Читать книгу Das nächste Opfer: Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 6
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ОглавлениеJohn Wagner blickte über die Versammlung, die sich zur Morgenbesprechung im Dienstbesprechungsraum eingefunden hatte. Die Blicke von sieben Kriminalkommissaren hingen an Jan Hansen, der zurückgekommen war, um über die abgefackelte Schule Bericht zu erstatten.
»So etwas habe ich noch nicht gesehen. Das sieht wie der reinste Rachefeldzug aus.«
Jan Hansen war so grau im Gesicht wie die Wand hinter ihm. Die breiten Schultern, die normalerweise das Hemd zu sprengen drohten, waren seltsam eingesunken. Er seufzte und klopfte mit einem Kugelschreiber auf den Tisch.
»Kamilla fabelt dauernd etwas von einem Teddy«, fuhr er fort. »Dem Maskottchen der Klasse. Es ist bestimmt mit verbrannt.«
Er zeichnete ein paar Kringel auf den Block vor sich. Wagner dachte, dass Hansen vielleicht doch nicht der beste Vortrupp gewesen war, um den Brand in Augenschein zu nehmen. Da seine Tochter in die erste Klasse der Møllevang-Schule ging, war er möglicherweise zu betroffen.
»Er heißt Simon«, fuhr Hansen mit einer Stimme fort, die allzu dünn für seinen muskulösen Körper und den nach der neuesten Mode glatt rasierten Schädel war.
Wie geklont, dachte Wagner flüchtig. Warum mussten alle jungen Ordnungshüter so Furcht einflößend aussehen? Aber standen nicht Tränen in seinen Augen?
»Kann mal jemand den Kaffee herunterschicken?«
Die Frage kam von Ivar K. Er und Hansen standen immer ein wenig auf Kriegsfuß, und darüber hinaus war die öffentliche Demonstration von Gefühlen nicht Ivars starke Seite.
Die Thermoskanne wanderte wie eine Fußballtrophäe an der langen Reihe von Kriminalkommissaren entlang. Wagner verzichtete. Sein Magen vertrug die Spezialausgabe der Teerbrühe des Präsidiums nur mit Mühe. Außerdem hatte er noch den Nachgeschmack des aus brasilianischen Bohnen gebrauten und mit einem Morgenkuss von Ida Marie versüßten Morgenkaffees im Mund.
»Was glaubst du?«, fragte er Hansen, der nach einer Vergangenheit bei der Schutzpolizei endlich und zu Ivar Ks großem Bedauern ein festes Mitglied des Kriminalstabs geworden war. »Was hast du für einen Eindruck? Waren das jugendliche Randalierer? Oder steckt mehr dahinter?«
Hansen legte den Kugelschreiber weg und rieb sich das Gesicht mit beiden Händen. Die Augen spiegelten die Müdigkeit wider. Einjährige Zwillinge, die sechsjährige Kamilla und eine Frau, die als Krankenschwester Nachtdienst machte. Das war nicht leicht.
»Ich glaube, die Täter waren noch jung«, sagte er langsam. »Ich glaube, dass sie den Ort ziemlich gut kannten. Du kannst dir das später natürlich selbst ansehen, aber mitten in dem ganzen Durcheinander wirkt alles sehr systematisch. Jugendliche Randalierer ...«
Er griff wieder nach dem Kugelschreiber, klopfte erneut auf den Tisch und schüttelte still den Kopf.
»Nenn mich ruhig einen Schwarzseher, aber das ist meiner Meinung nach der letzte Schritt, bevor jemand zu einem Gewehr greift und Schüler und Lehrer abknallt.«
Es war sicher gut, dass Hansen nicht für die Pressearbeit zuständig war. Wagner konnte die Überschrift nahezu vor sich sehen: Wann folgt das Massaker? Alle Eltern, die Kinder auf der Schule hatten, waren heute Morgen angerufen worden. Hansen hatte zu Wagner Kontakt aufgenommen, der ihn gebeten hatte, sich vor der Morgenbesprechung einen Eindruck zu verschaffen.
Hansen erzählte von den Verwüstungen. Er hatte sich auf einem Block Notizen gemacht. Ein ganzes Gebäude war nahezu bis auf die Grundmauern abgefackelt worden und das Hauptgebäude dem Vandalismus zum Opfer gefallen. Chemikalien aus dem Physikraum, Medikamente, Wasser und farbige Flüssigkeiten waren über den Boden verstreut; Glasscherben, zertrümmerte sanitäre Artikel, zerbrochene Thermoskannen, eingeschlagene Türen und zerlegte Schränke. Chaos, mit anderen Worten.
Wagner hörte eine Weile zu, ließ aber nach einer gewissen Zeit seinen Gedanken freien Lauf. Er öffnete eine Mineralwasserflasche und spürte beim Trinken die Kohlensäure bis in die Nase. Er fragte sich, wie er selbst reagieren würde, wenn Alexanders Schule abgefackelt worden wäre. Bestimmt genauso verzweifelt wie Hansen, schätzte er. Heutzutage war die Schule eine Art zweites Zuhause. Er hatte immer ein schlechtes Gewissen, dass er nach Ninas Tod nicht so viel mit Alexander zusammen war, wie er eigentlich sollte. Ein Brand in der Schule würde ernsthaft das Gefühl verstärken, dass er Fürsorge und Erziehung allzu sehr den anderen überließ, während er selbst Polizei spielte und Verbrecher jagte, die ohnehin bald wieder auf die Gesellschaft losgelassen würden.
Im Idealfall sollte er der aktive Vater sein, der mit seinem zehnjährigen Sohn zum Fußball und Handball ging, aber in der letzten Zeit war so viel zu tun gewesen. Das EU-Gipfeltreffen in Kopenhagen hatte für viele Überstunden gesorgt, die immer noch nicht abgebaut waren, obwohl sie das rein theoretisch bis zum Jahresende hätten sein sollen. Århus war abwechselnd von Vandalismus und Brandstiftungen heimgesucht worden. Außerdem waren da noch die selbst verschuldeten Probleme der Polizei, die auch Zeit kosteten. Daran wagte er gar nicht zu denken.
Ivar K kippelte rastlos auf seinem Stuhl und fuhr sich mit der Hand durch die langen Haarzotteln und über den zurzeit modernen Dreitagebart. Wagner ahnte, dass ihm eine sarkastische Bemerkung an den referierenden Kollegen auf der Zunge lag, und unterbrach freundlich Jan Hansen, dessen Block jetzt voller Kringel war.
»Gut. Die Situation ist wie folgt. Die Brandexperten unter Johan Dahl leiten die Untersuchungen und kümmern sich um die technischen Aspekte: Brandursache und so weiter. Wir sind als Assistenz zugezogen worden«, leitete er seine üblichen anspornenden Worte ein.
»Die Feuerwehr ist dabei, die Dachkonstruktion in dem niedergebrannten Gebäude zu sichern, sodass wir dort zurzeit keinen Zugang haben. Sobald wir den bekommen, gehen die Techniker natürlich zuerst hinein. Sie bekommen im Laufe des Tages Verstärkung aus Kopenhagen. Im Moment nehmen sie sich das Hauptgebäude vor. Außerdem ist uns Hilfe von der mit Jugendkriminalität befassten Abteilung zugesagt worden«, sagte er mit einem Blick zu Jan Hansen hinüber. »Ich glaube, du hast Recht. Wir sollten nach jungen Tätern suchen, die den Ort kennen. Die Schule hat uns eine Liste der derzeitigen und der früheren Schüler versprochen. Sie muss durchgegangen und mit dem Archiv überprüft werden.«
Jan Hansen nickte. In diesem Fall schien er erleichtert über die Schreibtischarbeit.
»Ich sehe mir das an.«
Wagner trank erneut von seinem Mineralwasser.
»Dahl hat uns gebeten, uns die Verwüstungen in den beiden anderen Schulen, Samsøgade und Elise Smith, noch einmal vorzunehmen, um festzustellen, ob es Ähnlichkeiten gibt. Und was wir sonst noch an unaufgeklärten Vandalismusfällen aus dem letzten halben Jahr haben.«
Petersen nickte. Mit seinen zweiundfünfzig Jahren war er fast ebenso lange im Dienst wie Wagner.
»Ich suche mir die Fälle heraus. Ich kann mich erinnern, dass man auch versucht hat, die anderen Schulen abzufackeln. Ohne Erfolg.«
Ivar K kippelte erneut mit seinem Stuhl.
»Übung macht den Meister.«
Wagner ließ den Blick von einem zum anderen wandern.
»Zeugen. Es muss jemanden geben, der etwas gesehen hat. Auch wenn es mitten in der Nacht passiert ist. Einer von euch muss Klinken putzen.«
Sie sprachen eine Weile über die Aufgaben und wer was erledigen sollte, ohne dass jemand protestierte. Man konnte sich daran gewöhnen zu bestimmen, dachte er verwundert und nicht zum ersten Mal. Er hatte nie davon geträumt, die Leitung zu übernehmen. Aber er hatte das entsprechende Dienstalter und die nötige Erfahrung, und es hatte sich ganz von selbst so ergeben. Sie hörten auf ihn. Sie folgten seinen Vorschlägen und hin und wieder seinen Anordnungen.
Das Einzige, was ihrem Team noch immer fehlte, war eine Ermittlerin. Er hatte das oft zu ändern versucht, aber aus irgendeinem Grund sah die Leitung die Wichtigkeit des Anliegens nicht ein. Sie schienen nicht zu verstehen, dass das Geschlecht bei der Aufklärung von Kriminalfällen eine Rolle spielte, aber er wusste aus Erfahrung, dass Frauen einen anderen und hin und wieder überraschenden Zugang hatten. Eine tüchtige Frau wäre ein großer Gewinn für das Team, aber vorläufig mussten sie so zurechtkommen. Bei den engen Budgets und der geringen Aussicht, dass jemand pensioniert wurde, sah es schwarz aus.
Er seufzte in sein Mineralwasser. Vielleicht konnte man auch zu viel verlangen.
»Ivar. Du fährst mit mir raus. Wir sehen uns die Sache mal an.«
Ivar K warf den Kopf in den Nacken und trank seinen Kaffee aus wie ein Handwerker ein Tuborg. Er stand auf und streckte den windhundartigen Körper, das diametrale Gegenteil zu Jan Hansens Türstehermuskeln.
»Okay, Boss.«
Wagners Handy klingelte auf dem Weg in die Stadt mitten auf der Kreuzung in der Thorvaldsengade, wo die Abgase der Autos wie ein dicker Atem in der frostigen Luft standen.
»Kannst du bitte drangehen?«
Ivar griff nach dem Handy, das auf dem Armaturenbrett lag.
»Kristiansen«, sagte er scharf und lauschte ein paar Sekunden, bevor er antwortete. »Er ist im Moment beschäftigt. Kann ich ihm etwas ausrichten?«
Wieder herrschte Schweigen, bevor seine Stimme leicht irritiert zu klingen begann.
»Ich sagte doch, dass er beschäftigt ist. Sie müssen später noch mal anrufen ... Informationen? Was für Informationen? Es ist strafbar, Informationen vor der Polizei zurückzuhalten, wissen Sie das nicht?«
Wieder vergingen ein paar Sekunden, bevor er das Gespräch abrupt beendete.
»Frauen«, zischte er.
Wagner bog auf den Viborgvej ab.
»Wer war das?«
»Eine Journalistin von einer der Boulevardzeitungen. Dicte Sowieso. Die glauben, wir sind nur für sie da.«
Tausend Gedanken gingen Wagner im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf. Er hatte lange nichts von Dicte Svendsen gehört. Und Ida Marie auch nicht, hatte sie gesagt und die Vermutung geäußert, dass ihre Freundin und ihr Fotografenfreund Probleme hatten. Aber es war auch nicht leicht, Kinder und Job unter einen Hut zu bringen. Er musste da ganz still sein. Auch wenn er Ida Marie über alles liebte, hegte er daran nicht den geringsten Zweifel.
Einen kurzen Moment wanderten seine Gedanken zurück zum Vorjahr. Es war ihm nahezu unverständlich, wie sich seine Gemütslage verändert hatte. Damals hatte er gerade seine Frau verloren und war in ein tiefes schwarzes Loch gefallen. Doch dann war er mit der Aufklärung eines Falls beauftragt worden, in dem ein toter Säugling auf dem Århus-Fluss ausgesetzt worden war. Dicte und ihre beiden Freundinnen, Ida Marie und Anne, hatten das Kind gefunden.
»Dicte Svendsen«, murmelte Ivar K, als könnte er Gedanken lesen. »Der Name kommt mir bekannt vor. Ein Fall vor einem Jahr.«
Wagner antwortete nicht, sondern steuerte um ein verdammtes Moped herum, das die gesamte Fahrbahn für sich beanspruchte. Er hatte Berufliches und Privates in einem Cocktail vermischt, der ihm jetzt unheimlich vorkam. Er hatte sich noch während der Aufklärung des Falls in Ida Marie verliebt. Sie sangen beide im selben Chor, und er hatte heimlich für die schöne Schwedin mit der Engelsstimme und dem langen blonden Haar geschwärmt.
»Hast du damals nicht deine Freundin kennen gelernt? Als ihr Kind gekidnappt wurde?«
Ivar K fragte ohne Umschweife mit dem üblichen Mangel an Fingerspitzengefühl.
Wagner nickte nur, unverpflichtend, und bog in den Fuglebakkevej ab.
»Da wären wir. Sehen wir uns einmal um.«
Während Ivar K sich einen Überblick über die Verwüstungen verschaffte, rief Wagner Dicte auf dem Handy an.
»Es sieht ganz so aus, als würden wir wieder einmal zusammenarbeiten«, sagte sie munter.
Er lachte kurz.
»Nie im Leben! Was willst du?«
»Etwas über die Møllevang-Schule hören.«
»Wir halten später eine Pressekonferenz ab. Du weißt genau, dass ich niemanden bevorzugen kann.«
»Ich hätte was für dich.«
An Dicte Svendsens Gaben waren in der Regel alle möglichen Bedingungen geknüpft.
»Vielen Dank.«
»Es hat noch einen anderen Brand gegeben«, fuhr sie unbeirrt fort. »Heute Nacht. Hast du davon gehört?«
Es gab fast jede Nacht Brände – bestimmt hatte es irgendwer bereits erwähnt. Wagner hatte es an der Peripherie seines Bewusstseins mitbekommen, aber es hatte weit vom Stadtzentrum entfernt gebrannt, irgendwo draußen auf dem Land.
»Und?«
»Das Wohnhaus wurde verwüstet. Ein Stallgebäude niedergebrannt. Zwei Pferde sind tot.«
Was in aller Welt war mit dieser Stadt los?, dachte er, während er die rauchende Ruine betrachtete, die einmal die Møllevang-Schule gewesen war. Das glich Geschehnissen aus einem fremden Land.
»Was weißt du?«, fragte er müde. Man konnte nie wissen, ob eine Verbindung bestand. Auch wenn die Entfernung dagegensprach.
»Es war der Hof meines Nachbarn. Ich bin von dem Geräusch des zerberstenden Daches aufgewacht.«
»Bestimmt Asbest. Das klingt wie Popcorn.«
Plötzlich wechselte sie das Thema.
»Wo bist du?«
»Was glaubst du, wo ich bin? In der Oper, Othello ansehen?«
Ihm war klar, dass er mürrisch klang. »Was weißt du über den Brand?«
Einen Moment war es still im Telefon.
»Der Hof gehört meinen Nachbarn«, sagte sie dann. »Sie sind in Ferien in Norwegen. Sie kommen heute nach Hause, die Armen. Die Schwester hat auch auf dem Hof gewohnt, und um drei Uhr morgens war sie plötzlich spurlos verschwunden.«
Aus dem Augenwinkel beobachtete er Ivar K und einen der Feuerwehrmänner. Zusammen schritten sie den Platz ab und sahen sich das heruntergebrannte Gebäude an, aus dem aberwitzigerweise weiße Fensterrahmen guckten. Es sah aus, als hätte ein tief fliegendes Flugzeug den oberen Teil des Gebäudes abrasiert. Nur das Skelett des Dachs war noch da.
»Vielleicht hat sie in der Stadt übernachtet«, wandte er ein. »So etwas kommt vor.«
»Jemand ist am späten Abend im Haus gewesen, und ich gehe davon aus, dass sie das war.«
»Woher weißt du das? Hast du sie gesehen?«
Wieder entstand eine kleine Pause. Dann sagte die Stimme: »Nein. Aber irgendjemand hat dem Hund Futter gegeben.«