen, dass reiche Amerikaner in Pflegeheimen ein Vermögen dafür ausgaben, sich Sex zu erkaufen.
»Davon gehe ich aus, Vater. Aber das weißt du wohl am besten.«
Es war besser, unverpflichtend miteinander zu reden, über ein unproblematisches Thema. Jedenfalls besser, als über das andere, von dem sie hoffte, dass er es nicht mehr erwähnen würde. Es war nicht vergessen, das wusste sie.
So saßen sie eine Weile. Sie holte Kaffee, und sie aßen den Kuchen, den sie unterwegs im Supermarkt in Tilst gekauft hatte. Sie machten Smalltalk, und sie wartete darauf, gehen zu können. Zu Hause warteten das Aufräumen und das Problem mit Inger auf sie.
Als sie schließlich aufstand, kam wieder Leben in seine Augen.
»Die reinste Rache«, nörgelte er, und sie hoffte, jetzt nicht lang und breit aufgezählt zu bekommen, wie viele Menschen möglicherweise einen Grund hatten, sich an ihm zu rächen. Bestimmt nicht wenige, denn er war immer unversöhnlich und hart gewesen. Wie die Steinbeile, die er manchmal auf den Feldern gefunden und im Wohnzimmerfenster ausgestellt hatte.
»Das ist die Rache des Müllers!«, rief er ihr nach, als sie die Tür schließen wollte. »Die Rache des Müllers, vergiss das nicht!«
Sie zog die Tür hinter sich zu.