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Ach, du meine Fresse, hat der sich ins Zeug gelegt.«

Bo war in strahlender Montagslaune. Vielleicht weil er sich etwas mehr Zeit mit den Kindern erschlichen hatte, wie immer das zugegangen war. Vielleicht hatte er sie in der Pause mit zu McDonald’s genommen. Vielleicht auch nur am Schulzaun gestanden und sie zu sich gerufen; einen Schneeball geworfen und ein Lächeln oder zwei zurückbekommen.

Sie dachte es, während sie neben ihm auf dem Sofa in der Dunkelkammer saß. Auf dem Sofa, das von allem etwas gesehen hatte, was Affären anging. Oder – man durfte schließlich hoffen – er war froh, weil sie sich geliebt hatten. Einander gefunden hatten, so hieß das doch. In dem ganzen Durcheinander aus Brand und Verwüstungen und Mord und Scheidung und Roses Drohung, zu Hause auszuziehen, hatten sie am Sonntagabend eine CD von Robbie Williams aufgelegt und getanzt. Getanzt und gespürt und geschnuppert und geschmeckt. Nach einigen Flaschen Rotwein, natürlich, aber in Krieg, Liebe und Meinungsverschiedenheiten waren alle Tricks erlaubt.

»Wer?«

Sie murmelte es, die Nase gegen seinen Hals gepresst, als sie eng beieinander saßen. Sie spürte seinen Puls, studierte die Haut. Konnte die feinen Poren ahnen und die grauen Narben der Augen sehen, hinter denen sich Tragödien verbargen, selbst erlebte ebenso wie andere, deren Zeuge er draußen in der Welt geworden war und die er mit seiner Nikon verewigt hatte. Die Lust auf ihn kam zurück, obwohl sie eigentlich nur in die Dunkelkammer gekommen war, um Kopien zu machen.

»Holger, der Held, natürlich.«

Er hatte die aufgeschlagene Zeitung auf den Knien und zeigte es ihr.

»Hier. Und hier. ›Allein erziehende Mutter taucht mit Kind unten«, las er mit ekelerfüllter Stimme vor. »Sie soll ihren Sohn gezwungen haben, Malstifte zu essen.«

»Münchhausen-by-proxy«, erklärte Dicte, die schon einmal über einen ähnlichen Fall geschrieben hatte. »Er ist verdammt produktiv gewesen.«

Bo blätterte in der Zeitung.

»Und hier, verdammt. Eine ganze Doppelseite über den Schulbrand. Jede Menge Wörter. Hast du nicht gesagt, dass er nicht schreiben kann?«

Dicte richtete sich auf. Holger Søborgs Name war plötzlich überall zu sehen. Er hatte am Wochenende Dienst gehabt, aber trotzdem. Sie überflog die Texte, und die Wut stieg wie Blasen in ihr auf.

»Das kann er auch nicht. In der Regel braucht er fünf Stunden für einen Zweizeiler.«

Sie selbst hatte keine Story in der heutigen Ausgabe. Ihr Artikel über den Mord am Freitagabend war in der Sonntagszeitung erschienen, und danach war Wochenende gewesen. Sie las, und plötzlich fiel ein Teilchen an seinen Platz. Kürzungen. Entlassungen. Jeder vierte Mitarbeiter musste gehen. Die Zeitung knisterte auf Bos Knien.

Polizei jagt junge Brandstifter mit Hochdruck lautete die Überschrift des Artikels. Auf der Titelseite fand sich ein Hinweis auf den Artikel, auch mit Holgers Namen, der wie mit Neonbuchstaben geschrieben vor ihren Augen blinkte. »Die Polizei von Århus hat viele Kräfte für die Jagd nach den Tätern bereitgestellt, die die Møllevang-Schule abgefackelt haben. Man geht davon aus, dass es sich um Jugendliche handelt«, hieß es in dem Vorspann; dann folgte der Text: »Die Polizei von Århus hat eine intensive Suche nach den Tätern eingeleitet, die nicht nur hinter Brand und Vandalismus in der Møllevang-Schule stehen, sondern vermutlich auch hinter den weitgehenden Verwüstungen in der Samsøgade-Schule und der privaten Elise-Smith-Schule. Die Polizei untersucht einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Vandalismus und dem Mord im Kasted-Moor vom Freitag.«

Weiter unten im Text konnte sie lesen, dass mindestens zwanzig Beamte auf den Fall angesetzt waren und der Schulratsvorsitzende erklärt hatte, dass die Schulen jetzt ihre Bemühungen koordinieren und ihr Geld für eine bestmögliche Sicherung der Gebäude einsetzen mussten. Und, der Himmel möge ihr beistehen, es gab noch einen weiteren Artikel in der Zeitung, wie die Jugendlichen heutzutage vernachlässigt und sich selbst und diversen Computerspielen überlassen blieben. Natürlich unter Bezug auf irgendeinen Psychologen, der als Experte zitiert wurde.

»Hör auf.«

Sie hörte selbst ihre Panik darüber, dass ein anderer sich in ihr Arbeitsfeld eingeklinkt hatte, ungeachtet ob dieser andere nur ein Praktikant war oder nicht. Dann spürte sie eine leichte Beschämung, weil sie im Lauf der Zeit selbst so viele Zusammenstöße erlebt und für eine größere Flexibilität plädiert hatte sowie dafür, dass die Zeitung an erster und die Primadonna-Allüren der Reporter erst an zweiter Stelle kamen. Aber trotzdem. Das hier war etwas anderes.

»Wer zum Teufel glaubt er, dass er ist?«

»Vielleicht ist er auf den Cavling-Preis aus«, meinte Bo.

Sie las die Artikel noch einmal. Irgendetwas war falsch, aber sie konnte nicht sagen, was.

»Die Kürzungen!«, schlussfolgerte sie schließlich.

Bo glich einem Fragezeichen. Als freier Mitarbeiter hatten sie ihn genau da, wo sie ihn haben wollten. Da, wo sie weder Rente noch Krankengeld zahlen mussten.

»Er will eine feste Anstellung, wenn er mit der Schule fertig ist«, erklärte sie Bo, der auf alles, was fest war, allergisch reagierte.

»Cecilie möchte, dass er eingestellt wird«, präzisierte sie ihre Aussage. »Dann weiß sie, wo sie ihn hat.«

»Armer Kerl«, murmelte Bo.

Er stand auf, gähnte und streckte sich, lang und dünn und struppig wie eine der Katzen, auf die man in Griechenland oder Spanien traf. Die Freelancer unter den Haustieren, konnte sie noch denken. Entweder ganz wild oder ganz zahm. Auch wenn man sie mit nach Dänemark nahm und ihr Ohr tätowieren ließ.

Er zog sie vom Sofa hoch, küsste erst ihre Nase und dann ihren Mund.

»Pass auf«, flüsterte er. »Er hat ein Messer im Ärmel, und das ist auf deinen Rücken gerichtet.«

Eine Frau stand an der Rezeption, als sie endlich die Kopien gemacht und weiter über das gemeckert hatte, was ihr wie ein Komplott vorkam. Natürlich konnte sie nichts beweisen, und außerdem war es nicht verboten zu schuften. Aber irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas war absolut falsch. Das Gefühl verschwand auch nicht, während sie die Frau einige Sekunden beobachtete, die dort stand und unsicher den Gang hinunterblickte. Eine junge Frau in altmodischen Klamotten. Ein Kopftuch um den Kopf wie eine Bauersfrau; ein unkleidsamer brauner Wollmantel, ein graubraunes Kostüm und vernünftige Schuhe.

»Benedicte?«

Sie stand ganz still. Sie erkannte sie und doch wieder nicht. Wellen von Kindheit schlugen über ihr zusammen. Sofie? Ihre Lippen wollten sich bewegen und den Namen aussprechen, aber die Stimme versagte.

»Bist du das, Benedicte?«

Die Frau trat einen Schritt ins Licht, und Dicte begegnete den hellen blauen Augen, die sie früher so streng hatten ansehen können. Nicht ein Tag war in der Kindheit vergangen, ohne dass sie sie zurechtgewiesen hatten, dachte sie. Jetzt blickten sie nur erschrocken.

»Sofie«, brachte sie endlich heraus. »Was machst du hier?«

Sie hörte selbst, wie abweisend sie klang. Aber die Worte waren gesprochen, und sie hatte keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte.

»Darf ich mich setzen?«

Es gab keine Umarmung, nicht einmal einen Händedruck. Sofie befand sich auf verbotenem Terrain. Nervosität knisterte zwischen ihnen, und Dicte sah ein, dass sie die Sache in die Hand nehmen musste.

»Sicher. Wenn du willst, können wir uns in die Kantine setzen und einen Kaffee trinken.«

Soweit sie sich erinnerte, war es den Zeugen Jehovas nicht verboten, Kaffee zu trinken. Sofie hielt sich bestimmt an alle Regeln. Oder an die meisten, berichtigte sie sich. Denn eine der Regeln besagte, dass man keine Familienmitglieder aufsuchen durfte, die ausgestoßen worden waren.

»Nur ein Glas Wasser«, sagte ihre Schwester nichtsdestotrotz, und jetzt hörte Dicte, dass ihre Stimme leicht zitterte.

»Ich bleibe nicht lange.«

Dicte goss kaltes Wasser in ein Glas. Nicht lange. Sie hatten einander über zehn Jahre nicht gesehen, und Sofie blieb nicht lange. Bilder tauchten vor ihren Augen auf, ohne dass sie es wollte. Sie war vielleicht sechs und Sofie acht, als sie in den Ferien Großmutter und Großvater in Århus besucht hatten. Sie waren in die Altstadt geschleppt worden und in den Kopfsteinpflasterstraßen um die Wette gelaufen; waren ins Tivoli Friheden gegangen, wo sie auf dem Rasen Livemusik gehört und mit den anderen Kinder gespielt hatten, die in den Sommerferien dort waren. Großmutter hatte Filetsteaks gebraten, und in der ganzen Wohnung hatte es herrlich nach Zuhause und Sicherheit und reinstem Glück und Freiheit gerochen.

Sie drehte sich mit dem Wasserglas in der Hand um und streifte mit dem kühlen Glas kurz ihren Puls, der schnell pochte. All das hatten sie verloren. Als ihre Mutter begeistert und verbissen Jehova begegnet war und nach einer gewissen Zeit auch ihren Vater überzeugt hatte, war es vorbei mit den Ferien bei Großmutter und Großvater. Höchstens einen Nachmittag durften sie bleiben, und auch das nur unter Aufsicht, damit sie nicht mit Karten- und anderen Spielen korrumpiert wurden.

Sie reichte Sofie das Glas und fragte sich, ob sie diese Zeit jemals vermisst hatte. Ob sie zweifelte. Aber dann begegnete sie dem stahlharten Blick und wusste, dass dem nicht so war. Ihre Schwester war immer eine Musterzeugin gewesen.

»Danke.«

Sofie nippte vorsichtig an dem Glas, als könnte das Wasser giftig sein.

»Wie hast du mich gefunden?«

Sofie zuckte mit den Schultern.

»Ich wusste, wo du bist. Arbeitest«, berichtigte sie sich.

Dicte schenkte sich schwarzen, starken Kaffee ein. Wusste Sofie auch, wo sie wohnte? Hielten sie trotz allem ein Auge auf sie? Sie schauderte, hoffte aber irgendwo in ihrem Inneren, dass sie ihnen nicht gleichgültig war.

»Ich komme wegen Vater.«

Irgendetwas in der Stimme ließ Dicte auf den Stuhl sinken. Wieder spulte sich der Film vor ihren Augen ab. Sie sah ihren Vater vor sich und atmete den Duft von Tabak ein, aus der Zeit vor der Veränderung. Sie erinnerte sich an sein breites Lächeln, das die tiefblauen Augen leuchten ließ. Sie hatte diese Augenfarbe nie mehr bei einem Menschen gesehen. Sie konnte sein Lachen nahezu hören, wie es durch das Haus schallte, und der Verlust stach wie eine Ahle; präzise und scharf. Sie fragte sich flüchtig, warum Sofie gekommen war, und ihr Mund wurde trocken, als ihr die Möglichkeiten bewusst wurden.

»Ist er krank?«

Sofies Blick flackerte zum Fenster, über die Spüle und landete auf ihren Händen, die gefaltet im Schoß auf dem groben Stoff des Rocks lagen.

»Er hatte einen Verkehrsunfall. Er ist auf dem Bürgersteig von einem alkoholisierten Autofahrer angefahren worden.«

Die Stimme referierte die Einzelheiten des Unfalls. Wie die Polizei den alkoholisierten Autofahrer gejagt hatte. Wie er in voller Fahrt die Rechtskurve über den Bordstein genommen hatte. Aber Dicte nahm die Worte nicht mehr auf. Etwas in ihr riss auf, und ein Laut drängte an die Oberfläche. Sie wusste nicht, ob sie weinte oder schrie, und es war ihr auch gleichgültig.

»Wo ist er?«

Wieder begegnete sie dem unsteten Blick.

»Du weißt, wie das ist. Mutter will das eigentlich nicht. Sie weiß nicht, dass ich hier bin.«

Ihre Hand schoss nach vorn, bevor sie darüber nachdenken konnte. Sie griff nach Sofies Arm und hielt ihn fest. Der Stoff füllte sich rau und abweisend an.

»Wo?«

Sie hörte ihr eigenes Schluchzen und wunderte sich. Eigentlich hatte sie geglaubt, alles gut verdrängt zu haben.

»Fass mich nicht an«, sagte Sofie ruhig, und Dictes Finger ließen sie wie von selbst los.

Ihre Schwester stand auf und griff hastig nach ihrer Tasche, die an eine alte Schultasche erinnerte. Sie stellte sie auf den Tisch. Öffnete sie. Legte zwei Exemplare von Wachtturm und Erwachet! neben Dictes Kaffeetasse.

»Im Stadtkrankenhaus. Auf der neurologischen Abteilung. Er wird künstlich beatmet.«

Dictes Magen krampfte. Sie wollte ihr nachlaufen, als Sofie aus der Tür stürzte. Sie wollte sich bedanken und sagen, dass sie wusste, welch großes Risiko damit verbunden war, hierher zu kommen, und dass sie vorsichtig sein und ihren Vater besuchen würde, wenn niemand sonst bei ihm war. Sich rein- und rausschleichen würde wie ein Schatten; der sie in ihren Augen auch war. Eine Nichtexistierende. Doch stattdessen blieb sie wie angewurzelt auf dem Stuhl sitzen. Ihr Blick landete auf den beiden Blättern, und sie wusste, dass sie Sofies Alibi vor sich selbst waren. Sie war der Verkündigung nachgegangen.

»Hast du ein Gespenst gesehen?«

Sie wusste nicht, wie viele Minuten vergangen waren. Cecilie stand in der Tür, mit den üblichen Utensilien der Journalistin, dem Block in der einen und dem Kugelschreiber in der anderen Hand.

»So etwas Ähnliches«, murmelte Dicte. Sie wollte nach der Kaffeetasse greifen, aber aus irgendeinem Grund griff sie nach dem Wasserglas. Vor ihrem inneren Auge sah sie das Bild der Quelle mit rieselndem, klarem und kaltem Wasser. Sie trank begierig, und die Gedanken trugen einen vorübergehenden Sieg über die Gefühle davon.

»Meine Schwester«, murmelte sie. »Mein Vater liegt im Krankenhaus.«

»Das tut mir leid.«

Cecilie stand ein wenig linkisch da. Freundinnen würden sie nie werden. Sie hatten nie darüber gesprochen, aber Dicte wusste sehr wohl, dass Bo zwischen ihnen spukte. Nicht, dass Cecilie sich noch etwas aus ihm machte, aber es hatte ihrer Eitelkeit einen Schlag versetzt, dass er eine andere und nicht zuletzt ältere Frau ihr vorgezogen hatte. Sie öffnete den Kühlschrank und holte eine Bäckertüte heraus.

»Kuchen?«, fragte sie freundlich.

Dicte schüttelte den Kopf.

»Ich muss los. Ins Stadtkrankenhaus. Kannst du Davidsen Bescheid sagen?«

Cecilies Blick taxierte sie.

»Ich habe dir ein Fax auf den Tisch gelegt. Aber vielleicht sollten wir Holger anrufen, wo du jetzt eine legitime Entschuldigung hast.«

Kürzungen. Defizite. Die Worte summten in ihrem Kopf. Konnte sie es sich leisten freizunehmen? Konnte sie es sich leisten, es nicht zu tun?

»Was für ein Fax?«

Cecilie nickte in Richtung der Glaswand des Büros.

»Lies es besser selbst.«

Dicte stand auf. Sie leerte das Wasserglas und nahm die Kaffeetasse mit, stellte sie dann aber doch auf der Fensterbank ab. Sie griff nach dem Fax, das auf der Tastatur lag. Der Absender war das Polizeipräsidium in Århus und der Text kurz. Eine Einladung zu einer Pressekonferenz am gleichen Tag um sechzehn Uhr. Sie hatten vier junge Männer festgenommen, einen Sechzehnjährigen, zwei Siebzehnjährige und einen Neunzehnjährigen, die man des Vandalismus und der Brandstiftung an drei Schulen bezichtigte sowie des schweren Vandalismus auf dem Nordfriedhof und des Vandalismus auf dem Friedhof in Hornslet.

Um sechzehn Uhr. Das war in einer halben Stunde. Wagner und Co. würden da sein und sich den Fragen der Journalisten stellen, und sie hatte dort zu sein. Das war ihre Story, das war ihr Arbeitsgebiet. Aber im Moment war ihr das egal. Oder zumindest fast.

Eine leise Stimme sang von Kürzungen und jedem vierten Journalisten, als sie Holger Søborgs Nummer wählte und ihn bat, für sie einzuspringen.

Das nächste Opfer: Skandinavien-Krimi

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