Читать книгу Das nächste Opfer: Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 12

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Was bringt einen Menschen dazu, so etwas zu tun? Was gehört dazu?«

Sie verlangsamte das Tempo vor der Straßenschwelle vor dem Hotel Marselis, bevor der Wald anfing. Obwohl die Sonne schien, hatten nur wenige die Idee gehabt, an einem Februartag in den Wald zu fahren. Sie waren fast die Einzigen auf dem Weg.

Bo blickte angestrengt zwischen die Bäume, als befände sich die Antwort im Wald.

»Ich dachte, wir wollten uns entspannen«, sagte er. »In den Wald gehen und Fangen spielen und ein Eis in der Sonne essen.«

Sie sagte nichts. Aber seine Stimme tat ihr weh, weil sie hörte, dass er unglücklich war. Sicher nicht ihretwegen, aber in der Regel gelang es ihr, ihn aufzuheitern, selbst wenn es Probleme gab.

»Vielleicht war es der Exmann«, sagte Bo schließlich, als sie sich dem Tierpark näherten und trotz allem Zeichen von Leben sahen. Vier, fünf Autos waren geparkt, und ein paar Familien mit Kindern trotzten der Kälte und spazierten im Park herum. Die Kinder in ihren Overalls ähnelten bunten Stehaufmännchen.

»Warum sollte es der Exmann gewesen sein?«

Sie wusste, was jetzt kommen würde. Sie hätte die Frage nicht stellen dürfen.

»Vielleicht hat sie ihm verboten, die Kinder zu sehen«, sagte er verbissen. »Vielleicht sind die Jahre vergangen, und er hat nie die Möglichkeit gehabt, seine Kinder richtig kennen zu lernen. Nach der Scheidung.«

Ach, du meine Güte. Das lief ja perfekt, das hier. Ihr kleiner romantischer Ausflug, den sie geplant hatte, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Um im Wald und am Strand frei durchzuatmen, vielleicht durch den Tierpark zu schlendern und sich unter einem Baum zu küssen, während die Rehe neidisch zusahen. Träum weiter!

Sie parkte neben einem roten Opel Kadett, stellte den Motor aus und wandte sich zu Bo.

»Ingers Mann ist vor drei Jahren gestorben«, informierte sie ihn freundlich und fügte nach einer Pause hinzu: »Glaubst du wirklich, du wärst dazu in der Lage?«

Er starrte sie trotzig an. Aber dann zögerte er doch. Sie sah es an den Augen, und einen kurzen Moment sah sie noch etwas anderes, wollte die Hand nach ihm ausstrecken und ihn berühren, wagte es aber nicht.

»Das mit dem Strick, ja. Das andere, nein.«

»Mit der Axt?«

Er nickte.

»Mit der Axt.«

»Wir wissen ja nicht, was zuerst kam.«

Das Grau in seinen Augen zog sich zusammen und wurde zu Schwarz.

»Die Angst kam zuerst.«

Sie öffnete die Tür und stieg aus. Sie spürte die Unruhe wie ein Kribbeln unter dem Mantel. Sie wusste, sie sollte es nicht ansprechen, konnte es aber nicht lassen.

»Kann ein Schüler seine Lehrerin wirklich so hassen? Denn diese Möglichkeit ist wohl am wahrscheinlichsten, wenn man den Brand in der Schule mit in Betracht zieht.«

Bo antwortete nicht. Er war vorausgegangen, um das rote Holzschloss aufzumachen. Sie dachte weiter über das mit dem Schüler nach. Unglückliche Liebe? Wohl kaum. Sie versuchte, sich Inger Graugaard in Erinnerung zu rufen, wie sie ausgesehen hatte, wenn sie ihr auf den Spaziergängen mit dem Hund begegnet war. Eine graue, anonyme Gestalt in praktischen Schuhen und einem alten Mantel, mit einem Pagenschnitt wie die Schwester. Und einem Paar allzu müder Augen und leicht grauer, großporiger Haut. Nicht direkt ein Mensch, der große Leidenschaften hervorrief, obwohl man so etwas nie wissen konnte. Aber sie war Lehrerin an der Møllevang-Schule, auch wenn sie krankgeschrieben war. Die beiden Brände wurden aufgrund der Fußabdrücke, die man im Pulver an dem einen und im Rotwein an dem anderen Tatort gefunden hatte, in Verbindung gebracht, sodass Inger Graugaard, logisch betrachtet, von den Brandstiftern ermordet worden sein konnte. Das musste auch die Theorie der Polizei sein, obwohl Wagner am Freitagabend im Moor stumm wie eine Sphinx gewesen war. Der Täter fand sich wahrscheinlich unter den Personen, die eine Verbindung zu der Schule hatten. Derzeitige oder frühere Schüler dürften in der Liste ganz oben stehen.

Sie folgte Bo, der trotz allem galant war und ihr die Tür aufhielt. Trotz allem, weil seine natürliche Rücksichtnahme ihm an diesem Wochenende abhanden gekommen zu sein schien. Nicht, dass er unfreundlich gewesen war, nur verschlossen, wie sie ihn selten erlebt hatte. Es war ein richtig gemütliches Wochenende gewesen, bis jetzt. Zwei Brände, ein Mord um die Ecke, eine Tochter, die in ein Reihenhaus ziehen wollte, und ein Freund, der seine zwei Kinder vermisste, was konnte man sich mehr wünschen?

Sie holte ihn ein, und sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Dann spürte sie die Hand, die nach ihrer suchte. Die Wärme. Das versuchsweise Lächeln. Und irgendwo in seinem Blick sah sie all das, was noch immer da war, auch wenn es im Verborgenen schlummerte.

Aber nur kurz. Dann verschwand es wieder, als wäre ihm etwas eingefallen.

»Was ist?«

Er schüttelte den Kopf, während sie Hand in Hand weitergingen. Sie wusste, dass es direkt unter der Oberfläche schlummerte. Es erinnerte sie an irgendetwas. An den Blick eines anderen, vielleicht. An etwas, das zurückgehalten wurde.

»Kennst du den Schnullerbaum?«, fragte er.

»Nein.«

»Dann zeige ich ihn dir.«

Er zog sie mit sich. Am Waldrand liefen in aller Ruhe Rehe herum. Eine Familie mit zwei Kindern in Overalls hatte Äpfel mitgebracht und fütterte ein paar der Tiere. In Reih und Glied stehende Buchen streckten ihre Stämme gen Himmel, und unter der dünnen Schneedecke lagen Haufen von Blättern wie ein kupferfarbener Teppich. Sie dachte an das Moor. An wild wachsende Bäume und struppige Wurzeln. An den Körper, der auf der nassen Erde gelegen hatte, genauso unordentlich wie der Rest.

Der Schnullerbaum stand wie ein Weihnachtsbaum auf einer Hügelspitze. Er leuchtete in allen Farben. An jedem Ast hingen Schnuller in allen Formen und Farben. Kleine Briefe waren in Plastik eingepackt, um sie gegen Regen und Wind zu schützen.

»Wir waren vor ein paar Jahren mit den Kindern hier«, sagte Bo. »Tobias hat geheult und es bereut. Ninka war tapfer und hat würdig Abschied genommen.«

Der letzte Schnuller. Sie beobachtete sein Gesicht, und ein Messer bohrte sich in ihr Herz. Erinnerungen. Kindheit. Sie dachte an Kamilla und den Teddy, der vor dem Brand gerettet worden war. Wie verletzlich man als Elternteil war und wie wenig dazugehörte, dass die Sehnsucht und diese grenzenlose Liebe sich in der Stimme breit machten und einen zu allem Möglichen trieben. Die Erinnerung an Schnuller.

»Bo?«

Er stand einen Moment regungslos da.

»Was hast du?«

Er seufzte. Griff nach einem Brief und las laut: »›Ich heiße Mie und bin vier Jahre. Pass gut auf meinen Schnuller auf.‹«

Er drehte sich zu ihr um.

»Freitag habe ich die Kinder aus der Schule geholt. Ich habe der Lehrerin gesagt, dass ihre Oma krank ist. Wir hatten einen halben Tag zusammen.«

Sie merkte, wie ihr Mund sich öffnete. Sie wollte so viel sagen; wollte fragen, ob er noch richtig klug sei und dass er das Recht, seine Kinder zu sehen, verlieren könne. Aber die Worte kamen nicht.

»Sie haben sich so gefreut«, fuhr er fort. »Wir sind zu McDonald’s gegangen.«

Sie starrte ihn an, seine Gestalt, die noch sehniger geworden war und wie ein gespannter Bogen wirkte. Das struppige blonde Haar und den Bart, der gepflegter war als das erste Mal, als sie ihm begegnet war. Aber trotzdem sah er wie jemand aus, den man auflesen und mit nach Hause nehmen, dem man eine warme Mahlzeit vorsetzen sollte. Die Rastlosigkeit haftete ihm wie eine zweite Haut an, spiegelte sich in seinem Blick, der immer nach Motiven suchte.

Sie versuchte, ruhig zu klingen.

»Was hat Eva dazu gesagt?«

Er sah sie scheel an und lächelte sogar, und sie fragte sich, ob er jegliche Urteilskraft verloren habe.

»Wir haben es ihr nicht erzählt.«

»Was soll das heißen?«

»Ich habe sie wieder zurück in die Schule gebracht, und sie hat sie dort abgeholt.«

»Und die Kinder?«

Er drehte sich weg und machte ein paar Schritte, aber sie hatte das Schuldgefühl gesehen, bevor sie ihm folgte.

»Wir haben verabredet, dass das unser Geheimnis bleibt.«

»Bo, verdammt.«

Sie griff nach seinem Arm und zwang ihn, sie anzusehen.

»Das ist doch nicht der richtige Weg. Das weißt du genau. Das macht doch alles nur noch schlimmer.«

Er blieb stehen und starrte sie an wie eine Fremde, und die Albträume der letzten Monate durchströmten ihren Körper wie ein kalter Strom. Seine Enttäuschung jedes Mal, wenn Eva die Kinder nicht zu ihm ließ, in der Regel mit dem Hinweis, dass ihnen das oder das fehle. Seine Frustration, die sich, wie Dicte schnell merkte, bald gegen sie richtete. Die langen Abende mit zu viel Wein. Die Nachtstunden im Bett, in denen sie sich endlich fanden, oder den Abstand. Die Verwünschung.

Die sah sie jetzt in seinen Augen, war aber trotzdem dankbar. Immerhin hatte er Eva verlassen.

»Es kann nicht schlimmer werden«, sagte er müde.

Um den Tag zu retten, fuhren sie zur Marina und aßen Fischfrikadellen im »Navigator« mit Aussicht über die verfroren aussehenden Segelschiffe mit ihren nackten Masten und die Århus-Bucht, die auf das Frühjahr wartete.

»Vielleicht solltest du eine Reise machen«, schlug sie vor. »Du hast so oft vom Mittleren Osten gesprochen.«

Er sah sie wachsam an.

»Du willst mich loswerden.«

Das war das Letzte, was sie wollte.

»Vielleicht brauchst du Ablenkung. Durch die Arbeit«, fügte sie hinzu.

Sie wollte ihn bestimmt nicht loswerden, aber er verstand nicht, dass sie ihm helfen wollte, indem sie ihm einen Schubs gab. Ihr Blick riss sich aus seinem los und wanderte an den Wänden entlang, in die Ecken und Kanten. Das Restaurant war maritim aufgemacht. An der gegenüberliegenden Wand hing eine Tafel mit Knoten. Mit Seilstücken wurde gezeigt, wie man die verschiedenen im Segelsport üblichen Schlingen und Knoten machte. Irgendetwas rührte sich in ihrem Bewusstsein, ganz kurz, dann war es wieder fort.

Bo seufzte und griff quer über den Tisch nach ihrer Hand. Ihr Handwerker. War er vielleicht nicht gekommen und hatte ihr durcheinander geratenes Leben in Ordnung gebracht, innerlich wie auch äußerlich? Schuldete sie ihm nicht mehr, als ihn wegzuschicken und die Augen vor seiner Verzweiflung zu verschließen?

»Versuch, mich zu verstehen.«

Sie nickte und dachte, dass zumindest dieser Blick jetzt verschwunden war. Der zerstreute, der geheimnistuerische.

»Ich versuche es.«

Indem sie die Worte aussprach, wusste sie es. Es war Karen Graugaards Blick, den sie bei Bo gesehen hatte. Ein Blick, der eine andere Wahrheit verbarg als die, die erzählt wurde.

Sie blickte auf und starrte die Tafel mit den Knoten an, während sie sich zu erinnern versuchte, wie die Schlinge um Ingers Hals ausgesehen hatte. Professionell, soweit sie das beurteilen konnte; mit dem zu einem altmodischen Henkersknoten gebundenen Strick. Lernte man so etwas in der Schule?

Das nächste Opfer: Skandinavien-Krimi

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