Читать книгу Das nächste Opfer: Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 9
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ОглавлениеDer Frost lag wie ein grauweißer Film über der Landschaft, und der Himmel drückte gegen die Erde, als Dicte im alten Skejby abbog und bei Ny Mølle das Auto den Hang hinuntermanövrierte, vorbei an der landwirtschaftlichen Versuchsstation und den Wiesen, auf denen im Sommer Kühe weideten. Jetzt saß nur ein einsamer Mäusebussard auf einem Zaunpfahl. Er sah verfroren aus. Als Dictes Wagen näher kam, schwang sich der Vogel auf breiten Flügeln in die Luft und wurde zu einem dunklen Schatten vor der Watte des Himmels. Sie erschauderte. Sie hatte das Gefühl, plötzlich die Töne einer verborgenen, dunklen Sinfonie ahnen zu können. Als wollte die nasse, frostige Landschaft mit den nackten Bäumen und dem Mäusebussard oben am Himmel ihr eine Geschichte erzählen, die sie nicht hören mochte.
Sie schaltete das Gebläse ein, damit die Scheiben nicht noch mehr beschlugen. Ein eiskalter Hauch blies ihr ins Gesicht, und die Müdigkeit schmerzte in Armen und Fingern. Der Schlafmangel schien sie einzuholen, und der letzte Schluck Wein, den sie längst bereut hatte, ließ ihren Kopf brummen.
Der Arbeitstag hatte sich in die Länge gezogen, weil die Story über das Maskottchen geschrieben und ein Bild gemacht werden musste. Jan Hansen im Polizeipräsidium hatte ganz gerührt geklungen, als sie angerufen und erzählt hatte, dass der Teddy gefunden worden war. Sie wäre sich sonst auch ein wenig dumm vorgekommen. Das war nicht gerade die Exklusivstory, die ihr vorgeschwebt hatte, aber im Lauf des Gesprächs mit Hansen hatte sie doch eine Perspektive sehen können. Für die Kinder der unteren Klassen, deren Klassenzimmer abgebrannt waren, war der Teddy ein Licht im Dunkeln. Sie selbst hatte bei den Schäden mehr an die Millionen gedacht, die das kosten würde, aber dann hatte sie begriffen, dass auch etwas Unersetzbares in Rauch aufgegangen war. Die Zeichnungen der Kinder aus dem ersten Schuljahr. Ihre Kuscheltiere und ihre Bücher. In gewisser Weise vielleicht sogar ihre Kindheit.
Man hatte ihr erlaubt, mit Hansens Tochter Kamilla zu sprechen, und sie hatten ein Foto gemacht, auf dem sie mit dem Teddy im Arm vor der abgebrannten Schule stand. Ja, das war eine Story, die das ganze Gefühlsregister ansprach, und ja, Kaiser hatte sie gefallen, und er hatte sie auf die Titelseite gesetzt. Und außerdem war das keine gestellte Geschichte, die den Zeitungsverkauf ankurbeln sollte.
Als sie in den Topkærvej einbog, sah sie eine Rauchsäule, die sich aus den Überresten des nachbarlichen Stalls in die Luft wand. Vor ihrem inneren Ohr hörte sie das angstvolle Wiehern der Pferde und verband es mit dem Bild des kleinen Mädchens mit dem Teddy im Arm, das vor der Schule stand. Mit dem traurigen, müden Gesicht, das aus dem Kragen der Daunenjacke guckte, und dem im Wind leicht wehenden Haar. Kamilla hatte Dicte anvertraut, dass ihr eigener Teddy, Peter, auch irgendwo in dem abgebrannten Gebäude lag. Sie hatte es nicht über das Herz gebracht, es ihrem Vater zu sagen.
»Stell dir mal vor, wenn Peter unter all den Trümmern liegt. In dem ganzen Wasser. Er tut mir so leid.«
Dicte atmete tief ein und stieß die Luft mit einem schweren Seufzer wieder aus.
Sie sah auf die Uhr. Es war halb fünf. Rose war bestimmt schon zu Hause. Sie fuhr schneller, und langsam verflog die Traurigkeit. Das Auto rutschte geradezu auf den Parkplatz, und einen Moment ärgerte sie sich über ihre eigene Dummheit, als ein Stein gegen die Windschutzscheibe knallte. Sie hatte den ein Jahr alten Fiat gerade erst gekauft, nachdem der alte an einer natürlichen Ursache, wie Rose es nannte, verschieden war. Er war fünfzehn Jahre alt gewesen und hatte allen Versuchen, sein Leben zu verlängern, getrotzt.
Schnell sammelte sie ihre Tasche und die wenigen Einkäufe zusammen und wurde in der Diele stürmisch von Svendsen in Empfang genommen. Ein ganz gewöhnlicher Tag, dachte sie hoffnungsvoll. Die Mutter kommt zu Hund und Kind nach Hause. Alles ist, wie es immer ist, und um es ganz perfekt zu machen, ruft der Freund der Mutter an und sagt, dass er vorbeikommt und ein paar Pizzen mitbringt.
Dann kam Rose ihr entgegen, und plötzlich sah sie – in einem kurzen Moment –, dass etwas anders war. Wann war das passiert? Von einem Tag auf den anderen? Oder hatte sie nur nicht gesehen, dass ihre Tochter erwachsen geworden war?
»Svendsen! Runter!«
Roses Stimme hatte Autorität. Auch das war ihr noch nie aufgefallen. Der Hund gehorchte und hielt seine vier Pfoten auf dem Boden, während er eifrig um sie herumwieselte und sie begrüßte.
»Hallo, Schatz.«
Die Umarmung war, wie sie gehofft hatte. Aber da war dieser Blick. Erwachsen. Bekümmert, als wäre Dicte das Kind.
»Bist du okay, Mama?«
Sie hatte von der Redaktion aus angerufen und Rose auf den abgebrannten Stall vorbereitet. Kurz von den nächtlichen Ereignissen erzählt.
»Ja, sicher«, murmelte sie und bahnte sich mit den Supermarkttüten ihren Weg ins Haus. »Mir ist es nie besser gegangen.«
Rose trottete hinter ihr her in die Küche, an den Füßen die Lammfelllatschen, die sie von ihrem praktischen Jan zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte. »Ein Sonderangebot aus dem Einkaufszentrum«, hatte Bo säuerlich kommentiert. Jan war ein vernünftiger junger Mann.
»Was ist mit dir? Geht es dir gut?«
Ach, du meine Güte. Hatten andere Mütter auch solche Schwierigkeiten, ihre siebzehnjährigen Töchter zu fragen, ob sie bei dem Freund gut geschlafen hatten?
Rose sah sie mit ihrem Erwachsenenblick an. Plötzlich vermisste Dicte das Funkeln des Silberrings im Nasenflügel. Er war zumindest ein kleines Zeichen von Jugend und Aufruhr gewesen, aber Jan hatte er nicht gefallen, und Rose hatte ihn schon lange entfernt.
»Sie haben die toten Pferde abgeholt«, sagte Rose. »Die Feuerwehr, glaube ich. Mit einem Kran. Das muss schrecklich gewesen sein, Mama.«
Roses dünne Arme schlangen sich um Dictes Hals.
»Ich bin stolz auf dich. Wenn man bedenkt, dass ihr die meisten gerettet habt.«
»Aber nicht alle.«
Roses Nase berührte ihre.
»Du hast getan, was du konntest, Mama.«
Sie setzten sich. Rose kochte Tee. Dicte hatte ein Vollkornbrot gekauft und machte ein paar Käsebrote. Keine Butter für sie, aber dick Butter und Käse für Rose.
»Die Nachbarn sind aus den Ferien zurück«, sagte Rose und biss zu. »Das muss ein Schock gewesen sein.«
Dicte nickte. Sie wollte gerade vorschlagen, hinüberzugehen und zu fragen, ob sie mit etwas helfen könnten, als Roses ernster Blick ihren einfing und die Unruhe ihren Rücken hinaufkroch und von hinten nach ihrem Hals griff. Sie konnte noch denken, dass das eine Art Vorwarnung war, so wie der Mäusebussard vorhin.
»Ich muss dir etwas erzählen, Mama.«
Sie hatte ein paar Sekunden, um Vermutungen anzustellen, während alle Instinkte in Alarmbereitschaft versetzt wurden. Vielleicht war das so, wenn man an einer der Scheidelinien des Lebens stand, vielleicht versuchte man dann, die Notbremse zu ziehen. Sie unterschied sich wohl kaum von den meisten.
»Mehr Tee? Vielleicht hätten wir besser Kaffee machen sollen«, schlug sie vor und stand auf.
Ihre Handflächen waren nass geschwitzt, und sie trocknete sie an der Hose ab.
»Nein, jetzt weiß ich es. Wir brauchen etwas Süßes.«
Sie öffnete den Schrank und nahm die Windbeutel heraus, die sie eigentlich als Nachtisch vorgesehen hatte.
»Hausgemacht.«
»Mama.«
Roses Blick holte sie in die Wirklichkeit zurück.
»Setz dich.«
Sie setzte sich. Rose räusperte sich und stellte ihre Teetasse ab, bevor sie den Blick hob.
»Wir haben uns ein kleines Haus angesehen.«
»Ein Haus?«
»Ein Reihenhaus. In Lystrup.«
»Ein Reihenhaus?«
Roses Blick war zärtlich. Sie streckte die Hand aus. Dicte sah auf die schlanken Finger, die sich mit ihren eigenen verflochten.
»Es würde dir gefallen«, log ihre geliebte Tochter. »Es hat zwei Stockwerke. Und einen Garten.«
Ach, du meine Güte. Sie hatte damit gerechnet und doch wieder nicht.
»Das meinst du nicht. Das kannst du nicht machen.«
Aber sie hörte selbst, wie hoffnungslos das war und dass sie wie das Echo vieler Müttergenerationen klang. Sie schämte sich, konnte aber nicht anders.
»Du bist zu jung.«
Rose schüttelte langsam den Kopf.
»Jan hat gespart, und sein Vater hilft uns mit dem Rest der Bezahlung. Die Belastung ist nicht sehr hoch«, fügte sie hinzu.
Die Belastung ist nicht sehr hoch. Dicte wollte hinausschreien, dass eine Siebzehnjährige solche Worte nicht in den Mund nehmen sollte. Dass sie lieber von Kinobesuchen mit den Freundinnen und coolen Typen, von durchfeierten Nächten mit Massen von Wodkadrinks und Fahrten zum Magenauspumpen reden sollte. Aber Roses Teenagerzeit war kurz gewesen. Ein Jahr auf dem Vulkan, dann hatte sie Jan getroffen, der eine Lehre in der Wirtschaftsprüfungsfirma seines Vaters machte.
Jan, der seine Geschenke im Einkaufszentrum kaufte und ein eigenes Auto fuhr.
Sie wollte sagen, dass das nur über ihre Leiche geschehen würde. Dass sie es verbot. Sie musste sich fast die Zunge abbeißen, während Wut und Unruhe durch ihren Körper wirbelten. Und dann war die Müdigkeit wieder da. Die Unvermeidbare. Das Bewusstsein, dass die Zeit auf Roses Seite war und nicht auf ihrer.
»Wann?«
Rose wand ihre Finger um ihre.
»In sechs Wochen, wenn wir zusagen.«
Genauso gut konnte man auch zum Tode verurteilt werden. Der Henker stand bereit, und nur noch ein letzter Wunsch wurde gewährt. Dicte schickte ihr Gebet gen Himmel. Ein Jahr, bat sie. Nur noch ein Jahr, dann bin ich bereit.
Sie leerte ihre Teetasse und nickte.
»Das wird aufregend«, sagte sie erwachsen. »Sollen wir kurz zu den Nachbarn rübergehen?«
Das Haus in Lystrup rückte eine Zeit lang in den Hintergrund, als sie schellten und Karen Graugaards Gesicht hinter der Tür auftauchte. Das Haar war silbergrau und zu einer Pagenfrisur geschnitten. Das Gesicht braun von den Tagen auf Skiern, die Falten deutlich und die Augen verletzlicher, als Dicte sie in Erinnerung hatte.
»Wir wollten fragen, ob wir mit irgendetwas helfen können«, sagte Dicte.
Karen Graugaard öffnete die Tür ganz und ließ sie eintreten.
»Sie haben doch schon geholfen, und wir sind Ihnen sehr dankbar«, sagte sie und führte sie durch die Verwüstungen in die Küche. »Möchten Sie eine Tasse Tee?«
Sie nahmen die Einladung an und setzten sich auf Hockern um den Küchentisch.
»Sie waren fleißig«, sagte Dicte. »Heute Nacht sah es hier aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.«
Karen Graugaard zuckte mit den Schultern.
»Zumindest hatte ich so etwas zu tun. Etwas, womit ich mich beschäftigen konnte, wenn Sie verstehen.«
Dicte nickte. Timbo kam und schnüffelte freundlich. Sie dachte an sein Erbrechen und dass jemand den Hund am Abend gefüttert haben musste.
»Was ist mit dem Hund?«, sagte Rose, die sich sichtlich unwohl fühlte. »Er muss doch bestimmt ausgeführt werden?«
Karen Graugaards Gesicht hellte sich auf. Die Falten zogen sich zu einem versuchten Lächeln zusammen.
»Das ist der Hund meiner Schwester, und ich hatte nur Zeit, ihn auf die Wiese zu lassen.«
Rose stand auf.
»Ich kann mit ihm und Svendsen zum Moor gehen.«
Sie saßen sich eine Weile schweigend gegenüber, als Rose mit dem Hund gegangen war.
»Kann ich beim Aufräumen helfen?«, fragte Dicte dann. »Das ist so viel. Das muss doch unüberschaubar für Sie sein.«
Karen Graugaard schüttelte den Kopf.
»Für Fremde ist das schwer. Alle Sachen haben ihren festen Platz und so.«
Natürlich hatten sie das. Wie in jedem Haushalt. Man machte sich nicht klar, mit welcher Systematik man sein Leben einrichtete.
»Ihre Schwester kommt vielleicht auch und hilft?«
Sie hätte keine schlechtere Frage stellen können.
Karen Graugaard seufzte und spielte mit der Teetasse. Sie sah Dicte an.
»Meine Schwester ist verschwunden.«
In ihrem Blick erkannte Dicte die Angst der Pferde wieder.
»Sie sollte auf die Tiere aufpassen«, kam es leise. »Sie sollte jetzt hier sein. Das ist nicht ihr Stil, einfach so zu verschwinden.«
Dicte wartete ein paar Sekunden, ob noch etwas kam, aber das war nicht der Fall.
»Haben Sie eine Idee, wo sie sein könnte?«
Karen Graugaard errötete leicht, bevor sie sagte:
»Sie hat Urlaub. Sie ist krankgeschrieben. Das ist eine lange Geschichte. Inger ist Lehrerin.«
»Wo arbeitet sie, wenn sie keinen Urlaub hat?«
Einen Moment schien Karen Graugaard zu überlegen, ob sie überhaupt antworten sollte. Dicte erinnerte sich, wie wütend sie gewesen war, als der Hund die Katze um die Strohballen gejagt hatte. Vielleicht hätte sie nicht so direkt fragen sollen.
»In der Møllevang-Schule.«